Wer Abgeordneter werden kann, wird vor den Wahlen durch die Parteien festgelegt. Die Bürger können nicht mehr tun, als diese Vorgaben abzunicken. Christdemokratische Juristen wollen das ändern. Sie fordern mehr Bürgerbeteiligung bei der Kandidatenwahl. Arnd Diringer hält den Vorschlag für ebenso genial wie chancenlos.
Nach Art 38 Abs. 1 S. 2 des Grundgesetzes (GG) sind die Abgeordneten des Deutschen Bundestages "Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen". Nahezu wort-, zumindest aber inhaltsgleiche Vorschriften enthalten die Verfassungen der Länder für die Landtagsabgeordneten. Soviel zur Theorie.
Die Praxis sieht leider anders aus. Allzu oft wird das Handeln der Abgeordneten durch Fraktionsdisziplin und Parteiräson geprägt. Mandatsträger verkommen so zu bloßen Parteisoldaten. Dass dies verfassungsrechtlich bedenklich ist, ist offensichtlich. Es ist aber geradezu systemimmanent. Denn die Abgeordneten sind vor allem auf das Wohlwollen ihrer Partei angewiesen, wenn sie ihren Sitz im Parlament behalten wollen.
Die Parteien bestimmen, wer kandidieren und damit gewählt werden kann und legen dadurch vorab die Zusammensetzung der Parlamente fest. Wer in diesem System als Vertreter des ganzen Volkes auftritt, Aufträge und Weisungen der Fraktions- und Parteiführung ignoriert oder sich gar von seinem Gewissen leiten lässt, kann bei der nächsten Wahl schnell sein Mandat verlieren.
Aller guten Kandidaten sind drei
Vor diesem Hintergrund erscheint die Ende 2011 veröffentliche Forderung des Landesarbeitskreis Christdemokratischer Juristen in Baden Württemberg (LACDJ) nach mehr Bürgerbeteiligung bei der Kandidatenwahl fast zwingend. Mit einem Vorschlag für eine Wahlrechtsreform wollen sie erreichen, "dass derjenige Kandidat einer Partei einen Wahlkreis gewinnt, zu dem vor allem die Bürger das größte Vertrauen haben – und nicht allein die jeweilige Partei" ("Rechtsforum" 2/2011, S. 9).
Nach dem Vorschlag des LACDJ soll jede Partei bei den Landtagswahlen künftig drei Bewerber pro Wahlkreis aufstellen. Das Wahlkreismandat erhält die Partei, deren Kandidaten zusammen die meisten Wähler überzeugen konnten. Abgeordneter wird, wer innerhalb der siegreichen Parteiliste das beste Ergebnis erzielt hat.
Die einzelne Partei erhält insgesamt die Zahl an Parlamentssitzen, die ihrem Stimmenanteil im Land entspricht. Die nicht direkt durch Wahlkreismandate errungenen Sitze sollen parteiintern verteilt werden nach den in den Wahlkreisen erzielten Prozentzahlen.
Auf den ersten Blick scheint damit wenig gewonnen. Denn letztlich wären es wieder die Parteien, die über die Kandidatenaufstellung entscheiden. Nur dass sie dann eben drei statt wie bisher einen Bewerber aufstellen.
Persönlichkeiten statt Parteikarrieristen
Aber dieser erste Blick trügt. Denn die Parteien müssten die Kandidatenauswahl grundlegend ändern. Übertrüge man das System auf alle überregionalen Wahlen, also alle Landtags-, Bundestags- und Europawahlen, käme das einer personellen Revolution gleich.
Bislang werden Wahlentscheidungen wesentlich durch die jeweilige Parteipräferenz der Wähler geprägt. Eine Auseinandersetzung mit der Person und den Positionen der Kandidaten findet nur selten statt, da der Wähler ohnehin nur den personellen Vorgaben der Parteien folgen kann. Eine Ausnahme besteht insofern nur bei Kommunalwahlen, bei denen zumeist heute schon eine Auswahl zwischen verschiedenen Bewerbern der gleichen Gruppierung möglich ist.
Wenn der Wähler nun bei überregionalen Wahlen zwischen drei Kandidaten der gleichen Partei entscheiden muss, wird er gezwungen, sich die Bewerber genauer anzuschauen. Charakterlose Parteikarrieristen hätten dann wohl ebenso wenig Chancen wie die zahlreichen Abgeordneten, die über keine Ausbildung verfügen und nie einer Berufstätigkeit außerhalb des politischen Bereichs nachgegangen sind.
An ihre Stelle würden Menschen treten, die die Politik nicht nur nach Auffassung des ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden Württemberg Erwin Teufel (F.A.Z. vom 31. Juli 2011) dringend braucht: "Leute mit Bodenhaftung, Leute, die wissen, wo die Menschen der Schuh drückt und das tägliche Brot herkommt." Kurz: Diejenigen, die in den derzeitigen Parteistrukturen nur selten die Chance auf ein Mandat haben.
Das Ende der Fraktionsdisziplin
Die Personifizierung des Wahlkampfs könnten auch einzelne Parteien nicht ignorieren, mögen sie derzeit in der Wählergunst auch noch so gut dastehen. Denn nur wer in den Wahlkreisen mit guten Teams an den Start geht, könnte gegen die politische Konkurrenz bestehen. Um es in den Worten aus dem Thesenpapier des LACDJ zu sagen: "Eine Partei könnte es sich nicht mehr leisten, einen so genannten "Besenstiel" aufzustellen, der dennoch gewählt wird, weil die Partei immer gewählt wird."
Zugleich würde damit die Stellung des einzelnen Abgeordneten gestärkt. Er würde sein Mandat nicht mehr in erster Linie der Partei, sondern dem Wähler verdanken. Ihm gegenüber müsste er sich immer wieder aufs Neue rechtfertigen, weil dieser auch bei der nächsten Abstimmung wieder eine echte Wahl hätte.
Dass damit wohl zugleich auch das Ende der Fraktionsdisziplin eingeläutet würde, ist absehbar, aber weder rechtlich noch tatsächlich problematisch. Eher im Gegenteil. Je unabhängiger die Abgeordneten von Fraktionen und Parteien sind, umso mehr können sie ihr Handeln an den Vorgaben des Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ausrichten.
Zugleich wären die anstehenden Sachfragen in den Parlamenten parteipolitischen Erwägungen weitgehend entzogen und taktische Spielchen der Parteioberen zu Lasten des Volkes in den Fraktionen kaum mehr durchsetzbar. Dass dies nicht zu Instabilität führt, beweisen die vielen Gruppierungen in den Kommunalparlamenten, bei denen Fraktionsdisziplin schon heute ein Fremdwort ist.
Ein schöner Traum
Insgesamt ist der Vorschlag des LACDJ also durchaus zukunftsweisend. Es ist mutig, ihn in die politische Diskussion zu werfen – zumindest für den Arbeitskreis einer Partei.
Nicht zu übersehen ist allerdings, dass er bisher noch einige Detailfragen offen lässt. Zudem würde es bei Umsetzung des Entwurfs des Arbeitskreises für neue Parteien noch schwieriger, sich zu etablieren. Gerade während der Aufbauphase würden sie kaum genügend Kandidaten finden, um in jedem Wahlkreis eine "Dreier-Liste" aufzustellen. Dieses Problem ließe sich aber dadurch lösen, dass man die ohnehin absurd hohe Zahl an Abgeordneten im Bundestag und auf Länderebene massiv reduziert. Dies würde auch den Bedarf an Bewerbern entsprechend verringern.
Es ist allerdings sehr unwahrscheinlich, dass in Deutschland jemals ein solches System etabliert wird. Die notwendigen gesetzlichen Änderungen müssten genau die Abgeordneten beschließen, die ihr Mandat durch das derzeitige System erlangt haben. Und wer sägt schon gerne den Ast ab, auf dem er so gemütlich im Parlament sitzt?
Der Autor Prof. Dr. Arnd Diringer lehrt an der Hochschule Ludwigsburg und leitet dort die Forschungsstelle für Personal und Arbeitsrecht. Er ist selbst Mitglied im LACDJ, war aber weder an dem dargestellten Beschluss beteiligt, noch ist er in sonstiger Weise dort aktiv.
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Arnd Diringer, Neues Landtags-Wahlsystem: . In: Legal Tribune Online, 04.01.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5209 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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