Artensterben, Globalvermüllung, Klimawandel: Wie muss die Rechtsordnung auf die ökologischen Herausforderungen reagieren? Am besten mit einer neuen Verfassung, so Staatsrechtler Jens Kersten. Im LTO-Interview erläutert er seine Vorschläge.
LTO: Herr Kersten, im Herbst werden Sie der Öffentlichkeit den Entwurf für ein ökologisches Grundgesetz vorstellen. Die verbindliche Rücksicht auf Klima- und Umweltschutzbelange soll im Grundrechtteil an mehreren Stellen verankert werden. Auch an den Staatsorganisationsteil und sogar an die Präambel wollen Sie ran. Klingt revolutionär.
Prof. Dr. Jens Kersten: Richtig, aber angesichts der enormen ökologischen Herausforderungen, die die Mütter und Väter des Grundgesetzes nicht im Blick hatten, muss unsere Verfassung durchökologisiert werden. Umwelt- und Tierschutz lediglich als Staatsziel in Art. 20a GG vorzusehen, wie man das noch 1994 und 2002 für ausreichend hielt, reicht heute nicht mehr. Wir brauchen vielmehr ein Umweltgrundrecht und auch die Schranken bestehender Grundrechte müssen angepasst und neu formuliert werden.
Aber keine Sorge: Wir müssen dabei das Rad nicht neu erfinden. Zurückgehend auf die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung finden sich schon in jetzt vor allem in den ostdeutschen Landesverfassungen Ansatzpunkte, die der Bund aufgreifen könnte.
Welche Änderungen schlagen Sie konkret vor?
Die Stoßrichtung eines ökologischen Grundgesetzes sollte zunächst auch in der Präambel des GG zum Ausdruck kommen. Nicht nur Verantwortung "vor Gott und den Menschen", sondern auch "für die Natur" muss es heißen. Dann ist der Grundrechtekatalog entsprechend zu überarbeiten. Und schließlich sollte auch die Natur als Rechtssubjekt explizit in der Verfassung verankert werden.
"Ökologisches Gemeinwohl" als Schranke
Wo fangen Sie im Grundrechtekatalog an?
Als erstes sollte das allgemeine Persönlichkeitsrecht bzw. die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG modifiziert werden: Derzeit findet diese ihre Grenze u.a. im "Sittengesetz". Das ist längst nicht mehr zeitgemäß; die Formulierung sollte daher durch das "ökologische Wohl der Allgemeinheit" ersetzt werden. Mit dieser Änderung könnten dann künftig eine Reihe von Grundrechten mit Rücksicht auf das "'ökologische Gemeinwohl" in Art. 2 Abs. 1 GG eingeschränkt werden – selbstverständlich konkretisiert durch den Gesetzgeber.
Ungeachtet dessen sollte das "ökologische Wohl der Allgemeinheit" aber auch explizit in Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG im Zusammenhang mit der dort verankerten Tarifautonomie Erwähnung finden. Tarifparteien könnten sich dann nicht mehr – wie heute – zu Lasten der Natur verständigen.
Schließlich wäre auch bei der Eigentumsgarantie in Art. 14 GG eine Einschränkung durch das ökologische Allgemeinwohl wichtig – wie übrigens bereits in den Landesverfassungen von Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen mit etwas anderen Formulierungen geschehen. Das Argument "Bundesrecht bricht Landesrecht" hätte ausgedient, wenn man eine Beschränkung des Eigentums im Grundgesetz nicht mehr nur unter dem Aspekt der Sozialpflichtigkeit ermöglicht, sondern eben auch auf die Ökologiepflichtigkeit abstellt.
Grundrecht auf ökologische Integrität
Diese Vorschläge knüpfen im Wesentlichen an die Schrankenebene bestehender Grundrechte an. Welches Grundrecht müsste denn ganz neu geschaffen werden?
Es sollte ein echtes Umweltgrundrecht oder präziser, ein Grundrecht auf ökologische Integrität geben. Anbieten würde sich hier eine Ergänzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Der Satz "Jeder hat das Recht auf Leben und Unversehrtheit" sollte um dieses Recht ergänzt werden. Jeder bekommt dann ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht auf eine intakte Umwelt und die Erhaltung seiner natürlichen Lebensgrundlagen. Ich erinnere in diesem Zusammenhang gerne an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das 2008 das IT- bzw. Computer-Grundrecht "erfunden" hat. Da hat das Gericht das sozial-technische Umfeld der Menschen aufgegriffen, der Gesetzgeber könnte jetzt mit dem sozial-ökologischen ebenso verfahren.
Apropos BVerfG: Ist der berühmte Klimabeschluss nicht ein Beleg dafür, dass unsere Verfassung – konkret die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG – vielleicht doch mehr hergibt als gedacht?
Über die Entscheidung habe auch ich mich gefreut. Ein stückweit hat sie auch für positive Verwirrung gesorgt, weil man dachte, dass sich aus ihr plötzlich alles Mögliche herleiten lässt. Das aber ist nicht der Fall. Die Entscheidung hat lediglich dazu geführt, dass ein völlig unzureichendes Klimaschutzgesetz nachgebessert werden musste – nicht mehr und nicht weniger. An das Thema "konkrete Schutzpflichten" hat sich das BVerfG gar nicht herangetraut. Wahrscheinlich, um nicht die "Büchse der Pandora" zu öffnen.
Man muss die Entscheidung jedoch auch konsequent weiterdenken: Neben die "intertemporale Freiheitssicherung" muss die intertemporale Gleichheitssicherung mit Blick auf natürliche Ressourcen und die intertemporale Teilhabesicherung mit Blick auf Biodiversität treten.
"Natur zum Rechtssubjekt machen"
Wenn man den Grundrechtekatalog im von Ihnen geschilderten Sinne ändert und ein solches neues ökologisches Grundrecht schafft, dann erwachsen daraus ja Rechte für uns Menschen. Sie wollen aber auch der Natur selbst zu einer Rechtsposition verhelfen. Wie lässt sich das am besten anstellen?
Als erstes Land der Welt definierte das lateinamerikanische Ecuador in seiner Verfassung des Jahres 2008 allgemeine Rechte der Natur und erkannte die Natur als Rechtsperson an. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Zerstörung der Ökosysteme, des weltweiten Artensterbens sowie der eingetretenen und prognostizierten Klimaveränderungen haben sich immer mehr Staaten diesem Weg angeschlossen. Warum sollte das in Deutschland nicht möglich sein?
Ich favorisiere hier jedenfalls eine Ergänzung von Art. 19 Abs. 3 GG. Warum sollen Grundrechte nur für juristische Personen gelten, "soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind"? Niemand hindert den Gesetzgeber daran, nicht nur Wirtschaftsunternehmen, sondern auch die Natur zum Rechtssubjekt zu machen. Art. 19 Abs. 3 GG könnte dann lauten: "Die Grundrechte gelten auch für ökologische und inländische juristische Personen, soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind."
Wie im Fall von juristischen Personen wäre dann in jedem Einzelfall zu prüfen, welche Grundrechte ihrem Wesen nach auch auf die Natur anwendbar sind. In Betracht kämen dabei diverse Grundrechte, die ein Tier, ein Fluss oder ein Wald geltend machen könnten: Entfaltungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 1 GG), Leben und körperliche Integrität (Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG), Bewegungsfreiheit (Artikel 2 Absatz 2 Satz 2 GG), Gleichheit (Artikel 3 Absatz 1 GG). Ja sogar die Unverletzlichkeit der ökologischen Wohnung, also von Ökosystemen (Artikel 13 Absatz 1 GG).
"Umweltgerechtigkeit" in Art.20a GG aufnehmen
Sie wollen auch im Staatsorganisationsrecht etwas ändern.
Richtig. Wichtig wäre, dass Art. 20 Abs. 1 GG um den Terminus "ökologisch" ergänzt wird. Es würde dann klar, dass – wie die Demokratie und der Sozialstaat – eben auch die Ökologie zur DNA des Staates gehört. Ein so formulierter Art. 20 GG hätte dann z.B. zur Folge, dass Staatsorgane ökologische Aufgaben a priori zu bearbeiten hätten.
Die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG würde nach ihren Änderungsvorschlägen dann ja obsolet?
Nein, aber man könnte sie präziser fassen und den Aspekt der Umweltgerechtigkeit aufnehmen: "Der Staat gewährleistet umweltgerechte Lebensverhältnisse für gegenwärtige und künftige Generationen", lautet mein Vorschlag. Der Aspekt der Umweltgerechtigkeit ist bei uns - anders als z.B. als in den USA - noch unterentwickelt.
Haben Sie ein Beispiel, in welchen Fällen dies weiterhelfen könnte?
Der Anwendungsbereich der Umweltgerechtigkeit reicht von der lokalen bis zur globalen Ebene. Auf der lokalen Eben sehen wir – ganz parallel zu den USA –, dass die Umweltbedingungen in sozial benachteiligten Quartieren von Großstädten ebenfalls schlechter sind. Soziale Diskriminierung wird durch ökologische Umweltrisiken noch verstärkt. Auf der globalen Ebene ist Umweltgerechtigkeit ein Thema, wenn es um die Verantwortlichkeit für die Verursachung und die Bekämpfung von Umweltschäden geht. Hier ist Umweltgerechtigkeit nicht nur im Sinn von Klimagerechtigkeit, sondern gerade auch mit Blick auf das Artensterben und die Globalvermüllung ein zentrales Thema, dem sich der Globale Norden stellen muss.
"Lange ökologisch geschlafwandelt"
Hand aufs Herz, Herr Kersten: Sie bezeichnen Ihre Vorschläge selbst als revolutionär. Was gibt Ihnen Hoffnung, dass diese verfassungsrechtliche "Revolution" am Ende auch von der Politik gewollt und durchgesetzt wird?
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine ist in Deutschland von einer "Zeitenwende" die Rede. Wir seien – so heißt es – plötzlich in einer anderen Welt aufgewacht. Ich glaube nicht, dass das so ist: Die Welt war schon vorher, wie sie ist. Wir haben nicht einfach nur geschlafen, sondern geträumt – und uns die Welt zurecht fantasiert.
Auch ökologisch haben wir viel zu lang in einer Traumwelt gelebt. Wenn "Zeitenwende" etwas heißt, dann die Realitäten zu sehen und auf dieser Grundlage demokratisch verantwortlich zu handeln. Wir erleben keinen Klimawandel, der irgendwie erst in der Zukunft stattfindet, sondern wir befinden uns bereits mitten in der Klimakatastrophe. Und wer eben wie wir lange ökologisch geschlafwandelt ist, der hat eben viel nachzuholen und zu tun. Wir haben den Punkt ökologischer Reformen unserer Verfassungsordnung längst verpasst, es bleibt nur eine revolutionäre ökologische Transformation unserer Verfassungsordnung.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
Prof. Dr. Jens Kersten unterrichtet Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität München
Staatsrechtler fordert Grundgesetzänderung: . In: Legal Tribune Online, 07.05.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48362 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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