Präimplantationsdiagnostik: Zwi­schen "Mensch" und "Sache" gibt es keinen Kom­pro­miss

Die Politik debattiert über eine begrenzte Freigabe der PID. Dieses Vorhaben berührt die Frage nach dem Schutz von Embryonen und letztlich jene, wann menschliches Leben im rechtlichen und ethischen Sinne beginnt. Prof. Dr. Gunnar Duttge über die Gebote der humanitären Vernunft und die Suche nach einem Kompromiss, die nur mit einem willkürlichen Resultat enden kann.

Im Juli sprach der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) einen Arzt nach dessen Selbstanzeige vom Vorwurf frei, gegen das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verstoßen zu haben, der bei drei Paaren mit einer Veranlagung zu schweren Erbkrankheiten die sogenannte Präimplantationsdiagnostik (PID) durchgeführt hatte (Urt. v.  06.07. 2010, Az. 5 StR 386/09). Das Urteil hat erwartungsgemäß eine breite rechts- und gesellschaftspolitische Debatte losgetreten, die schon seit langem überfällig war.

Der seit Inkrafttreten des Embryonenschutzgesetzes (ESchG) im Jahre 1991 vorherrschende common sense wurde jäh aus seinem wohlig gehegten Irrglauben gerissen, dass ein Gentest vor Implantation des künstlich erzeugten Embryos ausnahmslos verboten sei. Wer bisher hiergegen – sei es als "Liberaler" oder als Reproduktionsmediziner – opponierte, wähnt sich plötzlich seinem Ziel nahe: Eine parlamentarische Mehrheit benötigen jetzt nicht mehr diejenigen, die dem Wunsch genetisch vorbelasteter Paare nach einem gesunden Kind zum Erfolg verhelfen wollen, sondern jene, die das mit Rücksicht auf Lebensrecht und Non-Diskriminierung der "ausgesonderten" Embryonen kategorisch ablehnen.

Ge- und Verbote macht der Gesetzgeber – nicht der BGH

Dementsprechend haben die Bundesrichter je nach Wertvorstellung großes Lob von den einen, massive Schelte von den anderen erfahren. Beides ist in dieser Pauschalität nicht berechtigt. Zwar gilt die Grundsatzentscheidung mit ihrer Beschränkung auf schwerwiegende genetische Schäden als "weiser" Kompromiss. Dabei wird jedoch geflissentlich übergangen, dass der vom Senat hierfür als Beleg herangezogene § 3 S. 2 ESchG sich gerade nicht auf Embryonen bezieht, sondern allein die Spermienselektion vor künstlicher Befruchtung betrifft.

Insoweit hat der 5. Strafsenat also nicht das Gesetz ausgelegt, sondern eigenmächtig Rechtspolitik betrieben. Wer aber das Urteil als "Türöffner für eine vorgeburtliche Selektion" brandmarkt, verkennt, dass sich die Aufgabe der Rechtsprechung in der Auslegung des Gesetzes erschöpft, die überdies im strafrechtlichen Kontext nur restriktiv stattfinden darf. All jene, die ein Verbot der PID vermissen, sollten ihre Kritik daher besser an den Gesetzgeber adressieren, der sich seinerzeit und bis heute einer Entscheidung bewusst enthalten hat.

Die Politik streitet über Ethik

Nun aber diskutieren die Politiker über alle Parteigrenzen hinweg, noch bis Ende des Jahres sollen Neuregelungen beschlossen werden. Innerhalb der Parteien scheinen die Ansichten über Für und Wider der PID dabei ebenso auseinander zu gehen wie in der Bevölkerung.

Im anderen Lager plädieren die FDP wie auch Teile der Evangelischen Kirche in Deutschland für eine begrenzte Freigabe. Befürworter und Gegner des Verbots scheinen einander dabei unversöhnlich gegenüber zu stehen. Für eine unbegrenzte Öffnung, immerhin die dritte denkmögliche Option, wirbt aber jedenfalls hörbar niemand.

Leiden an der Kinderlosigkeit vs. Lebensrecht und Menschenwürde

Gegen ein Verbot werden insbesondere das "Leiden" an der Kinderlosigkeit (Homburger; Leutheusser-Schnarrenberger; Lotter: "Menschenrecht auf Fortpflanzung"), ein "Implantationszwang" trotz eventueller "Sinnlosigkeit" der Schwangerschaft (Hintze) und ein Wertungswiderspruch zu den §§ 218 ff. StGB (Bundesfamilienministerin Schröder) geltend gemacht.

Für ein striktes Verbot streiten Lebensrecht und Menschenwürde (auch) geschädigter Embryonen (nicht "lebensunwert"; keine "Instrumentalisierung" für fremde Zwecke), weiterhin die gesamtgesellschaftliche "Solidarität" mit behindertem Leben, die Abscheu vor jedweder "Selektion" (Klöckner; Schavan) und ganz pragmatisch schließlich auch die Schwierigkeiten einer hinreichenden Eingrenzung und Differenzierung zwischen "schwerwiegenden" und "sonstigen" genetischen Defekten (Merkel sowie die frühere Bundesgesundheitsministerin Fischer).

Indikationenkatalog: Unkalkulierbar, ungerecht, unzumutbar

In der Tat erscheint die Vorstellung einigermaßen naiv, es ließe sich auf Dauer eine enge Begrenzung des Anwendungsbereichs erreichen, indem man einen abschließenden Indikationenkatalog festschreibt. Die Erfahrungen im Bereich des Abtreibungsrechts sollten vor solchem Kinderglauben eigentlich bewahren.

Kann einem Reproduktionsmediziner wirklich – eventuell unter Strafandrohung – zugemutet werden, die PID als ein dem Grunde nach erlaubtes Mittel in der Konfrontation mit dem Paar zu verweigern und deren Kinderwunsch zurückzuweisen, "nur" weil das genetische Risiko nicht den allerschwersten Schädigungsgrad zum Gegenstand hat? Das gilt um so mehr, als einer abstrakt-generellen Festlegung stets das Risiko innewohnt, die Besonderheiten des Einzelfalls zu verfehlen und dadurch "ungerechte" Ergebnisse zu präjudizieren.

Keine Einzelfallentscheidung ohne übergeordneten Maßstab

Es ist bezeichnend, dass die Bundesärztekammer (BÄK) durch ihren Vizepräsidenten Montgomery bereits das Ansinnen abgelehnt hat, die zum Gebrauch der PID berechtigenden Indikationen zu benennen.

Schon bei der Präsentation seines "Diskussionsentwurfs" im Jahre 2000 hatte der Wissenschaftliche Beirat der BÄK betont, dass „von einem schematisierten Indikationenkatalog (…) zugunsten einer verantwortungsbewussten Einzelfallbegutachtung" Abstand zu nehmen sei. Solange es aber an einem übergeordneten Beurteilungsmaßstab für die zu treffende "Abwägung" fehlt, ist die von der BÄK in Aussicht gestellte "äußerst enge Indikationsstellung" gerade nicht garantiert.

Eine solche versteht sich auch keineswegs von selbst. Ihr steht der Wunsch nach einem gesunden Kind gegenüber, also einem Kind, das wunschgemäß nicht etwa nur weniger gravierend geschädigt, sondern gesund ist. Und nur der Blick auf gegenläufige Rechte beziehungsweise Werte legt überhaupt eine Begrenzung wie etwa eine enge Indikationsstellung nahe.

Der Dreh- und Angelpunkt: Ist der Embryo ein Rechtssubjekt?

Wenn aber schon dem frühen, in vitro gezeugten Embryonen der Status eines Rechtssubjekts und nicht einer bloßen Sache zuerkannt werden soll, ist die Anwendung der PID verfassungswidrig. Zuletzt im Kontext des Luftsicherheitsgesetzes hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass unsere Rechtsordnung selbst in Ausnahmefällen keine (mit Sicherheit eintretende) Tötung von Mitgliedern der Rechtsgemeinschaft zugunsten von Interessen anderer akzeptiert.

Der Vergleich mit den §§ 218 ff. StGB geht aus zwei Gründen ins Leere: Zum einen handelt es sich bei den Vorschriften zum Schwangerschaftsabbruch um den (keineswegs gelungenen) Versuch, einen bereits bestehenden Interessenkonflikt im Wege eines Kompromisses aufzulösen.

Zum anderen kann nach den §§ 218 ff StGB allein die Unzumutbarkeit für die Schwangere einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen. Art und Ausmaß der kindlichen Schädigung sind hingegen kein rechtfertigender Grund.

Keine Kompromisse bei der Frage nach Mensch oder Sache

Sähe man in der kindlichen Schädigung (als solche) die Legitimation zum erlaubten Töten, würde dies bei Anerkennung eines eigenständigen Lebensrechts jedes einzelnen Embryos gegen das Diskriminierungsverbot und die Menschenwürdegarantie verstoßen.

Deshalb ist auch im Kontext der PID jeder "Kompromisslösung" ein fundamentaler Selbstwiderspruch immanent: Verneint man die Subjektqualität von Embryonen (anders als nach geltendem Recht), sind Begrenzungen illegitim – warum sollten sich Paare nicht beliebig für das Objekt ihrer Wahl entscheiden dürfen? Betrachtet man hingegen bereits Embryonen als Rechtssubjekte, dann ist die Freigabe der PID kaum mehr zu rechtfertigen.

Eine einzige Konstellation ließe sich jedoch von dem Verbot gleichwohl ausnehmen: Soweit mit Blick auf den festgestellten Gendefekt und die vorhandenen Therapiemöglichkeiten eine (physische) Überlebensfähigkeit bis beziehungsweise unmittelbar nach der Geburt unabhängig vom jeweiligen Einzelfall sicher ausgeschlossen werden kann, fehlt es nach den Grundsätzen zur so genannten "Früheuthanasie" unbestreitbar an einer Lebenserhaltungspflicht.

Die Sinnhaftigkeit der weiteren Debatte hängt somit davon ab, wann sie sich endlich der Frage zuwendet, ob sich solche Defektzustände abstrakt-generell festlegen und die Beachtung der damit gezogenen Grenzen in der Praxis hinreichend kontrollieren lassen.

Der Autor Prof. Dr. Gunnar Duttge ist stellvertretender geschäftsführender Direktor des Zentrums für Medizinrecht der Georg-August-Universität Göttingen und Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen u.a.  zu medizinrechtlichen Themen.

Zitiervorschlag

Gunnar Duttge, Präimplantationsdiagnostik: . In: Legal Tribune Online, 27.10.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1803 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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