Scheuers Millionen-Desaster kaum vermeidbar?: Auf dem Schlacht­feld der Maut­ver­träge

von Dr. Felix W. Zimmermann

30.09.2019

Nach der EuGH-Absage an die PkW-Maut ist Bundesverkehrsminister Scheuer in eine juristische Auseinandersetzung geflüchtet. Wie stehen die Chancen auf dem Schlachtfeld der Mautverträge und hat Scheuer die Unwahrheit gesagt?

Es war ihr Mantra. In zahlreichen Statements wiederholte Verkehrsminister Andreas Scheuer, wie schon sein Vorgänger Alexander Dobrindt: "Die Maut kommt." Doch während Dobrindt zum Start des CSU-Prestigeprojekts vor einem EuGH-Urteil 2015 äußerte: "Wir verhalten uns rechtsstaatlich und werden eine Gerichtsentscheidung abwarten", fegte sein Nachfolger Scheuer sämtliche rechtliche Bedenken beiseite.

Es konnte offenbar alles nicht schnell genug gehen. Laut Spiegel soll Scheuer sogar ein Angebot des Mautbetreibers mit dem Vertragsschluss bis zum EuGH-Urteil über die Pkw-Maut zu warten, ausgeschlagen haben; aus wahlkampftaktischen Gründen und weil ansonsten Gelder neu beim Bundeshaushalt hätten beantragt werden müssen – mit ungewissem Ausgang. Der Verkehrsminister begründete vor dem Verkehrsausschuss am 24. Juli 2019 seine Entscheidung mit der Einschätzung von Experten, die das Risiko eines Urteils contra Maut als gering, mit nur 15 Prozent, einstuften. Wie genau diese Risikobewertung entstand, ist offen, auch welche Experten befragt wurden.

Die Experten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages haben wohl keine Rolle gespielt. Sie hatten nämlich in einem Gutachten die Maut als europarechtswidrig eingestuft. Anstatt die Bedenken ernst zu nehmen, unterstellte Scheuer dem Dienst "fachliche Ignoranz". Warum dieser Hochmut? Glaubte Scheuer tatsächlich, die Einschätzung sei abwegig oder war der Gedanke: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" ausschlaggebend?

Eine großzügige Entschädigungsklausel als Köder?

Doch selbst wenn Gründe, wie etwa die geplanten Maut-Einnahmen, für einen Vertragsabschluss vor dem EuGH-Urteil sprächen, hätte dann nicht zumindest in den Vertragsverhandlungen auf eine möglichst geringe Entschädigungszahlung für den Fall eines EuGH-Urteils contra Maut hingewirkt werden müssen? Es geschah das Gegenteil: Laut Mautvertrag unter dem Titel "Erhebung" muss bei einer Kündigung aus ordnungspolitischen Gründen (siehe Ziffer 26.3.4 v)), worunter das EuGH-Urteil fallen dürfte, dem Mautbetreiber, die autoTicket GmbH, der Bruttounternehmenswert erstattet werden (Ziffer 30.5.4). Dies ist im Ergebnis der entgangene Gewinn bis zum Ende der Vertragslaufzeit im Jahre 2032 – abzüglich etwa ersparter Aufwendungen.

Der Mautbetreiber wird ungefähr so gestellt, als hätte er seine Leistung erbracht, ohne sie erbringen zu müssen. Eine Schadensersatzforderung von etwa 700 Millionen Euro wird befürchtet. Laut Gutachten der Grünen und der FDP sind derartig weitgehende Entschädigungsklauseln unüblich. Dem widersprach Scheuer im Verkehrsausschuss des Bundestages am 24. Juli 2019: Vergleichbare Regelungen würden sowohl in Deutschland als auch in Europa in Projekten vereinbart.

LTO hat das Ministerium um Nennung eines solchen Projektes gebeten. Das Ministerium kam dem in seiner Antwort nicht nach. Es verweist aber darauf, dass dem Mautbetreiber das Risiko des EuGH-Urteils nicht angelastet werden könne, da andernfalls das Projekt für ihn nicht kalkulier- und auch nicht finanzierbar sei. Für die Sicht des Ministeriums spricht auf den ersten Blick das gesetzliche Leitbild des § 648 S. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Danach gilt im Werkvertragsrecht, dass bei einer Kündigung des Bestellers, der Unternehmer berechtigt ist, die vereinbarte Vergütung unter Abzug ersparter Aufwendungen zu verlangen. Allerdings handelt sich es sich hierbei um die anlasslose Kündigung. Bei einer Kündigung aus wichtigem Grund regelt § 648a V BGB, dass der Unternehmer nur die Vergütung verlangen kann, die auf die bisher erbrachten Werkteile entfällt. Ob hier Grundsätze ordnungsgemäßen wirtschaftlichen Handelns verletzt wurden, prüft aktuell der Bundesrechnungshof.

Fakt ist jedenfalls, dass der Bund hier – etwa im Gegensatz zum Kündigungsgrund "Höhere Gewalt" (ANLAGE 28.4., Teil B 6.) – das volle Risiko eines EuGH-Urteils contra Maut übernahm. Hat der Mautbetreiber einfach gut verhandelt? Offenbar nein. Mehrere Quellen bestätigen gegenüber LTO, dass das Ministerium von sich aus, nicht nur der autoTicket GmbH, sondern allen Bietern im Mautverfahren die Entschädigungsklausel im Vertragsentwurf übermittelte. Dies widerspricht der Darstellung von Andreas Scheuer, wonach erst die Verhandlungen gezeigt hätten, dass solche Klauseln erforderlich seien. In Wirklichkeit musste kein Bieter die Klausel in den Vertrag hineinverhandeln – sie stand von Anfang an drin.

Die Klausel als Köder für Vertragsangebote? So sieht es der FDP-Verkehrspolitiker Oliver Luksic gegenüber LTO: "Sonst hätte niemand das heiße Eisen Pkw-Maut angefasst: das ist der politische Preis für das CSU-Prestigeprojekt. Bundesverkehrsminister Scheuer hat händeringend nach einem Betreiber für seine Ausländermaut gesucht und schließlich einen miserablen Vertrag für den Bund abgeschlossen."

Weitere Kündigungsgründe als juristische Rettung?

Laut dem Mautvertrag "Erhebung" muss jedoch die hohe Entschädigung nur dann gezahlt werden, wenn keine weiteren Kündigungsgründe vorliegen, die in den Risikobereich der Mautunternehmen fallen. Etwa bei der Kündigung aufgrund von Schlechtleistung oder sonstigen Kündigungsgründen erhält der Mautbetreiber nach Ziffer 30.5.4 keinerlei Schadensersatz. Hier versucht das Bundesverkehrsministerium zur Schadensreduktion anzusetzen und kündigte die Verträge aus zwei weiteren Gründen. Scheuer könnte damit dem Staat Millionen und zudem sein Amt retten. Doch wie tragfähig sind die Kündigungsgründe?

Dass Scheuer selbst vermeintliche Vertragsverstöße für nicht besonders gravierend hält, ist bekannt. Im Verkehrsausschuss am 24. Juli 2019 sagte er: "Werfe man die Frage auf, ob [der Mautvertrag] durch den Bund auch gekündigt worden wäre, wenn das Urteil anders ausgefallen wäre, lautet die Antwort: Nein." Damit gibt er zu, die Kündigungsgründe nur in Spiel gebracht zu haben, um millionenschweren Zahlungen zu entgehen. Der in einigen Medien erhobene Vorwurf, er räume damit ein, dass kein weiterer Kündigungsgrund bestehe, trifft aber nicht zu. Das Vorhandensein eines Rechts (hier Kündigung) ist von der Frage zu trennen, ob man es ausübt. Nach bisherigen Erkenntnissen stehen die Erfolgsaussichten für wirksame weitere Kündigungen jedoch schlecht:

Die Feinplandokumentation                                           

Im Mautvertrag ist in Ziffer 26.3.4. a) geregelt, dass der Bund bei nicht fristgerechter Vorlage einer Feinplandokumentation, also der detaillierten Planung der einzelnen Schritte bis zur Mauteinführung, mit der Folge kündigen darf, dass der Betreiber keinerlei Schadensersatz erhält. Das Ministerium behauptet, autoTicket hätte auch nach zweimaliger Nachfristsetzung keine detaillierte Planung vorgelegt. Völlig aus der Luft gegriffen ist das nicht. Schon vor der EuGH-Entscheidung herrschte Streit zwischen dem für das Ministerium verhandelnden Kraftfahrtbundesamt (KBA) und autoTicket über die Feinplanung.

Wegen Zweifeln an der Vollständigkeit wurde eine Beratungsfirma mit einem Gutachten beauftragt. Das LTO vorliegende Gutachten zeigt indes, dass kein einziges Planungsfeld mit der Bewertung "rot" für mangelhaft gekennzeichnet wurde. Auch in einer internen Präsentation des Verkehrsministeriums heißt es, dass der Mautbetrieb zum 1. Oktober 2020 "derzeit nicht gefährdet" sei. "Der Verkehrspolitiker der Linksfraktion Paul Cezanne kritisiert gegenüber LTO: Die Nichteinhaltung des Meilensteins Feinplanungsdokumentation hat nach unserer Kenntnis das Gesamtprojekt nicht gefährdet. Vor diesem Hintergrund erscheint die Kündigung wegen Schlechtleistungen vorgeschoben um Schadenersatzrisiken vom Bund abzuwenden."

Die Frage, ob autoTicket mangelhaft lieferte, kann aber wohl dahinstehen. Nach bisherigen Erkenntnissen scheitert eine wirksame Kündigung schon an formellen Mängeln. So ist nach Ziffer 26.3.4 des Mautvertrages vor einer Kündigung eine Frist zur Heilung des Mangels von acht Wochen zu setzen und zwar durch eine "Mitteilung". Zur "Mitteilung" schreibt Ziffer 14 des Vertrages vor, dass diese schriftlich abzufassen ist und per Post an den Mautbetreiber gesendet werden muss. Eine solche schriftliche Abmahnung hat es aber wohl nicht gegeben, in LTO vorliegenden Dokumenten werden Fristen nur per Mail gesetzt.

Auf die Frage von LTO, ob die formellen Voraussetzungen, insbesondere die Schriftform erfüllt wurden, antwortet das Ministerium nur, dass der Betreiber mehrfach unter Fristsetzung aufgefordert wurde, die Mängel zu beseitigen. Auf das Erfordernis der Schriftform geht es nicht ein. Auch eine Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion der Linkspartei legt nahe, dass es zu keiner schriftlichen Abmahnung gekommen ist. Selbst wenn man auch die Email-Fristsetzungen für erheblich halten sollte, war diese noch am Laufen, als das KBA in einem LTO vorliegenden Schreiben dem Betreiber am 21. Juni 2019 weitere Leistungen untersagte.

Treuwidriges Verhalten?

Der Betreiber autoTicket hat nach der Kündigung aus ordnungspolitischen Gründen noch Verträge mit Subunternehmen in Höhe von ca. 639 Millionen Euro geschlossen und zwar allesamt mit verbundenen Unternehmen. Offenbar sollten Erstattungsansprüche gegen den Bund damit abgesichert werden. Das Ministerium sieht hierein ein treuwidriges Verhalten und sprach eine weitere Kündigung aus. Für die Vertragswidrigkeit des Vorgehens von autoTicket spricht eine Email des KBA vom 2. Mai 2019, die LTO vorliegt. Dort wird nur "die interimsweise Beauftragung aller übrigen Unterauftragnehmer" gestattet – die Zustimmung also nur vorübergehend erteilt. Auch ist im Mautvertrag in Ziffer 14.3.1 ausdrücklich geregelt, dass der Bund zunächst den Entwurf des Unterauftragnehmervertrages erhalten und diesem zustimmen muss.

Andererseits schrieb das KBA dem Mautbetreiber erst nach Abschluss der weiteren Verträge nämlich am 21. Juni 2019: "Neue Verträge mit UAN darf der Betreiber nicht mehr schließen". Die Formulierung legt nahe, dass bis zu diesem Zeitpunkt noch Verträge geschlossen werden durften. Die autoTicket nimmt zum Vorwurf gegenüber LTO wie folgt Stellung: "Wir haben zu jedem Zeitpunkt vertragskonform agiert und uns stets an die mit dem Auftraggeber getroffenen Absprachen gehalten." Letztlich kann hier nicht beurteilt werden, ob sich hier der Mautbetreiber vertragswidrig verhalten hat oder nur bestehende Verträge nachdokumentiert wurden.

Selbst wenn aber autoTicket nicht zum Abschluss der Verträge berechtigt gewesen wäre, ist sehr fraglich, ob hierin eine Schädigung des Bundes liegen kann. Naheliegend würde für den Bund in diesem Fall nämlich gar kein Schaden eintreten. So sieht es selbst autoTicket gegenüber LTO: "Für den Bund haben diese Verträge auch nur dann wirtschaftliche Folgen, wenn sie im Einklang mit den Vorgaben des Betreibervertrags stehen und zustande gekommen sind." Ohne Schaden kann keine treuwidrige Schädigung angenommen werden, ist die Beauftragung hingegen rechtens, kann sich der Bund auch nicht auf eine Vertragsverletzung berufen.

Aussichten auf erfolgreiche Kündigung: schlecht

Nach den bisherigen Erkenntnissen sind die Erfolgsaussichten des Ministers, sich auf andere Kündigungsgründe zu berufen und somit hohe Entschädigungszahlungen zu vermeiden, als schlecht einzustufen. Durch Geltendmachung der weiteren Kündigungsgründe wird aber wohl ein Schiedsgerichtsverfahren unausweichlich. Dieses kann Jahre dauern, in denen der Minister auf den offenen Ausgang des Verfahrens verweisen kann und sich so auch weiter im Amt halten könnte.

Die Opposition von FDP, LINKE und Grünen im Bundestag sehen in den Kündigungsgründen ein Ausweichmanöver des Ministers. Oliver Krischer von der Bundestagfraktion der Grünen zu LTO: "Ich gehe davon aus, dass am Ende die Firmen weitgehend ihre Schadensersatzansprüche durchsetzen werden und der Verkehrsminister weitere 50 Millionen Steuerzahler-Euro an Anwaltskosten im Schiedsgerichtsverfahren durchbringt."

Und der Druck auf den Minister steigt. Am Dienstag wurde er ins Parlament zitiert und sollte Auskunft darüber geben, ob es tatsächlich das Angebot der Mautbetreiber gab, auf das EuGH-Urteil zur Pkw-Maut zu warten. Scheuer bestritt ein solches Angebot. Es steht der Verdacht im Raum, dass er das Parlament belogen hat. Weitere Aufklärung wird ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bringen, der sich aller Voraussicht nach in den nächsten Wochen konstituieren wird.

Zitiervorschlag

Scheuers Millionen-Desaster kaum vermeidbar?: . In: Legal Tribune Online, 30.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37925 (abgerufen am: 23.11.2024 )

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