Die Strafjustiz scheint beim Einsatz arbeitssparender Erledigungsformen kaum noch Grenzen zu kennen. In der Einstellung des Ecclestone-Verfahrens liegt eine bedauerliche Abwendung von einer gesetzmäßig vorgehenden Strafjustiz, die absehbare Freisprüche klar ausspricht und nicht primär auf den Staatshaushalt schaut, meint Karsten Gaede.
Eine gerechte Strafjustiz bemüht sich, alle Angeklagten nach gleichen Maßstäben zu behandeln. Ohne Ansehung der Person prüft in unserem Rechtsstaat zunächst die Staatsanwaltschaft, ob der Vorwurf einer Straftat berechtigt ist. Hat der Vorwurf Hand und Fuß, muss das Gericht in einer öffentlichen Hauptverhandlung alle Beweise wägen und über Schuld und Strafe verbindlich entscheiden.
Da der Staat nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen darf, muss seine Strafjustiz verhältnismäßig agieren. Sie muss vor allem bei weniger schweren Vorwürfen bedenken, dass schon die oft langen und entbehrungsreichen Verfahren den Angeklagten belasten. Für weniger gewichtige Vorwürfe muss es deshalb einzelfallgerechte Lösungen geben. Auch die Masse der zu prüfenden Verdachtsfälle hält die Justiz dazu an, Strafverfahren gerade bei Bagatellen nicht stets bis zum Ende durchzuführen, um Ressourcen zu sparen.
Erledigung gegen Auflagen
Deshalb sieht die Strafprozessordnung in § 153a vor, dass das Gericht auch bereits angeklagte Fälle ohne ein abschließendes Urteil zu den Akten legen darf. Mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten kann das Gericht das Verfahren einstellen und dem Angeklagten statt einer förmlichen Strafe Auflagen und Weisungen erteilen.
So kann dem Angeklagten aufgegeben werden, den Schaden wiedergutzumachen und einen Geldbetrag zugunsten der Staatskasse zu zahlen. Eingestellt werden darf allerdings nur, wenn damit das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt werden kann und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht. Es darf deshalb nur um mittelschwere Tatvorwürfe gehen.
Diese Erledigungsform erspart der Justiz viel Arbeit. Sie steht aber seit langem in der Kritik: Durch eine immer weiter ausgedehnte Praxis bleibe die Aufklärung bedeutsamer Fälle auf der Strecke. Vor allem Täter und Teilnehmer von Wirtschaftsstraftaten kämen über § 153a "unangemessen gut davon".
Der Fall Ecclestone
Bernard Charles "Bernie" Ecclestone wurden besonders schwere Fälle der Bestechung und der Anstiftung zur Untreue vorgeworfen. Es ging primär um eine Bestechungszahlung an den früheren Vorstand der BayernLB Gerhard Gribkowsky in Höhe von etwa 44 Millionen US-Dollar. Der Bank soll durch eine überflüssige Provisionszahlung an Ecclestone in Höhe von mehr als 40 Millionen US-Dollar ein Schaden entstanden sein.
Ob diese Vorwürfe auf beweisbaren Tatsachen beruhen oder ob Ecclestone vielleicht auch freizusprechen war, wird das Landgericht (LG) München I nun nicht feststellen. Es hat sich vielmehr für eine Einstellung des Verfahrens nach § 153a StPO entschieden. Ecclestone hatte zunächst 25 Millionen Euro als Wiedergutmachung angeboten. Nach Verhandlungen mit der Staatsanwaltschaft will er nun 100 Millionen US-Dollar (rund 75 Millionen Euro) an die Staatskasse zahlen. Eine Million geht an eine Kinderhospizstiftung. Gericht und Staatsanwaltschaft nehmen an, dass damit das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung beseitigt ist und dass die Schwere von Ecclestones möglicherweise gegebener Schuld einer Einstellung nicht entgegensteht.
Ablasshandel für wohlhabende Manager?
Kauft sich hier ein schuldbeladener, sehr wohlhabender Manager vor einem deutschen Gericht frei?
Ganz so einfach ist es nicht. Zunächst hatte das Gericht Schwierigkeiten, Teile der Tatvorwürfe gegen Ecclestone zu beweisen. Stehen aber erhebliche Zweifel an den Tatvorwürfen im Raum, ist Ecclestone wie jeder andere vor dem Gesetz unschuldig. Auch ein Unschuldiger kann sich unter dem Druck des Strafverfahrens auf einen solchen Deal einlassen, damit er endlich vor der Strafjustiz Ruhe hat. Und leider enden Verfahren, in denen sich nach und nach zeigt, dass eine Verurteilung nahezu sicher nicht möglich sein wird, nicht zwingend mit einem Freispruch: Um nicht mit leeren Händen dazustehen, fordert so manche Staatsanwaltschaft weiter mit Erfolg Auflagenzahlungen.
Aber auch dann, wenn die Münchener Justiz nach der Beweisaufnahme weiter Grund zu der Annahme hat, dass sich Ecclestone schuldig gemacht haben könnte, steht hinter der Zahlung nicht zwingend nur ein Ablasshandel. Die hohen Bestechungs- und Schadenssummen sprechen zwar klar dafür, dass es hier um besonders schwere Fälle der Bestechung und der Untreue geht. Sollte die Strafjustiz aber etwa glauben, dass Ecclestone lediglich gehandelt hat, weil ihn Gribkowsky intensiv zur Tat gedrängt hat, wäre seine persönliche Schuld deutlich geringer. Offenbar sind Tatvorwürfe teilweise entfallen. Ecclestone könnte insgesamt nur eine mittelschwere Schuld vorzuwerfen sein, die auch im Hinblick auf sein hohes Alter eine verhältnismäßig milde Reaktion gestattet.
Überdehnung des Gesetzes
Was aber verlangt unsere Justiz nun von Ecclestone? Sie will neben der Schadenswiedergutmachung rund 75 Millionen Euro einnehmen. Spätestens hier versagt die Suche nach Argumenten, die diese Erledigung des Falls noch als gesetzmäßig und gerecht ausweisen könnten. Wenn wir davon ausgehen, dass die Schuld Ecclestones nicht allzu schwer ist, darf der auf Verhältnismäßigkeit verpflichtete deutsche Staat auch nur mit maximal mittelschweren Rechtsfolgen reagieren.
§ 153a StPO soll höchstens mittelschwere Kriminalität erfassen. Dann dürfen die belastenden Rechtsfolgen, die diese Vorschrift ermöglicht, auch nicht das Maß dessen übersteigen, was bei einer allenfalls mittleren Schuld nach einem Strafurteil als Sanktion zulässig gewesen wäre. Zum Vergleich: Ein Gericht hätte auch den wohlhabenden Ecclestone nach einem umfassenden Nachweis mehrerer Taten in der Hauptverhandlung höchstens zu 21,6 Millionen Euro Geldstrafe verurteilen dürfen. Auch wenn wir ebenso die Freiheitsstrafe kennen, zeigt schon dies, dass 75 Millionen Euro zu einer maximal mittelschweren Schuld außer Verhältnis stehen. Geht die Justiz aber von einer Schuld aus, die 75 Millionen Euro rechtfertigt, hätte sie sich dem "Deal nach § 153a" verweigern müssen.
Anderes gilt nicht deshalb, weil sich das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung nur durch die Zahlung von 75 Millionen Euro beseitigen ließ. Das öffentliche Interesse an einer Verfolgung dürfte hier zwar in der Tat beträchtlich sein, weil es um sehr hohe Summen und um eine Landesbank geht. Wenn aber tatsächlich nur ein so hoher Betrag nötig ist, wird abermals deutlich, dass sich die Justiz geradezu in der Oktave vergreift. Bei diesen Summen muss es sich um einen gravierenden Kriminalfall mit einem exorbitanten Präventionsbedarf handeln.
Fiskalisierung als Verlust von Rechtskultur
Warum sieht die Münchner Justiz das anders? Diese Frage lässt den aufmerksamen Betrachter etwas ratlos zurück. Bei der Ausdehnung des § 153a scheint nun jedes Maß verloren. Damit wird der Ruf nach einer Abschaffung dieser grundsätzlich akzeptablen Vorschrift wieder lauter werden. Es entsteht der Eindruck, Staatsanwaltschaften würden vor allem versuchen, ein möglichst vorzeigbares Ergebnis zu erzielen, das Einnahmen in die Staatskasse spült. Das kommt einer Fiskalisierung des Strafverfahrens gleich. Schuld oder Unschuld sind uns dagegen nicht mehr so wichtig.
Die Rekordzahlung stellt alles vorher Dagewesene in den Schatten. Sie eröffnet ganz neue Möglichkeiten. Dazu passt es, dass eine deutsche Staatsanwaltschaft im großen Gerichtshowdown "Staat gegen Ecclestone" gegenüber einem Briten auch noch gezielt die US-Währung vorzieht, um den optisch größeren Erfolg einer dreistelligen Millionensumme vermelden zu können.
Diese Praxis mag angloamerikanische Strafverfahren prägen. Für unser Recht stellen solche Prozesse einen Verlust an Rechtskultur dar. Einmal mehr bleibt ein gewichtiger Fall der Wirtschaftskriminalität unaufgeklärt. Möglicherweise konnte sich Ecclestone tatsächlich von einer Schuld freikaufen. Die vielleicht gerade in seinem vollständigen Freispruch liegende Tataufklärung bleibt aus.
Setzt sich die Münchner Praxis als neues Leitbeispiel durch, müssten Angeklagte in Zukunft vermehrt Staatsanwaltschaften und Gerichte fürchten, die nach den Gesetzen des Basars agieren. Die Zahlungsauflagen würden nicht mehr durch die Schwere der Schuld begrenzt. Sie würden auch nicht mehr nach dem öffentlichen Interesse an der Strafverfolgung bemessen, das tatsächlich auf eine Tataufklärung gedrängt hätte. Maßgeblich wäre, auf welchem Wege bei dem Angeklagten für den Staat mehr zu holen ist.
Der Autor Prof. Dr. Karsten Gaede ist habilitierter Juniorprofessor an der Bucerius Law School in Hamburg für deutsches und europäisches Straf- und Strafprozessrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachpublikationen zum Strafverfahrensrecht und zum Wirtschaftsstrafrecht.
Prof. Dr. jur. Michael Kubiciel, Pro & Contra Einstellung des Ecclestone-Prozesses: . In: Legal Tribune Online, 05.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12799 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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