Nach grün-rotem Wahlsieg : Stuttgart 21 zwischen Volkes Wille und Vertrag

Die kommenden Regierungsparteien in Baden-Württemberg wollen den Dauerstreit um den Stuttgarter Hauptbahnhof direkt vom Volk entscheiden lassen. Zur Abstimmung stehen soll die mit der Deutschen Bahn vereinbarte Finanzierungshilfe für das Bauprojekt. Sebastian Roßner über eine juristische Premiere und die schwierige Frage der Balance zwischen Demokratie und Vertrauensschutz.

In der ersten Maihälfte wird der neue Landtag von Baden-Württemberg voraussichtlich Winfried Kretschmann zum neuen Ministerpräsidenten wählen. Eines der zentralen Probleme seiner grün-roten Landesregierung wird der geplante neue Bahnhof in der Landeshauptstadt sein. Während die Grünen klar gegen den Bahnhof Stellung bezogen haben, gehörte die SPD ursprünglich zu den Stuttgart 21-Befürwortern.

Damit die neue Koalition nicht gleich an diesem heiklen Punkt scheitert, haben sich die Parteien zum Rückgriff auf die basisdemokratischen Instrumente der Landesverfassung entschlossen, um die unliebsame Entscheidung gleichsam outzusourcen: Neben der Gesetzgebung durch das Parlament besteht die Möglichkeit der Volksgesetzgebung mittels Volksentscheid, Art. 59, 60 der Landesverfassung Baden-Württemberg (LV).

Zwar hat ein durch das Volk verabschiedetes Gesetz rechtlich gesehen keinen höheren Rang als ein Gesetz des Landtages. Politisch genießt das Votum der Bürger allerdings höchste Autorität und scheint so geeignet, einen Schlussstrich unter den leidigen Bahnhofsstreit zu ziehen.

Kein Ausschluss der Volksabstimmung wegen thematischer Sperre

Zu der angestrebten Volksabstimmung führen grundsätzlich drei Wege:

  • Ein Gesetzesentwurf wird im Wege des Volksbegehrens von einem Sechstel der Wahlberechtigten unterstützt. Der Landtag nimmt den Entwurf nicht an. Es kommt zur Volksabstimmung über den Gesetzesentwurf, Art. 60 Abs. 1 S. 1 LV.
  • Die Landesregierung kann ein vom Landtag beschlossenes Gesetz auf Antrag eines Drittels der Landtagsabgeordneten zur Volksabstimmung bringen, Art. 60 Abs. 2 S. 1 LV.
  • Die Landesregierung kann eine eigene Gesetzesvorlage, die im Landtag abgelehnt wurde, auf Antrag eines Drittels der Landtagsmitglieder zur Volksabstimmung bringen, Art. 60 Abs. 3 LV.

Ein Volksbegehren ist aufwendig und wurde bezeichnenderweise trotz der Proteste um Stuttgart 21 bisher nicht angestrengt. Die beiden anderen Wege sind weniger steinig, zielen aber eigentlich auf Situationen, in denen ein Dissens zwischen Regierung und Landtagsmehrheit vorliegt, etwa auf die Konstellation einer Minderheitsregierung.

Spätestens seit der Auflösung des Bundestages 2005 nach einem "fingierten" Misstrauensvotum gegen Gerhard Schröder ist allerdings durch das Bundesverfassungsgericht geklärt, dass es für die Feststellung des Misstrauens auf das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten und eben nicht auf ihre kaum zu erforschenden persönlichen Motive für die Entscheidung ankommt. Dieses Argument gilt auch hier. Die neue Landesregierung kann daher grundsätzlich den Weg über Art. 60 Abs. 2 oder Abs. 3 LV nehmen, um zu einer Volksabstimmung zu gelangen.

Allerdings sind Volksabstimmungen nach Art. 60 Abs. 6 LV thematisch beschränkt: Sie dürfen unter anderem nicht zum Haushaltsgesetz duchgeführt werden. Dahinter steht die Überlegung, dass der Landeshaushalt zu komplex ist, um ihn sinnvollerweise zum Gegenstand einer Abstimmung durch das Volk zu machen.

Ein Ausstieg des Landes aus der Finanzierung von Stuttgart 21 hätte zwar Auswirkungen auf den Haushalt, allenfalls jedoch in Form einer Ausgabensenkung. Dabei belasten kostensenkende Maßnahmen die komplizierte Statik des Haushalts nicht, sondern schaffen im Gegenteil finanzpolitische Spielräume. Die geplante Volksabstimmung kann daher vermutlich über die verfassungsrechtliche Hürde von Art. 60 Abs. 6 LV springen.

Kündigung der S-21-Verträge bei wesentlicher Änderung der Verhältnisse möglich

Die spannendste Frage bei einem Finanzierungsausstieg des Landes ist aber eine andere: Kann sich das Land mittels Gesetz aus einer zuvor eingegangenen vertraglichen Bindung zu lösen? Dabei geht es um den Konflikt zwischen dem politischen Gestaltungsrecht einer neuen demokratischen Mehrheit auf der einen und dem Vertrauen auf den Bestand des Vertrages auf der anderen Seite.

Maßstäbe für die Beantwortung der Frage finden sich im Verfassungsrecht: Das Demokratieprinzip (Art. 23 Abs. 1 LV oder Art. 20 Abs. 1 Grundgesetz) garantiert das fundamentale Recht einer neuen demokratischen Mehrheit, von den Entscheidungen alter Mehrheiten abzuweichen. Dieser Garantie steht der Grundsatz des pacta sunt servanda gegenüber: Eine Verfassungsordnung, die die Vertragsfreiheit schützt, muss auch das Vertrauen in den geschlossenen Vertrag schützen.

Wie können nun Demokratie und Vertrauensschutz im Fall von Stuttgart 21 vereinbart werden? Ein  Rechtsgutachten der Staatsrechtler Joachim Wieland und Georg Hermes für die SPD-Landtagsfraktion weist auf eine denkbare Lösung hin: Falls im Wege der Volksabstimmung ein Gesetz zustande kommt, das vorschreibt, alle Möglichkeiten zum Ausstieg aus der Finanzierung von Stuttgart 21 auszuschöpfen, kann das Land Baden-Württemberg die Finanzierungsverträge nach § 60 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz für Baden-Württemberg kündigen. Diese Vorschrift berechtigt zur Vertragskündigung, falls sich seit Vertragsschluss die Verhältnisse wesentlich geändert haben und eine Vertragsanpassung nicht in Betracht kommt.

Rechtliche Fragen mit großer Bedeutung für die Zukunft

Als eine solche Änderung der Verhältnisse käme dann die Ablehnung des Bauvorhabens durch das gesetzgebende Volk in Betracht, die in einem Ausstiegsgesetz zum Ausdruck kommt. Der Haken an dieser Konstruktion ist, dass sich das Land mit einem Ausstiegsgesetz selbst den Kündigungsgrund schaffen würde. Diese Kröte würden die Gerichte aber eventuell schlucken, wenn dadurch jedenfalls dem Demokratieprinzip zur Geltung verholfen und gleichzeitig das enttäuschte Vertrauen des Vertragspartners Deutsche Bahn entschädigt wird.

Alternativ könnte ein Ausstiegsgesetz auch den geschlossenen Finanzierungsvertrag unmittelbar rückwirkend aufheben. Dies ist grundsätzlich möglich, da Verträge dem Vorrang des Gesetzes unterliegen. Allerdings läge hier ein Fall der so genannten unechten Rückwirkung vor, die unzulässig ist, falls das Vertrauen in den Fortbestand einer Regelung gegenüber dem öffentlichen Interesse an ihrer Aufhebung überwiegt. Auch in dieser Konstellation wäre eine Entschädigung der Deutschen Bahn wohl Voraussetzung, um dem Vertrauen der Bahn Genüge zu tun und so aus der Finanzierung von Stuttgart 21 aussteigen zu können.

In beiden Ausstiegsvarianten muss also eine Entschädigung gezahlt werden. Ihr Umfang ist schwer zu bestimmen, wird sich aber an den von der Bahn bisher in Stuttgart 21 investierten Mitteln orientieren. Immerhin: Die Entschädigung kann dabei nicht höher ausfallen, als die im Finanzierungsvertrag ursprünglich durch das Land zugesagte Summe. Wahrscheinlich wird sie erheblich darunter liegen.

Bei allen politischen und juristischen Mühen, die der Ausstieg aus der Finanzierung von Stuttgart 21 verursacht, darf man eines nicht aus dem Auge verlieren: Es geht um die Klärung von Fragen, die für die Zukunft von großer Bedeutung sein können. Auch die im vergangenen Herbst eingeleitete und jetzt wieder abgeblasene Laufzeitverlängerung für die deutschen Atommeiler geht zurück auf einen Vertrag zwischen der Bundesregierung und den vier Stromriesen RWE, EON, EnBW und Vattenfall. Das rechtliche Grundproblem ist dasselbe.

Der Autor Dr. Sebastian Roßner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Heinreich-Heine-Universität Düsseldorf.

 

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Zitiervorschlag

Sebastian Roßner, Nach grün-rotem Wahlsieg : . In: Legal Tribune Online, 04.04.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2942 (abgerufen am: 22.11.2024 )

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