Beim Abschuss einer Malaysia-Airlines-Maschine 2014 starben 298 Menschen. Am Montag begann der Prozess gegen vier russische Beschuldigte – in deren Abwesenheit. Eike Fesefeldt über eine ungewöhnliche Prozesssituation.
Vor dem Den Haager Gericht "Rechtbank 's-Gravenhage" hat am Montag der niederländische Prozess des Jahres begonnen. Aus logistischen Gründen findet dieser in Amsterdam statt, allerdings ohne die Angeklagten. Der Prozess wirft die Frage auf, inwieweit derartige In Absentia-Verfahren bei schwersten Verbrechen durchführbar sind.
Das Gericht tagt in dieser Rechtssache ausnahmsweise neben dem Amsterdamer Flughafen, in einem hochmodernen Justizkomplex (Justitieel Complex Schiphol) unweit von dem Ort, an dem Malaysia-Airlines-Flug 17 (MH-17) vor etwa sechs Jahren ihren schicksalshaften Flug antrat.
Der Flug MH-17 war ein Linienflug auf dem Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur. Am 17. Juli 2014 gegen 16.30 Uhr stürzte die Maschine ab. Alle 298 Insassen, darunter 80 Kinder und 15 Besatzungsmitglieder, kamen ums Leben. Neben vier Deutschen waren die meisten Opfer Niederländer, Malaysier und Australier. Diese drei Staaten, zusammen mit Belgien und der Ukraine, errichteten ein Joint Investigation Team (JIT). Nachdem die Errichtung eines UN-Tribunals am Veto von Russland scheiterte, entschloss sich die niederländische Staatsanwaltschaft (Openbaar Ministerie), die mutmaßlichen Täter in den Niederlanden vor Gericht zu stellen.
Nach fast fünf Jahren der Ermittlungen begann nun der Prozess gegen vier Beschuldigte – drei Russen und einen Ukrainer – wegen Mordes. Nach den Ermittlungsergebnissen soll eine russische Buk-Rakete das Flugzeug abgeschlossen haben. Dabei soll keiner der Angeklagten den Abschussknopf gedrückt haben, sondern eine übergeordnete Verantwortlichkeit als Hintermann treffen. Die vier Angeklagten waren zwar vorgeladen, aber gespannte Blicke auf die Anklagebank zeigten, dass sie zur Prozesseröffnung nicht erschienen und sich vermutlich in Russland oder der Ukraine aufhalten.
Besonderheiten im niederländischen Strafprozess
Das niederländische Hauptverfahren gleicht dem deutschen Strafprozess in vielerlei Hinsicht. Auch der MH-17-Prozess beginnt damit, dass die Namen der Angeklagten ausgerufen werden. Für gewöhnlich würde der Vorsitzende die Personalien des Angeklagten prüfen, ihn über seine Rechte aufklären und – nachdem die Anklage vom Staatsanwalt verlesen wurde – fragen, ob er sich zu den Vorwürfen äußern möchte. Danach folgt die Beweisaufnahme, es werden Zeugen oder Gutachter vernommen und Dokumente verlesen. Zum Schluss hat der Angeklagte das letzte Wort.
Ob es zu einem letzten Wort eines Angeklagten in diesem Prozess kommen wird, ist zweifelhaft. Da keiner der Angeklagten erschienen ist, prüft der Vorsitzende alleine, ob diese ordnungsgemäß geladen wurden. Die niederländische Strafprozessordnung kennt nur das Recht des Angeklagten, bei der Gerichtsverhandlung anwesend zu sein, aber keine derartige Pflicht. Nur einer der Anklagten lässt sich in dem MH-17-Prozess anwaltlich vertreten. Um die Angeklagten vorschriftsmäßig zu laden, nutzte das Gericht offizielle Rechtshilfegesuche an Russland. Die Angeklagten wurden sodann von russischen Gerichten geladen. Daneben, so berichtete es der Vorsitzende, wurden den Angeklagten die Anklagepunkte über verschiedene Social-Media-Kanäle wie Facebook, Skype, WhatsApp mitgeteilt.
Ein Fall kann in Abwesenheit des Angeklagten verhandelt werden, es sei denn, er wurde unsachgemäß vorgeladen. Lässt sich ein Angeklagter durch seinen Anwalt vertreten, wird sogar davon ausgegangen, dass der Prozess in Anwesenheit des Angeklagten stattfindet.
Das niederländische Parlament reagierte mit speziellen Regelungen um der internationalen Tragweite des Verfahrens gerecht zu werden. Bestimmte Prozesshandlungen können in englischer Sprache ermöglicht werden, zum Beispiel, damit die Angehörigen der Opfer unproblematisch angehört werden können. Darüber hinaus ist die Teilnahme den Angeklagten theoretisch mit Hilfe einer Videokonferenz möglich.
Historische und aktuelle Möglichkeiten in Deutschland
Der MH-17-Prozess ist für den deutschen Strafrechtler eine ungewöhnliche Prozesssituation. In § 285 Abs. 1 S. 1 Strafprozessordnung (StPO) steht wenig interpretierungswürdig: "Gegen einen Abwesenden findet keine Hauptverhandlung statt." Nach § 338 Nr. 5 StPO wäre es ein absoluter Revisionsgrund, wenn die Hauptverhandlung in – ungerechtfertigter – Abwesenheit des Angeklagten stattfindet.
Fremd sind strafprozessrechtliche Verfahren gegen Abwesende in Deutschland allerdings nicht. Im letzten Jahrhundert machte etwa das Befreiungsgesetz in Art. 36 (Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946) eine Verhandlung in Abwesenheit möglich, wenn es Anhaltspunkte dafür gab, dass der Betroffene die nationalsozialistische Gewaltherrschaft aktiv unterstützt hatte. Daneben sahen bis 1975 noch die §§ 279-282a StPO a.F. ein Strafverfahren gegen Abwesende vor. Die Ladung war dabei in mindestens einem öffentlichen Blatt bekannt zu machen. Nach § 282 StPO a.F. konnte das Gericht mit nicht anfechtbar Beschluss vorläufig einstellen, wenn es nicht möglich war, in Abwesenheit des Angeklagten weder Schuld noch Nichtschuld festzustellen. Erhalten blieb nur das – in der Praxis selten durchgeführte - Beweissicherungsverfahren in den §§ 285 ff. StPO, sowie die Vermögensbeschlagnahme (§§ 290 ff. StPO a.F.). Letzteres hat übrigens den Sinn, den abwesenden Beschuldigten zu veranlassen, sich dem Gericht zu stellen.
Auch besteht das Abwesenheitsverfahren mit der Möglichkeit der Vermögensbeschlagnahme fort. Danach kann die Staatsanwaltschaft mittels eines selbstständigen Verfahrens auch in Abwesenheit eines Beschuldigten etwa Tatbeiträge oder Wertersatz endgültig einziehen lassen. In solchen Fällen muss der Vorsitzende jedoch gemäß § 428 Abs. 2 S. 1 StPO einen Rechtsanwalt als Vertreter zu bestellen. Schließlich kann auch das Sicherungsverfahren (§§ 413-416 StPO) nach § 415 StPO in Abwesenheit des Beschuldigten stattfinden.
Bei schwersten Straftaten: Alternative auch für Deutschland
Ein MH-17-Prozess wie in den Niederlanden wäre nach derzeitiger Rechtslage in Deutschland jedoch unmöglich. In Deutschland hat sich in den 1970er Jahren die Erkenntnis durchgesetzt, dass im Interesse und zur Gewährleistung eines fairen und gerechten Strafverfahrens die Anwesenheit des Beschuldigten in der Hauptverhandlung von herausragender Bedeutung ist. Nur so kann die Richtigkeit seiner Angaben überprüft und mit denen des Tatopfers und anderen Zeugen verglichen werden. Dennoch stellt sich die Frage, ob bei schwersten Straftaten das Interesse der Allgemeinheit oder der Opfer auf ein strafprozessuales Urteil nicht höher zu bewerten ist.
Es hat die Niederländer überraschend getroffen, dass derart viele eigene Staatsbürger fernab der Heimat unter Umständen Opfer eines Kriegsverbrechens geworden sein könnten. Bei der Verfahrenseröffnung wies der Vorsitzende insbesondere auf diesen Umstand hin, wie auch darauf welches hohes Interesse der Prozess für die niederländische Nation als auch die internationale Gemeinschaft hat. Obwohl die Hauptschuldigen unerreichbar scheinen, ist man in den Niederlanden durch In-Absentia-Verfahren zumindest rechtlich gerüstet, um dennoch ein strafprozessuales Urteil herbeiführen zu können. Je größer die Tragweite des Unrechts, desto lauter ertönt der Ruf nach Gerechtigkeit.
Deutschen Strafgerichten würde in einer derartigen Situation indes kein solches Instrument vorliegen. Sie blieben im Zweifel stumm. Über eine Änderung der Rechtslage sollte daher nachgedacht werden. Bei der Umsetzung müssten dann allerdings genügend Restriktionen geschaffen werden, um eine ausufernde Strafverfolgung gegen Abwesende zu verhindern und insbesondere Gerichten nicht Hauptverfahren aufzudrängen, die absehbar kein Ergebnis herbeiführen können. Insoweit könnte eine ähnliche Norm wie der oben erwähnte § 282 StPO a.F. eingeführt werden.
Daneben könnte dies schon materiell geschehen, indem ein solches Verfahren nur für bestimmte Delikte genutzt werden darf. In Betracht kämen bestimmte Verbrechen aus der Aufzählung in § 100b Abs. 2 StPO, die sogenannten "besonders schweren Straftaten" (etwa Hochverrat, Gefährdung der äußeren Sicherheit, Bildung terroristischer Vereinigungen oder Straftaten aus dem Völkerstrafgesetzbuch). Was die praktische Durchführung angeht, könnte der deutsche Gesetzgeber von den Niederlanden lernen.
Der Autor Dr. Eike Fesefeldt arbeitet als Staatsanwalt. Er ist als Trial Lawyer vom Land Baden-Württemberg an den Internationalen Strafgerichtshof abgeordnet. Die in dem Text genannten Ansichten spiegeln alleine seine persönliche Meinung wieder.
Beginn des MH-17-Verfahrens in den Niederlanden: . In: Legal Tribune Online, 09.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40713 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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