Nach der Katastrophe bei der Loveparade 2010 wird das Sicherheitskonzept stark kritisiert, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung. Verantwortlich zeichnen möchte scheinbar niemand. Aber wer ist rechtlich gesehen verantwortlich, wenn hunderttausende Menschen feiern wollen? LTO sprach mit Martin Hortig.
LTO: Angehörige, Medien und auch Vertreter von Polizei und Sicherheitsbehörden fordern nach der Massenpanik mit mittlerweile 20 Toten und über 500 Verletzten lautstark, die Verantwortlichen in Haftung zu nehmen. Wie viel dieser Forderung ist Politik und wie viel tatsächlich juristisch haltbare Haftungsmöglichkeit?
Hortig: Die Frage, ob der Oberbürgermeister nicht die politische Verantwortung für das größte Veranstaltungsdesaster der jüngeren deutschen Geschichte übernehmen sollte, stellt sich unabhängig von der Frage nach juristischen Verantwortlichkeiten. Juristisch gesehen gibt es mehrere potentielle Verantwortungsträger, die zivil- und strafrechtlich haften können.
Zum einen der Veranstalter, die Lopavent GmbH mit ihrem Geschäftsführer Rainer Schaller. Auch eine Haftung der Stadtverwaltung, vertreten durch den Oberbürgermeister Adolf Sauerland, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen werden. Schließlich könnte auch eine Mithaftung der polizeilichen und zivilen Sicherheitskräfte in Betracht kommen, wenn es zutreffend sein sollte, dass trotz konkreter Hinweise ein ungeeignetes Sicherheitskonzept genehmigt und keine oder nur unzureichende Maßnahmen zu einer geordneten Evakuierung des Tunnels ergriffen wurden.
Juristisch spannend ist auch die Frage, ob auch der Eigentümer des Geländes haftet. Nach der VersammlungsstättenVO NRW könnte der Eigentümer als Betreiber der Veranstaltungsstätte auch für den geordneten Zu- und Abgang verantwortlich sein.
"Grundsätzlich hat der Veranstalter den Hut auf"
LTO: Wer ist rechtlich für die sichere und störungsfreie Durchführung von Großveranstaltungen verantwortlich?
Hortig: Grundsätzlich liegt die zivil-, straf- und öffentlichrechtliche Haftung beim Veranstalter. Dieser hat mit geeigneten Maßnahmen, z.B. Einlasskontrollen, Streckenführung und geschultem Sicherheits- und Rettungspersonal einen störungsfreien Veranstaltungsverlauf möglichst sicherzustellen.
Allerdings kann auch eine Mithaftung der Stadt Duisburg als Genehmigungsbehörde nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Wenn der Veranstalter die Auflagen und Nebenbestimmungen der von der Stadt erteilten Genehmigung eingehalten haben sollte und die Genehmigung auf zutreffenden Angaben des Veranstalters, insbesondere zur erwartenden Zuschauerzahl beruhte, dürfte die Frage einer Haftung der Stadt Duisburg als Genehmigungsbehörde in den Mittelpunkt rücken.
LTO: Kann der Veranstalter sich in irgendeiner Form exkulpieren? Also haftet er zum Beispiel für Subunternehmer?
Hortig: Im Gegensatz zum Betreiber einer Versammlungsstätte, der Garant für die Sicherheit der Besucher ist, kann eine Exkulpation des Veranstalters nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Allerdings sind die Anforderungen sehr hoch: der Veranstalter muss, am besten anhand von Dokumenten, nachweisen, dass er alle nach einer seriösen Planung erforderlichen und genehmigten Maßnahmen mit Hilfe von geschultem und eingewiesenen Personal/Subunternehmern eingeplant und umgesetzt hat oder der entstandene Schaden auf höhere Gewalt zurück zu führen ist.
LTO: Kann der Veranstalter durch allgemeine Geschäftsbedingungen wie die von Eintrittskarten bekannten Klauseln die Haftung ausschließen?
Hortig: Ein völliger Haftungsausschluss in Form von Allgemeinen Geschäftsbedingungen oder auf der Rückseite einer Eintrittskarte ist nach der mir bekannten Rechtsprechung nicht möglich.
Die Rechtsfolgen: Zivil-, Ordnungswidrigkeiten- und vielleicht auch Strafrecht
LTO: Wie sehen die Rechtsfolgen einer solchen Haftung aus?
Hortig: Grundsätzlich haften alle für den Schaden Verantwortlichen als Gesamtschuldner, das heißt der Geschädigte kann sich aussuchen, wen er von den Verantwortlichen auf Schadensersatz in Anspruch nimmt.
Der Veranstalter kann sich nur gegen die zivilrechtlichen Schadensfolgen versichern. Damit sind Schmerzensgeld- und Schadensersatzforderungen, z.B. der Krankenkassen für Behandlungskosten, für beschädigte Kleidung, für Umschulungsmaßnahmen bei gravierenden Körperverletzungen, Verdienstausfälle und dergleichen mehr versichert, sofern dem Veranstalter kein grob fahrlässiges oder vorsätzliches Verhalten nachgewiesen werden kann.
LTO: Nach Medienberichten soll die Deckungssumme der Versicherung der Veranstalterin Lopavent GmbH nur 7,5 Millionen Euro betragen.
Hortig: Wenn die Meldung zutreffen sollte, dass der Veranstalter, die Lopavent GmbH, nur mit einer Gesamtdeckungssumme von 7,5 Millionen Euro versichert ist, könnte angesichts von 20 Toten und über 500 Verletzten und einem daraus resultierenden wahrscheinlich zweistelligen Millionenschaden eine Unterversicherung vorliegen. Die Betroffenen würden von der Versicherung des Veranstalters nur anteilig entschädigt und müssen sich wegen ihrer restlichen Forderungen an den Veranstalter selbst, also die Lopavent GmbH und gegebenenfalls an weitere Verantwortliche wenden.
Parallel dazu besteht für die Verantwortlichen eine Haftung nach Ordnungswidrigkeiten- und Strafrecht. Hiergegen kann man sich nicht versichern, da der Haftantritt wie Hochzeit oder Testament bekanntlich zu den höchstpersönlichen Rechtsgeschäften gehört, bei denen man sich nicht vertreten lassen kann. Allenfalls kann eine Rechtsschutzversicherung die Kosten des Bußgeld- oder Strafverfahrens tragen, wenn keine vorsätzliche Tathandlung rechtskräftig festgestellt wird.
(Mit-)Haftung von Polizei und Stadtverwaltung ist möglich
LTO: Wenn nun der Veranstalter die Verantwortung für die ordnungsgemäße und störungsfreie Durchführung der Veranstaltung trägt, wieso beschuldigen sich in Duisburg Polizei und Stadt gegenseitig, Fehler gemacht zu haben und der Rücktritt des Oberbürgermeisters wird gefordert?
Hortig: Wie gesagt, eine (Mit-)Haftung von Polizei und Stadtverwaltung kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht völlig ausgeschlossen werden. Wahrscheinlich gibt es deshalb so widersprüchliche Angaben zu den Besucherzahlen auf dem Gelände und dem Weg dorthin.
LTO: Im Fokus steht eine von der Stadt Duisburg wohl erteilte "Nutzungsänderung" für das Bahnhofsgelände, die auf das Erfordernis von Rettungswegen verzichtet haben soll. Ist es überhaupt rechtlich möglich, auf Erfordernisse wie Rettungswege etc. zu verzichten?
Hortig: Nach mir vorliegenden Informationen soll angeblich nicht völlig auf Rettungswege verzichtet, es sollen aber wohl Rettungswege in nur geringerer Breite genehmigt worden sein. Diese Frage kann an dieser Stelle dahingestellt bleiben. Die Frage der Rettungswege wird in der VersammlungsstättenVO NRW ausführlich geregelt. Sollte das Veranstaltungsgelände dem Anwendungsbereich dieser Verordnung unterfallen, könnten abweichende Genehmigungen oder Nebenbestimmungen als vorsätzlich rechtswidriges Handeln zu qualifizieren sein. Wenn dann die Medienberichte noch zutreffen sollten, dass dieses "Sicherheitskonzept" von allen Beteiligten im Herbst 2009 wissentlich "abgenickt" worden wäre, würden solche Genehmigungen ein nur fahrlässiges Handeln eher unwahrscheinlich erscheinen lassen.
Zu hohe Besucherzahlen: Der Veranstalter in der Pflicht
LTO: Dieselbe "Nutzungsänderung" soll nach Medienberichten die maximal zulässige Teilnehmerzahl auf 250.000 beschränkt haben. Ungeachtet dessen, ob die von den Veranstaltern noch kurz vor der Katastrophe mitgeteilte Teilnehmerzahl von 1,4 Millionen zutreffend ist, dürften sich jedenfalls weit mehr als diese Zahl von 250.000 Personen auf dem Gelände befunden haben. Wer trägt die Verantwortung für die Einhaltung der Auflagen?
Hortig: Auch hinsichtlich dieser Frage liegen unterschiedliche Informationen vor. Angeblich soll die Zahl von 245.000 Besuchern nur Bestandteil einer Baugenehmigung sein, die für einen anderen Antragsteller und für eine andere Nutzung erteilt wurde. Ist dies zutreffend, kann diese Besucherzahl nicht einfach auf die Love Parade übertragen werden. Nicht zufällig spricht der Veranstalter davon, dass trotz wahrscheinlich 500.000 Besuchern noch Platz auf dem Gelände vorhanden gewesen sein soll.
LTO: Dennoch ist eine Überschreitung der maximal zulässigen Besucherzahl nicht unwahrscheinlich.
Hortig: Wenn die Veranstaltung tatsächlich mit einer maximalen Besucherzahl von weniger als 500.000 Besuchern genehmigt worden sein sollte, dann hätte der Veranstalter mit Einlasskontrollen die Höchstzahl der Besucher sicherstellen und weiteren Besuchern den Zugang zum Veranstaltungsgelände verweigern müssen.
LTO: Sind nicht auch Polizei und andere öffentliche Sicherheitskräfte in der Pflicht, die Einhaltung solcher öffentlichen Auflagen sicherzustellen und gegebenenfalls den Einlass weiterer, von der erteilten Genehmigung ersichtlich nicht gedeckter Personen zu verhindern?
Hortig: Grundsätzlich hat der Veranstalter "den Hut auf". Die Polizei kann erst bei einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus eigener Kompetenz eingreifen. Die Frage, wie die Zustände im und vor allem vor dem Tunnel zwischen Veranstalter, den von ihm eingesetzten Sicherheitskräften und der Polizei kommuniziert wurden, dürfte für die Feststellung der Haftung von Bedeutung sein. Offensichtlich hat ja jemand die Zustände vor Ort falsch eingeschätzt.
Ermittlungen wegen fahrlässiger Tötung
LTO: Was hat es zu bedeuten, dass die Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Tötung ermittelt?
Hortig: Für potentiell Verantwortliche stellen solche Ermittlungen meistens einen erheblichen Stressfaktor dar, auch wenn dies der Regelfall ist, wenn Menschen zu Tode kommen und die Möglichkeit besteht, dass das Verhalten Dritter für den Tod kausal gewesen sein kann.
Aber selbst wenn das Strafverfahren eingestellt werden sollte, bleibt noch die subsidiäre Vorschrift des § 130 OWiG, die das so genannte "Organisationsverschulden" für den Inhaber einer Betriebes oder öffentlichen Unternehmens mit einem Bußgeld von bis zu einer Millionen Euro ahndet.
Angesichts der zahlreichen, noch ungeklärten Umstände dürfte die Staatsanwaltschaft gute Gründe haben, derzeit in alle Richtungen zu ermitteln.
Rechtsanwalt Martin Hortig ist seit 10 Jahren Berater und Prozessvertreter für verschiedene Veranstaltungsfirmen und öffentliche Institutionen. Er ist Autor und Referent zu den Themen "Veranstaltungsrecht" und "Haftungsfragen bei Veranstaltungen", zuletzt auf der IMEX 2010 in Frankfurt/Main. Als Oberregierungsrat a.D., Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte und nicht zuletzt Mitveranstalter des Berliner Karnevalszuges (mit bis zu einer Millionen Zuschauern) verfügt er über Erfahrungen aus allen für einen Event maßgeblichen Blickwinkeln.
Das Interview führte Pia Lorenz.
Anm. d. Red.: Der Begriff der "Unterversicherung" wurde von unserem Interviewpartner Martin Hortig nach eigenen Angaben "untechnisch"gebraucht. Eine Unterversicherung existiert nur bei Sachversicherungen. Wir danken für den Hinweis eines Lesers.
Martin Hortig, Massenpanik bei der Loveparade: . In: Legal Tribune Online, 27.07.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1075 (abgerufen am: 19.11.2024 )
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