Militäreinsätze nach Paris-Attentaten und das Völkerrecht: Ist Fran­k­reich im Krieg?

Interview von Anne-Christine Herr

17.11.2015

2/2: "Selbstverteidigung nur möglich, wenn Gefahr andauert"

LTO: Zwei Tage nach den Anschlägen in Paris hat die französische Luftwaffe nun zwei Stellungen der Dschihadistenmiliz in der IS-Hochburg Rakka bombardiert. Ist dies nicht ein eindeutiger Fall der Selbstverteidigung?

Fenrich: Der Rückgriff auf das Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 UN Charta könnte Frankreich nur dann als Grundlage für sein militärisches Vorgehen dienen, wenn zuvor ein "bewaffneter Angriff" erfolgte. Ob die Terroranschläge als ein solcher zu werten sind, ist jedoch zweifelhaft.

Die Charta selbst hält zwar keine Definition des "bewaffneten Angriffs" bereit – dennoch wird häufig auf die Definition der "Aggression" in Art. 1 der Resolution der Generalversammlung 3314 (XXIX) von 1974 zurückgegriffen:  "Aggression ist die Anwendung von Waffengewalt durch einen Staat, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet oder sonst mit der Charta der Vereinten Nationen unvereinbar ist, wie in dieser Definition ausgeführt."

Das wäre grundsätzlich möglich, weil die Definition des Begriffs sich insoweit von der oben genannten im Rahmen der Genfer Konvention unterscheiden kann – seit dem 11. September gehen viele Völkerrechtler davon aus, dass auch der Angriff einer nicht-staatlichen Gruppierung das Selbstverteidigungsrecht auslösen kann. Aber auch, wenn man dies bejaht, stellt sich die Frage, ob die Angriffe durch den IS noch gegenwärtig sind, also noch andauern. Die USA hatten sich im Rahmen des Kampfes gegen den Terrorismus auf die Existenz einer Dauergefahr gestützt. Danach drohten ständig neue Anschläge. Eine ähnliche Argumentation könnte Frankreich hier auch vorbringen.

Liegt hingegen keine Dauergefahr vor, müsste man von einem sog. Präventivschlag sprechen, und ein solcher ist nur in sehr engen Grenzen zulässig.

Eine deutlich stabilere Grundlage wäre allerdings ein entsprechendes Mandat des VN-Sicherheitsrats nach Artikel 42 VN-Charta "zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit". In der Folge von 9/11 hat der Sicherheitsrat ein solches Mandat erteilt – auch Frankreich hat bereits beantragt, dass der Rat sich nach den Pariser Anschlägen mit dieser Frage befassen soll.

"Bündnisfall schafft Beistandsrecht – nicht Beistandspflicht"

LTO: Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen hält es für möglich, dass die NATO einen sog. Bündnisfall ausrufen wird, auch dies war nach dem 11. September 2001 der Fall. Damals konnten die Terroranschläge zumindest auch dem afghanischen Taliban-Staat zugerechnet werden, der al-Qaida gewähren ließ und unterstützte. Wären die Voraussetzungen auch dieses Mal gegeben?

Fenrich: Ein Bündnisfall tritt nach Art. 5 NATO Vertrag nur ein, wenn ein "bewaffneter Angriff" vorliegt. Nur ein solcher Angriff gegen eine Bündnispartei in Europa oder Nordamerika wird als Angriff gegen alle Nato-Staaten angesehen und gibt ihnen das Recht der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung. Insofern decken sich die Voraussetzungen des Art. 51 UN Charta und des Art. 5 NATO Vertrag.

Sollte jedoch Art. 51 UN Charta anwendbar sein, müsste Frankreich noch einen entsprechenden Antrag stellen, den die NATO prüfen müsste. Nur dann könnten sich auch andere Staaten auf das kollektive Selbstverteidigungsrecht Frankreichs stützen.

Allerdings löst der Bündnisfall nur ein militärisches Beistandsrecht und keine Beistandspflicht aus. Die Mitgliedstaaten entscheiden grundsätzlich selbst, in welcher Art sie unterstützen wollen. Das weitere Vorgehen liegt somit im Rahmen des jeweiligen nationalen Ermessens.

"Bundeswehreinsatz erfordert Zustimmung des Parlaments"

LTO: Was würde dann auf nationaler Ebene passieren – müsste der Bundestag bei jedem weiteren Einsatz der deutschen Bundeswehr beteiligt werden, oder würde in Eilfällen auch ein Befehl der Regierung reichen?

Fenrich: In Deutschland sind Bundeswehreinsätze grundsätzlich zustimmungsbedürftig durch den Bundestag aufgrund des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts. Daher bedürfte es prinzipiell, anders als in Frankreich, eines parlamentarischen Zustimmungsaktes.

Bei Gefahr in Verzug kann die Bundesregierung ausnahmsweise vorläufig alleine beschließen, muss den Bundestag jedoch umfassend informieren und schnellstmöglich Gelegenheit zur Abstimmung geben.

Im Extremfall müssten die Streitkräfte auf Verlangen des Bundestages zurückgerufen werden.

LTO: Frau Fenrich, vielen Dank für das Gespräch.

Katrin Fenrich ist seit November 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht (IFHV) der Ruhr-Universität Bochum beschäftigt. Dort setzt sie sich mit dem Völkerrecht und insbesondere dem Kriegsrecht auseinander. Ihre Promotion verfasst sie im Bereich des Internationalen Verfahrensrechts.

Zitiervorschlag

Anne-Christine Herr, Militäreinsätze nach Paris-Attentaten und das Völkerrecht: . In: Legal Tribune Online, 17.11.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17566 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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