"Nur eins und eins zusammengezählt." Ein Anwalt in einem Terrorismusprozess will Deutschlands Ex-Top-Polizei-Spitzel enttarnt haben. Eine Gefahr für den Mann habe er nicht geschaffen, meint er. Das OLG will "VP 01" nun als Zeugen hören.
Mit einem Antrag auf Zeugenvernehmung hat ein Kölner Anwalt im Terrorismusprozess am Oberlandesgericht (OLG) Celle für Unruhe gesorgt. Denn Michael Murat Sertsöz hat in dem Antrag einen Mann als Zeugen benannt, der bislang nur als "VP 01" oder unter dem Decknamen "Murat Cem" bekannt war. Als sogenannte Vertrauensperson (VP) war er dauerhaft in Islamistenkreisen eingesetzt, um der Polizei Information zuzuliefern. Der Top-Spitzel der Polizei war auch auf den Weihnachtsmarktattentäter Anis Amri angesetzt.
Das Brisante: Der Antrag des Verteidigers soll nun den Klarnamen des Mannes benennen. Sollte der Name zutreffend sein, könnte der Verteidiger die VP in Gefahr gebracht haben. Das Innenministerium NRW teilte erst vor wenigen Wochen noch mit, dass es in der Szene diverse Mordaufrufe gebe und der Mann unter Islamisten als "vogelfrei" gelte. Er lebt in einem Zeugenschutzprogramm.
Das OLG bestätigte LTO den Eingang des Antrags auf Vernehmung des Mannes als Zeuge. Das Gericht müsse dem nun nachgehen und habe die benannte Person bereits geladen. Nach Recherchen von LTO ging die Ladung an ein Düsseldorfer Postfach. Auch ein Datum für die Vernehmung steht schon fest: Am 16. September soll die Person vor Gericht erscheinen und auch an vier weiteren Prozesstagen aussagen. Ob es sich bei der geladenen Person aber tatsächlich um die VP 01 handelt, sei völlig offen, wie ein Gerichtssprecher am Mittwoch betonte.
Anwalt: "Ich habe nur eins und eins zusammengezählt"
Sertsöz will sich aber sicher sein. "Ich habe keine Zweifel", sagte er LTO am Donnerstag. Eine Woche lang will er recherchiert haben. Vor allem ein aktuelles Buch, das Journalisten des Spiegel über die VP geschrieben haben, soll ihm dabei nützlich gewesen sein. Hinweise führten ihn zu einem Urteil gegen die V-Person und zu ihrem Namen. "Ich habe ihn gar nicht enttarnt, ich habe nur eins und eins zusammengezählt", so Sertsöz.
Sertsöz verteidigt in dem Verfahren vor dem OLG Celle den Hildesheimer Prediger Abu Waala, den die Ermittler als mutmaßlichen Statthalter des sogenannten Islamischen Staates in Deutschland sehen. Dem Iraker und drei weiteren Mitangeklagten wird Unterstützung und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, seit September 2017 läuft der Prozess in Celle. Die Männer sollen junge Menschen insbesondere im Ruhrgebiet und im Raum Hildesheim radikalisiert und in die IS-Kampfgebiete geschickt haben. Die Anklage gegen Abu Waala beruht zu großen Teilen auf Aussagen der VP 01. Waalas Verteidiger hat ihn als Zeugen benannt, weil er sich Entlastung für einen Mandanten verspricht.
Ob er nicht glaube, dass er den Mann nun in Gefahr gebracht habe? Davon will Sertsöz nichts wissen. Die VP werde immer wieder auch in dem Spiegel Buch mit den Worten zitiert, sie habe keine Angst. Und mit der Aussage, sie werde überall dort aussagen, wohin man sie rufe.
Sertsöz sagt, er habe immer wieder versucht, den Zeugen in den OLG-Prozess zu bekommen. "Bis heute sperrt das Innenministerium aber die VP 01 für den Prozess." Nun muss das Gericht sich aber mit der Beiziehung des Zeugen beschäftigen. Und wenn der nicht aus eigenen Stücken komme, so Sertsöz, drohten eben Kosten und alle anderen Sanktionen, die die Strafprozessordnung beim Ausbleiben eines Zeugen vorsieht. In dem aufwändigen Terrorprozess könnten das laut Sertsöz schnell mal 10.000 Euro pro Prozesstag sein.
Strafverteidigerin: Verteidiger muss nur eigenen Mandanten schützen
Ging der Anwalt Sertsöz mit diesem Schritt zu weit? Das Innenministerium NRW konnte am Donnerstag bis zum Erscheinen dieses Textes auf eine LTO-Anfrage nicht antworten. Der Pressesprecher der zuständigen Kölner Rechtsanwaltskammer teilte mit, dass berufsrechtlich nichts gegen eine Zeugenbenennung mit Klarnamen spreche, auch wenn damit der geheime Name einer V-Person aufgedeckt würde.
Die auf Staatsschutzsachen spezialisierte Münchner Strafverteidigerin Ricarda Lang sagte: "Eine V-Person mit bislang geheimen Klarnamen als Zeuge in einem Strafprozess zu benennen, ist nicht zu beanstanden." Lang, die unter anderem Erfahrung im Al-Qaida-Prozess oder im Prozess gegen die Sauerlandgruppe sammelte, sagte weiter: "Es ist nicht die Aufgabe eines Verteidigers, andere Personen zu schützen, außer den eigenen Mandanten." Und grundsätzlich brauche es für den Beweisantrag eben einen Namen und eine ladungsfähige Adresse.
Auch vor dem Hintergrund, dass Strafverteidiger Organe der Rechtspflege sind, sei es allerdings vorstellbar, so Lang, in einer solchen Konstellation einen Mittelweg zu wählen. Und zwar indem beantragt wird, eine Person unter Nennung ihres Decknamens zu laden, mit dem Verweis darauf, dass Name und Adresse bekannt sind. Auf einem gesonderten Blatt könnten diese Klarinformationen an das Gericht gehen. Und wenn der Klarname in der Hauptverhandlung genannt werden soll, könnte der Ausschluss der Öffentlichkeit beantragt werden.
Sie sieht einen Verstoß gegen das Konfrontationsgebot, wenn der Belastungszeuge nicht seitens des Angeklagten befragt werden kann. Stehe die V-Person nicht als Zeuge zur Verfügung, könne sich auch das Gericht keinen eigenen Eindruck von der Glaubwürdigkeit der Person und der Glaubhaftigkeit der Aussagen machen. Die Strafverteidiger und das Gericht seien stattdessen dann nur auf die Aussagen der Polizeibeamten angewiesen, also Zeugen vom Hörensagen.
V-Person auf der Suche nach Öffentlichkeit?
Die VP-01 hatte seit einiger Zeit die Öffentlichkeit förmlich gesucht. Dem Spiegel berichtete der Mann ausführlich für eine Titelstory aus seinem Doppelleben als Spitzel, die Journalisten schrieben ein Buch über sein Leben. Auch in einem TV-Beitrag tauchte er auf, zu sehen war er nur ansatzweise.
Der Informant will die Polizei in Nordrhein-Westfalen früh vor Anis Amri gewarnt haben, der mit einem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016 zwölf Menschen tötete. Behörden in Berlin hatten seine Angaben aber den Erkenntnissen zufolge in Zweifel gezogen. Am vergangenen Montag sagte der V-Mann per Videoschaltung in einem Düsseldorfer Untersuchungsausschuss (UA) aus, wobei seine Stimme verfremdet wurde und er von einem unbekannten Ort zugeschaltet wurde. Der UA in Düsseldorf beschäftigt sich mit der Aufklärung der Abläufe und Hintergründe des Terroranschlags am Berliner Breitscheidplatz.
"Mit der in Ausnahmefällen zulässigen audiovisuellen Vernehmung von Zeugen hat der Untersuchungsausschuss einen Weg gefunden, dem Schutz der VP-01 gerecht zu werden. Diese Form der Vernehmung ist im Landtag Nordrhein-Westfalen erstmalig zur Anwendung gelangt", das teilte der Vorsitzende des UA Jörg Geerlings (CDU) mit. Um die Identität der VP-01 festzustellen, habe sich am Ort der Vernehmung ein Polizeibeamter, dem die VP-01 aus der Vergangenheit bekannt ist, befunden. Ein solches Vorgehen kann sich auch der Strafverteidiger Sertsöz für den OLG-Prozess in Celle vorstellen.
Interner Aktenvermerk: Spitzel entschlossen, vor Gericht auszusagen
Die Polizei war offenbar lange Zeit davon ausgegangen, ihre V-Person unter Kontrolle zu haben. Nach Recherchen von LTO belegen Dokumente der Polizei in NRW, dass VP-01 erst Ende März 2019 förmlich zur Verschwiegenheit verpflichtet werden sollte. Und dagegen wehrte sie sich. Interessanterweise kündigten die Beamten der VP damals an, dass eine Offenbarung gegenüber Dritten Folgen haben könnte. Die zu seinem Schutz bestehende Sperrerklärung gegen eine Aussage vor Gericht im laufenden Verfahren vor dem OLG Celle könne dann nicht aufrechterhalten werden. Das schien für "Murat Cem" aber offenbar gar nicht als Drohszenario. Laut einem Aktenvermerk der Polizei sei die VP entschlossen, auch vor Gericht auszusagen.
Amri-Vertrauter soll in IS-Terrorprozess als Zeuge aussagen: . In: Legal Tribune Online, 20.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42555 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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