Weil die Datenbank OpenJur ein Gerichtsurteil mit dem Klarnamen eines Rechtsanwalts veröffentlichte, fordert dieser Schadensersatz. Aber liegt überhaupt eine Rechtsverletzung vor und haften juristische Datenbanken für gerichtliche Fehler?
Im Jahr 2021 befand eine Studie, dass 50 Jahre lang nur jeweils ein Prozent der pro Jahr gefällten Gerichtsentscheidungen in Deutschland veröffentlicht worden sind. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass die Gerichte den Aufwand der Anonymisierung scheuen oder fürchten, dabei Fehler zu machen. Denn dann gelangen etwa Namen von Parteien, Zeugen, Angeklagten oder andere persönliche Informationen an die Öffentlichkeit, ohne dass daran ein öffentliches Interesse besteht.
Für Betroffene ist das ärgerlich, in manchen Fällen sogar rufschädigend. Einen solchen Fall hatte das Landgericht (LG) Hamburg am Freitag zu verhandeln (Az. 324 O 278/23). Am Tisch, der in Saal 335 für die beklagte Partei reserviert ist, nahmen jedoch nicht Vertreter eines Gerichts Platz, sondern der Geschäftsführer von OpenJur, einer privaten Rechtsprechungsdatenbank.
Dem per Video zugeschalteten Kläger merkte man seinen Frust auch fast ein Jahr nach Bekanntwerden des Fehlers an. Er fordert von OpenJur Unterlassung und Schadensersatz aufgrund der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO). Ihm geht es um Gerechtigkeit, symbolisch dafür steht seine Inneneinrichtung, die aufgrund des nicht geblurrten Hintergrunds in der von der Hamburger Justiz genutzten Videosoftware gut zu sehen ist: ein fettes §-Zeichen, eine Justitia mit einer Waage in der Hand und links daneben ein "Richter-Hammer", der bekanntlich in Deutschland gar nicht zum Einsatz kommt.
Die grausame Jura-Stockfoto-Kulisse verrät die Profession des Mannes: Er ist selbst Jurist, mittlerweile Justiziar in einem Bundesministerium, zudem zugelassener Rechtsanwalt in Mecklenburg-Vorpommern. Als er zuvor in Berlin zugelassen war, lief es so schlecht, dass das Versorgungswerk gegen den Anwalt wegen Zahlungsengpässen die Zwangsvollstreckung betrieb. Dieses Verfahren, das letztlich beim Berliner Verwaltungsgericht (VG) landete, bildet die Vorgeschichte des Rechtsstreits mit OpenJur in Hamburg: Die Plattform veröffentlichte 2022 das VG-Urteil – mitsamt den Angaben über die klammen finanziellen Verhältnisse und dem Namen des Mannes.
Da OpenJur die Texte der veröffentlichten Entscheidungen mittels automatisierter Prozesse aus den Rechtsprechungsdatenbanken der Bundesländer kopiert, geht das Unternehmen davon aus, dass der Fehler beim Land bzw. dem VG Berlin liegt. Haftet die Online-Plattform trotzdem?
Zwei verschiedene Öffentlichkeiten
Das hängt von vielen rechtlichen Detailfragen ab, die alle hochkomplex sind, wie der Vorsitzende Richter Dr. Christopher Sachse am Freitag zu Verhandlungsbeginn bemerkte. Unterfallen Informationen aus einem öffentlichen Gerichtsprozess dem Datenschutz? Kann sich OpenJur auf eine Ausnahme vom Anwendungsbereich der DSGVO berufen, die nur für Journalisten gilt? Falls ja: Wie würde das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) den Fall entscheiden? Falls nein: Sieht die DSGVO einen Unterlassungsanspruch vor? Und kann OpenJur sich aus der Schadensersatzhaftung befreien, weil der Fehler beim Gericht lag?
Um einen Löschungsanspruch ging es nicht (mehr), denn OpenJur hatte das Urteil des VG Berlin innerhalb 20 Minuten nach Erhalt einer Abmahnung des Klägers anonymisiert. Allerdings war bereits ein Jahr seit der Veröffentlichung verstrichen. Weil daher etliche (potenzielle) Mandant:innen von seinen finanziellen Schwierigkeiten erfahren haben könnten, fordert er nun nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO Schadensersatz. Daneben verlangt er nach Art. 15 DSGVO Auskunft über sämtliche seiner personenbezogenen Daten, die OpenJur verarbeitet hat, sowie Unterlassung vergleichbarer Verstöße in der Zukunft.
Die Prozessbevollmächtigten von OpenJur dagegen hielten die DSGVO aus verschiedenen Gründen für unanwendbar: Liegt womöglich schon keine Veröffentlichung von personenbezogenen Daten durch OpenJur vor, weil die Informationen aus dem Verfahren vor dem VG Berlin bereits – für die (potenziellen) Zuschauenden der dortigen Verhandlung – öffentlich waren? In diese Richtung argumentierte Rechtsanwältin Dr. Mina Kianfar, die OpenJur in Hamburg zusammen mit Dr. Lukas Mezger (beide Unverzagt Rechtsanwälte) vertrat. Doch damit blitzte sie beim Gericht ab: "Das sind ja schon unterschiedliche Öffentlichkeiten – die Saal-Öffentlichkeit und die Internet-Öffentlichkeit", stellte die berichterstattende Richterin fest.
Sie brachte am Freitag auch deutlich zum Ausdruck, dass das Gericht auch die übrigen Einwände gegen eine Anwendbarkeit der DSGVO nicht überzeugen: "Wir neigen hier dazu, einen Anwendungsfall der DSGVO zu sehen."
Verschiebebahnhof als Pressetätigkeit
OpenJur beruft sich auf eine Ausnahme in Art. 85 Abs. 2 DSGVO. Danach sehen die EU-Mitgliedstaaten für die journalistische Datenverarbeitung "Abweichungen oder Ausnahmen" von der DSGVO vor, "wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen". Dafür müsste OpenJur aber journalistische Arbeit machen. Reicht dafür ein "blindes" Verschieben von Gerichtsentscheidungen aus den Rechtsprechungsdatenbanken der Länder auf die eigene Plattform aus?
"Sie stellen Entscheidungen online, ohne redaktionelle Aufarbeitung", betonte Dr. Bardia Kian (Lambsdorff Rechtsanwälte), der den Kläger vertrat. Er meint daher, dass sich OpenJur nicht auf das Presseprivileg berufen kann. Auch das Gericht zeigte sich skeptisch. OpenJur-Vertreter Mezger wies in dem Zusammenhang darauf hin, dass in dieser Frage nicht das Verständnis von Presse nach deutschem Recht maßgeblich sei, sondern dass es sich um einen autonomen unionsrechtlichen Begriff handelt. Da über die Auslegung weiter Teile der seit 2018 geltenden DSGVO noch Rechtsunsicherheit besteht, wollte sich das Gericht nicht endgültig festlegen: "Das ist schon eine spannende Frage."
Doch war der Gesamteindruck deutlich: Das Gericht wird die Presseeigenschaft von OpenJur wohl verneinen. Damit bewegt sich der Rest der juristischen Anspruchsprüfung im Bereich der DSGVO – die weitgehend noch unbekanntes Fahrwasser ist. Die Berichterstatterin bemerkte in ihrem Eingangsbericht, wie viele Vorlagen zur DSGVO zurzeit noch beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig sind.
Unterlassung und Schadensersatz – was gewährt die DSGVO?
Allein dazu, inwiefern die DSGVO einen Anspruch auf Unterlassung gewährt, habe der Bundesgerichtshof mehrere Fragen nach Luxemburg vorgelegt. Problematisch sei insbesondere ein vorbeugender Anspruch auf Unterlassung einer erstmaligen Rechtsverletzung.
Hinsichtlich der begehrten Entschädigung ist die Sache nur wenig klarer. Art. 82 Abs. 1 DSGVO gewährt zwar materiellen wie immateriellen Schadensersatz. Das setzt aber voraus, dass dem Betroffenen auch ein solcher Schaden entstanden ist. Einen konkreten Vermögensschaden macht der betroffene Rechtsanwalt hier nicht geltend. Er spricht am Freitag zwar von einem Vermögensschaden, legt aber nicht dar, dass ihm in dem Jahr, in dem das VG-Urteil mit seinem Namen auf OpenJur verfügbar war, Mandate entgangen sind. Auch für das Gericht ist klar: "Es geht hier nur um einen immateriellen Schadensersatz."
Zu den Darlegungsanforderungen für einen solchen Schaden hat sich der EuGH kürzlich mehrmals eher vage geäußert. Die Hamburger Pressekammer zeigte aber an, dass sie aufgrund der erheblichen Zeitdauer und der hohen Reichweite von OpenJur einen immateriellen Schaden wohl bejahen wird. Ein Fingerzeig könnte die Summe sein, die das Gericht in einem später gemachten, von den Parteien aber abgelehnten Vergleichsvorschlag in den Raum stellte: 2.000 bis 3.000 Euro.
Haftet OpenJur, wenn der Fehler beim Gericht liegt?
Eine rechtliche Hürde, so stellt die Berichterstatterin am Freitag klar, könnte aber in Art. 82 Abs. 3 DSGVO liegen. Demnach ist die Haftung des Datenverarbeiters ausgeschlossen, "wenn er nachweist, dass er in keinerlei Hinsicht für den Umstand, durch den der Schaden eingetreten ist, verantwortlich ist". Das Gericht lässt erkennen, dass es an dieser Stelle nicht außer Acht lassen will, dass OpenJur das fehlerhaft anonymisierte Urteil womöglich aus der Berliner Rechtsprechungsdatenbank übernommen hat.
Diese Tatsache ist unter den Parteien zwar streitig, wie Klägeranwalt Kian am Freitag mehrmals klarstellt. Jedoch macht das LG später deutlich, dass es diesen Umstand auch ohne eine Beweisaufnahme der rechtlichen Würdigung zugrunde legen wird. Ihm reichten offenbar die Antworten, die OpenJur-Geschäftsführer Benjamin Bremert auf die Frage lieferte, wie die Texte der Gerichtsentscheidungen genau auf der eigenen Seite landen: Man nutze Software, um die Quelltexte der in den Rechtsprechungsdatenbanken veröffentlichten Entscheidungen aus deren Backend zu ziehen – also dem Unterbau der Website, der den Nutzer:innen in der normalen Browser-Ansicht verborgen ist.
Kurios wurde es, als sich ein Mann aus dem Publikum einschalten wollte: "Ich kann Ihnen erklären, wie das funktioniert. Geben Sie mir eine Minute." Die sichtlich irritierte Richterbank winkte ab. "Wir diskutieren unsere Fälle nicht mit der Öffentlichkeit", sagte der Vorsitzende Sachse. Das gilt wohl für die Saal- wie die Internet-Öffentlichkeit.
Offen ließ das Gericht, wie es letztlich die Tatsache rechtlich werten will, dass OpenJur das VG-Urteil mit fehlerhafter Anonymisierung übernommen hat. Reicht das aus, um im Sinne des Art. 82 Abs. 3 DSGVO davon auszugehen, dass OpenJur für den Datenschutzverstoß "in keinerlei Hinsicht" verantwortlich ist?
Sorgfaltsanforderungen offen
OpenJur-Anwalt Mezger meint schon. Eine private Plattform müsse sich auf die vom Staat zur Verfügung gestellten Informationen verlassen dürfen. Er verweist auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 2010 (Az. 1 BvR 1891/05). Dort entschieden die Karlsruher Richter in Bezug auf eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft, dass die Presse “Verlautbarungen amtlicher Stellen [...] ein gesteigertes Vertrauen” entgegenbringen dürfte. Schließlich sei davon auszugehen, dass diese Stelle bereits eine Abwägung zwischen dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen und dem öffentlichen Informationsinteresse vorgenommen habe. Ob das das LG Hamburg überzeugt? Sachse ließ sich nicht in die Karten blicken: "Wir kennen die Rechtsprechung.”
Der Kläger jedenfalls sieht "überhaupt keine Grundlage für eine Exkulpation". Er verweist darauf, dass zahlreiche andere Portale die Entscheidung des VG Berlin anonymisiert veröffentlicht hatten. Dennoch habe ihm gerade diese Aufmerksamkeit zusätzlich geschadet. Denn die Portale hätten das Aktenzeichen verbreitet – und wenn man das in die Google-Suche eintippe, dann findet man unter den Suchergebnissen OpenJur weit oben. Und tatsächlich: Wenn man es selbst ausprobiert, ist OpenJur das erste Suchergebnis nach Dejure, was aber nur andere Portale und Zeitungen – darunter wiederum OpenJur – verlinkt. Reichweite, die zu erhöhter Sorgfalt verpflichtet, meint der Kläger.
Bremert hält dem entgegen, dass OpenJur als kleines Non-Profit-Unternehmen nicht die Möglichkeiten habe, um sicherzustellen, dass keine falsch anonymisierten Urteile auf die Seite kommen. Das Gericht befragt ihn erstaunlicherweise nicht dazu, welche Algorithmen womöglich doch eine gewisse Sicherheit leisten können. Vor der Verhandlung sagte Bremert gegenüber LTO aber, man habe inzwischen ein Tool, das die übernommenen Gerichtsentscheidungen nach häufigen Vor- und Nachnamen im Rubrum scanne, um fehlerhafte Anonymisierungen herauszufiltern. Im vorliegenden hätte das aber nicht geholfen, der betreffende Name stand nicht auf der Liste.
OpenJur will Entscheidung – auch wenn sie existenzgefährdend ist
Stellt das Gericht höhere Sorgfaltsanforderungen auf, wäre der weitere Betrieb von OpenJur "aus heutiger Sicht unmöglich", wenn man den Ausführungen von OpenJur Glauben schenkt. Das stimmt nur dann, wenn es häufiger vorkommt. Im Fall von OpenJur ist dies der zweite Vorfall dieser Art; der erste endete laut Bremert glimpflich, ohne Klage. Zwei Fälle in 14 Jahren Bestehen erscheinen nicht viel, allerdings gibt es die DSGVO eben auch erst seit 2018. Insofern dürften Bremerts Existenzsorgen nicht völlig fernliegend sein. Grund genug, eine gütliche Einigung zu suchen, mit der OpenJur vergleichsweise kostengünstig aus der Sache herauskommt – oder nicht?
Richter Sachse regte die Parteien nach einer kurzen Unterbrechung dazu an, sich per Vergleich zu einigen: OpenJur zahlt 2.000 bis 3.000 Euro, damit werden sämtliche Ansprüche abgegolten. Der Kläger signalisierte durchaus Bereitschaft dazu, doch OpenJur will Rechtsklarheit schaffen. "Dieses Verfahren entscheidet darüber, ob wir das, was wir machen, weiterhin machen können oder nicht", so Geschäftsführer Benjamin Bremert. "Und diese Entscheidung wollen Sie auch?", hakte der Vorsitzende nach. Bremert bejaht, es geht ums Prinzip.
Die Richter:innen können das nachvollziehen, kommen nun aber nicht darum herum, die vielen offenen Rechtsfragen zur DSGVO zu klären. Da hierzu im Unionsrecht eigentlich der EuGH berufen ist, wäre auch eine Vorlage oder Aussetzung denkbar. Dazu wird es aber nicht kommen, denn beides wurde am Freitag zu keinem Zeitpunkt erörtert. Stattdessen legte der Sachse einen Verkündungstermin fest: Am 26. Juli wissen wir mehr.
Hinweis: Name des Vorsitzenden Richters geändert am Tag der Veröffentlichung, 13:40 Uhr.
• Die wichtigsten Rechtsdebatten des Landes – kompakt, kontrovers und kurzweilig aufbereitet – gibt es im LTO-Podcast "Die Rechtslage". Reinhören, abonnieren und mitreden – überall, wo es Podcasts gibt.
LG Hamburg verhandelt Klage gegen "OpenJur": . In: Legal Tribune Online, 27.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54439 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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