Nach einem aktuellen bundesweiten Bericht werden in Pflegeheimen viele Menschen gegen oder ohne ihre Willen etwa an Rollstühlen festgebunden oder im Bett fixiert. Manchmal geschieht das ohne gesetzliche Grundlage. Die Freiheitsrechte der Heimbewohner einer- und die Verpflichtung der Pfleger anderseits, deren Gesundheit zu schützen, sind nur schwer in Einklang zu bringen, meint Franz Dillmann.
Stationäre Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste werden regelmäßig geprüft. Die Heimaufsicht und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) sind die gesetzlichen Wächter über die Qualität der Pflege. In seinem jüngst erschienen dritten Pflege-Qualitätsbericht, der den Zeitraum Juli 2009 bis Ende 2010 erfasst, hat der MDK auch so genannte freiheitseinschränkende Maßnahmen unter die Lupe genommen.
Jeder Fünfte der zufällig untersuchten ca. 62.000 Bewohner von Pflegeheimen war von solchen freiheitseinschränkenden Maßnahmen betroffen. Die meisten hatten in diese eingewilligt oder ein Richter hatte sie genehmigt. In ca. 11,2 Prozent der Fälle aber fehlte eine rechtliche Grundlage. Bei weiteren 20 Prozent der Betroffenen war nicht regelmäßig geprüft worden, ob die Einschränkung noch erforderlich war.
Die Ergebnisse schlugen zu Recht mediale Wellen. Es geht um weit mehr als nur die Qualität der Pflege. Sind unsere Pflegeheime teilweise rechtsfreie Räume?
Die Freiheit der Person ist unverletztlich
Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz (GG) ist die Freiheit der Person "unverletzlich". Jeder Mensch hatdas Recht, einen zulässigen Ort seiner Wahl zu betreten, dort zu verbleiben und diesen zu verlassen, ohne durch die Staatsgewalt hieran gehindert zu werden (körperliche Bewegungsfreiheit).
Dieses Grundrecht wird in einem grundrechtlichen Tandem mit dem so genannten Justizgrundrecht des Art. 104 GG (Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung) noch verstärkt: Eingriffe sind nur durch Parlamentsgesetz erlaubt, Freiheitsentziehungen müssen durch einen Richter angeordnet werden und festgehaltene Personen dürfen weder seelisch noch körperlich misshandelt werden.
Maßnahmen, welche diese Freiheit der Person berühren, sind in Pflegeeinrichtungen vor allem der Einsatz von Bettgittern oder -gurten, sogenannter Therapeutischer oder Gurte am Rollstuhl und das Abschließen von Zimmern oder Stationen. Medikamente fallen nur darunter, wenn sie medizinisch ganz überwiegend der Sedierung dienen.
Ist der Pflegebedürftige in der Lage, seinen Willen eigenständig zu bilden und zu äußern, ist die Maßnahme nicht rechtens, wenn sie ohne oder gegen seinen Willen erfolgt. Jede Fixierung gegen ohne Einverständnis ist damit auch eine strafbare Freiheitsberaubung, § 239 Strafgesetzbuch (StGB). Der Einwilligende muss um die Bedeutung des Freiheitsrechts wissen und abschätzen können, welche Folgen und Auswirkungen seine Zustimmung haben kann. Er muss dabei fähig sein, Alternativen mit einzubeziehen und sein Handeln danach auszurichten.
Rechtliche Grauzonen
Steht ein Volljähriger unter rechtlicher Betreuung (§ 1896 Bürgerliches Gesetzbuch, BGB), ist seine zwangsweise Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung wie auch in einer psychiatrischen Klinik oder einer Behinderteneinrichtung außerdem nur zu seinem Wohl und unter weiteren engen Voraussetzungen erlaubt. Wie auch unterbringungsähnliche Maßnahmen nach § 1906 BGB bedarf sie der richterlichen Genehmigung.
Eine solche unterbringungsähnliche Maßnahme, dieso genannte fürsorgliche Unterbringung, liegt nach § 1906 Abs. 4 BGB vor, wenn dem Betreuten durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente oder auf andere Weise über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig die Freiheit entzogen werden soll.
Diese Vorschrift beschreibt die Grauzone, in der sich viele freiheitseinschränkende Maßnahmen bewegen. Wann ist demnach eine richterliche Anordnung bei einem rechtlich betreuten Pflegebedürftigen einzuholen? Was ist ein "längerer Zeitraum", wann wird eine Maßnahme regelmäßig durchgeführt? Auch die Rechtsprechung zu diesen Fragen ist kaum einheitlich.
Bei der Dauer wird es wohl auf den Grad der Einschränkung und die damit verbundene Gefährdung ankommen (etwa eine Strangulierung oder ähnliches). Regelmäßig im Sinne der Vorschrift dürfte ohne weiteres auch demjenigen seine Freiheit entzogen werden, der täglich im Rollstuhl am Mittagstisch festgebunden oder festgestellt wird.
Freiheitseinschränkung als letztes Mittel
Bei allen freiheitseinschränkenden Maßnahmen ist stets der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet das, dass die Maßnahme tauglich sein muss, um einen legitimen Zweck zu erfüllen, es kein anderes geeignetes milderes Mittel geben darf, welches die Freiheit des Betroffenen weniger stark einschränkt und die Handlung schließlich angemessen sein muss.
Bei der hierbei nötigen Abwägung ist das mit der Maßnahme verfolgte Ziel, das auch im Interesse des Betroffenen liegen kann gegen die Schwere des Grundrechtseingriffabzuwägen. Die Freiheit der Person ist ein so hohes Gut, dass ein Eingriff generell nur durch besonders gewichtige Gründe gerechtfertigt werden kann (BVerfG, Beschl. v. 09.03.1994, Az. 2 BvL 43/92).
Im Grundsatz gilt ferner: Je schwerer der Eingriff wiegt, umso dringlicher muss die Verfolgung des Ziels sein. Das bedeutet vor allem, dass die mit dem Freiheitseingriff verfolgten Gründe umso gewichtiger sein müssen, je länger der Eingriff dauern soll (BVerfG, Beschl. v. 08.11.2006, Az. 2 BvR 578/02 und 2 BvR 796/02).
Grundlegende Reformen nötig: Zuwendung statt Fixierung
Es ist wenig verwunderlich, dass die Pflegekräfte in der alltäglichen Praxis sich mit solchen komplexen und schwierigen Abwägungen bei freiheitseinschränkenden Maßnahmen schwer tun. Sie müssen täglich den Spagat machen zwischen Freiheitsberaubungen und einem Haftungsrisiko, das sie als Aufsichtspflichtige trifft. Die Sturzgefahr von alten, besonders auch demenzkranken Menschen ist hoch.
Zu Recht wird daher nach anderen Wegen gesucht. Im so genannten Werdenfelser Weg werden juristisch geschulte Pflegefachkräfte zu Verfahrenspflegern ausgebildet werden und Pflegeverantwortliche, Bewohner und Angehörige beraten.
Pflegeheime benötigen außerdem genügend Personal und geschulte Fachkräfte, um alle Alternativen zu kennen und auch nutzen zu können, um freiheitseinschränkende Zwangsmaßnahmen möglichst zu vermeiden. Kein Pfleger fixiert gerne.
Die im aktuellen Pflegereformgesetz vorgesehenen erhöhten Zuschläge für Pflegebedürftige mit eingeschränkter Alltagskompetenz wievor allem demenziell Erkrankte sind wieder nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Um Überforderungen des Pflegepersonals langfristig zu beseitigen, bedarf es einer grundlegenderen Reform. Es braucht einen neuen Begriff der Pflegebedürftigkeit, der Zeit und Raum lässt für menschliche Zuwendung und soziale Betreuung als Alternativen zum Zwang. Die Wahrung der Freiheitsrechte und der Menschenwürde gibt es eben nicht umsonst.
Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers. Er publiziert regelmäßig zu sozialrechtlichen Themen.
Heimbetreuung: . In: Legal Tribune Online, 03.05.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/6121 (abgerufen am: 25.11.2024 )
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