Nach einem Jahr Probefahrt muss das Vehikel Pflege-TÜV selbst um seine rechtliche Zulassung bangen. Das neue Verfahren steht auf dem Prüfstand, welches die Leistungen der Pflegeeinrichtungen transparent und öffentlich machen soll. Das Sozialgericht Münster hat wegen erheblicher Mängel die Weiterfahrt verweigert. Das Bundessozialgericht ist nun letzte Prüfinstanz.
Wer unterzieht sich schon gerne unverhüllt wertenden Blicken? Makel werden sichtbar und Schwächen erkannt. Der Augenschein trügt oft. Das Innere bleibt verborgen; der wahre Wert wird nicht gemessen. Wie die Menschen wehren sich auch die Pflegeheimträger gegen oberflächliche Betrachtungen.
Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz vom 28.5.2008 reagierte der Gesetzgeber auf die bekannt gewordenen, teils skandalösen Zustände in deutschen Pflegeheim. Einzelfälle würdeloser Pflege und systematischer Vernachlässigung sowie teils verheerende Missstände in den Einrichtungen beherrschten die Medien.
Die Legislative ergänzte § 115 Sozialgesetzbuch XI (SGB XI), die bisherige Regelung zu Qualitätsprüfungen, um einen weiteren langen Absatz. Prüfungsergebnisse über Leistungen und Qualität ambulanter und stationärer Pflegeinrichtungen sollten nicht mehr nur still in den Akten der Experten und Kostenträger vermerkt oder nur in den Heimen selbst ausgehängt, sondern sicht- und vergleichbar für alle werden. Die auf der Grundlage der Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) sowie gleichwertiger Prüfungsergebnisse gewonnenen Bewertungen seien übersichtlich im Internet und in ähnlichem Forum zugänglich zu machen.
Transparenzvereinbarung: Dem Gesetz Beine machen
Um die Sache zum Laufen zu bringen, überließ es der Gesetzgeber generös den Pflegekassen, den Verbänden der Pflegeinrichtungen und den Sozialhilfeträgern sowie kommunalen Spitzenverbänden das Bewertungssystem und die Veröffentlichung auszugestalten. Beteiligt wurden pflichtgemäß MDK und Verbraucherschutzorganisationen. Ergebnis war die Pflege-Transparenzvereinbarung vom 17.2.2008 (PTV). Wegen der turnusmäßig ab 2011 jährlichen vorgesehenen unangemeldeten Prüfung war ein verbales Siegel für das neue Verfahren schnell gefunden: Der Pflege-TÜV.
Die gewählte Bewertungssystematik lehnt sich traditionell an die Schulnoten von sehr gut bis mangelhaft an. Die Gesamtnote setzt sich aus 64 Beurteilungskriterien aus vier Feldern zusammen. Die Qualität wird zu mehr als der Hälfte daran gemessen, wie gepflegt und medizinisch betreut wird. Wichtig ist darüber hinaus, wie mit demenzkranken Bewohnern umgegangen, eine soziale Betreuung gewährleistet und der Alltag gestaltet wird. Ins Gewicht fallen auch die Qualität von Wohnen, Verpflegung, Hauswirtschaft und Hygiene. Bewohner werden befragt. Die Erkenntnisse daraus werden nicht benotet, aber veröffentlicht.
Skalenwerte von 0 bis 10 (schlechteste bis beste Bewertung) werden nach einem komplizierten Schlüssel in eine Gesamtnote umgerechnet. Die relevanten Ergebnisse aus den Prüfungen werden anschließend in Transparenzberichten zusammengefasst, im Heim bekannt gemacht und im Internet unter www.pflegenoten.de veröffentlicht.
Seit dem Startschuss am 1.12.2009 sind die Noten von ca. 8.500 von bundesweit 12.000 ambulanten und 10.000 stationären Einrichtungen im Internet einsehbar. Der bundesweite Durchschnitt liegt für Heime bei 1,9 und für ambulante Dienste bei 2,1. Das entsprechende Portal wurde etwa 17 Millionen Mal besucht. Nach Auskunft der Verbände, versucht jede 50. Einrichtung, die Veröffentlichung gerichtlich zu verhindern. Die zuständigen Sozialgerichte urteilen nicht einhellig.
Sozialgerichte: Nicht aus einem Munde
Nach Montesquieu sollen Richter nur aussprechen, was der Gesetzgeber sagt bzw. sagen will. Oft benutzen die Richter scheinbar eine andere Sprache als dieser. Auch untereinander reden die Gerichte nicht aus einem Munde.
Mit Urteil vom 20.8.2010 hat das Sozialgericht Münster, der roten Linie seiner vorherigen Eilbeschlüsse folgend, den beklagten Landesverband der Pflegekassen verurteilt, es zu unterlassen, den Transparenzbericht des klägerischen Heimträgers über das Internetportal zu veröffentlichen (Az. SG Münster S 6 P 111/10).
Der Einrichtung stehe aus der Abwehrfunktion der Grundrechte ein Unterlassungsanspruch zu. Es sei schon fraglich, ob der Gesetzgeber es einem Dritten überlassen durfte, zu bestimmen, dass die Qualitätsberichte in einem Schulnotensystem publik gemacht werden. Dies widerspräche dem Parlamentsvorbehalt und Art. 80 GG. Jedenfalls entsprächen die Transparenzberichte nicht den gesetzlichen Anforderungen. Die öffentlichen Informationen steuerten den Markt und griffen daher in Grundrechte der Träger ein. An die inhaltliche Richtigkeit und Sachlichkeit seien daher strenge Anforderungen zu stellen.
Die angewendeten Beurteilungskriterien seien nicht geeignet, die von den Heimen erbrachten Leistungen und deren Qualität hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität angemessen zu beurteilen. Das Sozialgericht formuliert deutlich: Die Transparenzberichte täuschten die Verbraucher. Die Pflegenoten bewerteten nicht das Ergebnis der pflegerischen Bemühungen, sondern im Wesentlichen nur die Pflege der Dokumentation.
Beurteilungskriterien: Auf die Finger geschaut
Viele andere Sozialgerichte urteilten weniger harsch und ließen in den Eilverfahren die Heimträger prozessual im Regen stehen. So verneinte etwa das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen einen Unterlassungsanspruch (Beschluss vom 10.05.2010, L 10 P 10/10 B ER).
Eine Normsetzung durch Vertrag sei verfassungsgemäß gewesen. Der Gesetzgeber dürfe es kompetenten Parteien überlassen, die Einzelheiten einzuhandeln. Es liege ferner kein hoheitlicher Eingriff in Grundrechte, insbesondere in die Berufsausübungsfreiheit des Art. 12 GG vor. Der Schutz der Gesundheit der Pflegebedürftigen und das Informationsbedürfnis potenzieller Interessenten liege im überwiegenden öffentlichen Interesse.
Das Prüfungssystem beruhe auf den aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen. Es werde ein faires, neutrales und objektives und sachkundiges Verfahren angewendet: Die Einrichtungsträger hätten zudem das Recht, die Berichte zu kommentieren und könnten innerhalb kurzer Zeit eine Wiederholungsprüfung beantragen.
Die Urteile lesen sich teilweise so, als spräche man über unterschiedliche Dinge. Das Sozialgericht Münster hat die Sprungrevision zugelassen. Der für das Pflegeversicherungsrecht zuständige dritte Senat wird hoffentlich bald ein Machtwort sprechen.
Pflegewissenschaft: Köpfe sollen rauchen
Das größtenteils überzeugend argumentierende SG Münster beruft sich auf ein neues pflegewissenschaftliches Gutachten der Professoren Hasseler und Wolf-Ostermann vom 21.7.2010. Deren aktuelle Studie stellt den Transparenzvereinbarungen für stationäre und ambulante Einrichtungen ein miserables wissenschaftliches Zeugnis aus.
Nur zwei der 64 Kriterien ließen sich als Kriterien der Ergebnis- und Lebensqualität einordnen. Sie empfehlen statt der Prüfung auf der Basis von Pflegedokumentationen, Kriterien zu entwickeln und zu wählen, die etwa darüber aussagen, was der Bewohner bzw. Kunde tatsächlich für Leistungen erhält.
Einen Ausweg aus dem aktuellen rechtlichen Dilemma bieten sie ad hoc nicht. Ihr Befund ist klar. Das bestehende Prüfsystem ist reparaturbedürftig. Es darf nicht sein, dass z.B. ein schmucker Speiseplan Mängel in der Dekubitusprophylaxe kompensieren kann.
In den Eilverfahren sollten die Veröffentlichungen nicht torpediert werden. Die Pflegebedürftigen und deren Angehörige verdienen größeren Schutz als die Pflegeheime, die angesichts der oft wohlwollenden Benotungen wirtschaftlich kaum gefährdet sein dürften.
Herzen sprechen lassen
Obgleich das kritische Augenmerk derzeit zu Recht auf den Pflege-TÜV gelenkt ist, darf das Gesamtsystem der Qualitätskontrolle von Pflegeeinrichtungen nicht aus dem Blick geraten.
Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen nach § 2 Abs. 1 Sozialgesetzbuch XI (SGB XI) den pflegebedürftigen Bewohnern helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbständiges und selbstbestimmtes Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht. Dieses oberste Gebot der Würde darf kein Konjunktiv werden.
In der Pflicht sind nicht nur Einrichtungsträger, sondern auch staatliche Stellen: Die die Pflegequalität prüfende Heimaufsicht muss besser kontrollieren, die Bewohner und Angehörigen müssen mehr gefragt und die Heimbeiräte stärker in das Prüfungsgeschehen involviert werden. Nötig sind valide Prüfungsinstrumente und optimal geschulte Prüfer. Gefragt ist Fairness gegenüber den Heimen, ohne die wahre Pflegequalität zu verschleiern, und ein Röntgenblick, um die Mängel aufzudecken. Beides geht nur nach der ewig wahren Weisheit des kleinen Prinzen: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers. Er publiziert regelmäßig zu sozialrechtlichen Themen.
Pflege-TÜV: . In: Legal Tribune Online, 21.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1519 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag