Ein Häftling fährt bei einem Ausgang eine Frau zu Tode. Die für seine Justizlockerung Verantwortlichen werden vom LG Limburg zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Eine Entscheidung mit Signalwirkung, meint Marc Arnold.
Im Dezember 2015 verurteilt das Landgericht (LG) Limburg einen damals 45-jährigen Mann wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe (Urt. v. 18.12.2015, Az. 3 Js 5105/15 - 2 Ks). Er fuhr auf der Autobahn in entgegengesetzter Richtung, baute einen Unfall, in dessen Folge eine junge Frau verstarb.
Ein tragischer, aber letztlich ein Fall für die Nachrichtenspalte, wäre der Fahrer nicht zum Tatzeitpunkt Strafgefangener in einer rheinland-pfälzischen Justizvollzugsanstalt (JVA) gewesen und hätte sich nicht während eines Ausgangs auf der Flucht vor der Polizei befunden, die ihn wegen seiner Fahrt in einem Fahrzeug mit gestohlenen Kennzeichen verfolgte.
Das Gericht verneinte damals die besondere Schwere der Schuld des Flüchtigen, sah aber eine staatliche Mitverantwortung bei den Entscheidungsträgern des Justizvollzuges und den verfolgenden Polizisten.
In der Folge kam es am 7. Juni 2018 zum nächsten Urteilsspruch: Zwei Justizvollzugsbeamte ‒ ein Abteilungsleiter sowie eine stellvertretende Anstaltsleiterin ‒ wurden wegen fahrlässiger Tötung zu Bewährungsstrafen von jeweils neun Monaten verurteilt. Die getroffenen Lockerungsentscheidungen seien laut Pressemitteilung des LG Limburg "unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt vertretbar" gewesen.
24 Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis
Müssen Entscheider in den JVA nun selbst befürchten, auf der Anklagebank zu sitzen? Dafür müssen die Umstände des Falles zunächst näher betrachtet werden:
Am 26. August 2013 stellte sich der Verurteilte auf die Ladung zum Strafantritt hin selbst in einer JVA. Er hatte zu diesem Zeitpunkt bereits drei Freiheitsstrafen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu verbüßen, zum Teil nach Bewährungswiderrufen. In der Folgezeit zeigt er sich reumütig und willens, etwas an seinem Leben zu ändern.
Eine kluge Entscheidung, die bitter nötig ist: Denn sein Bundeszentralregisterauszug weist bereits seit den 80er Jahren 24 Verurteilungen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis auf. Dabei handelt es sich nach der bundesweiten Legalbewährungsstudie von Jehle u. a. um ein Delikt mit einer sehr hohen Rückfallquote. Am 15. Juli 2013, also kurz vor seiner Inhaftierung, wird er verurteilt, weil er ohne Fahrerlaubnis unterwegs war und im Rahmen einer Verfolgungsfahrt mit der Polizei auf eine Beamtin zufuhr. Verletzt wurde dabei jedoch niemand.
Zudem steht, so behauptet es jedenfalls der Gefangene, seine Ehe auf dem Spiel. Weitere Gesetzesüberschreitungen werde seine Frau nicht tolerieren. Ein Abteilungsleiter der JVA vermerkt hingegen in der Gefangenenpersonalakte, der Gefangene tendiere dazu, seine Straftaten zu bagatellisieren.
Vollzugslockerung "objektiv willkürlich und unvertretbar"?
Nach der üblichen Beratung in einer Konferenz wird entschieden, den Gefangenen in den offenen Vollzug zu verlegen. Dort verhält er sich unauffällig, hält sich an alle Absprachen und Weisungen, fällt noch nicht einmal mit unerlaubtem Alkoholkonsum auf. Schließlich wird er nach einigen Monaten zum Freigang zugelassen, darf also außerhalb der Anstalt arbeiten. Ein Kollege holt ihn hierfür morgens zur Arbeit ab und fährt ihn nach der Arbeit zurück in die Anstalt. Schließlich soll verhindert werden, dass der Gefangene sich wieder selbst hinter ein Steuer setzt.
Am 13. Januar 2015 meldet er sich in einer Fahrschule an. In einer Anhörung hat die Richterin dies zur Voraussetzung für eine vorzeitige Entlassung gemacht. 14 Monate lang kommt es zu keinerlei Beanstandungen. Was der Vollzug jedoch nicht weiß: Im Rahmen von Ausgängen fährt der Gefangene immer wieder unerlaubt mit einem Auto.
Um seinen gelockerten Haftstatus nicht zu verlieren, drückt er aufs Gaspedal, als die Polizei ihn wegen der gestohlenen Kennzeichen kontrollieren will. Es kommt zu dem geschilderten Todesfall. Das LG Limburg stellt später fest, die Entscheidung, den Gefangenen in den offenen Vollzug zu verlegen, sei, "objektiv willkürlich" und "unvertretbar" gewesen. Es sei "klar" gewesen, dass der Gefangene bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit wieder selbst fahren würde.
Eine Entscheidung, die auf massive Kritik stößt: Gewerkschaftsvertreter prophezeien das "Aus" für den offenen Vollzug, auch der Dienstvorgesetzte der verurteilten JVA-Mitarbeiter hält das Urteil für falsch.
Bei jeder Lockerungsentscheidung müssen die Entscheidungsträger des Strafvollzuges prüfen, ob Flucht- oder Missbrauchsgefahr bestehen. Restrisiken muss die Gesellschaft dabei in Kauf nehmen. So sagt es die ständige Rechtsprechung auf allen Ebenen (vgl. nur BVerfG, NJW 1998, 2202 ff.). § 45 Abs. 2 des Landesjustiz-vollzugsgesetzes Rheinland-Pfalz sieht sogar ausdrücklich vor, dass die Gefangenen in Lockerungen "erprobt" werden sollen. In jeder Erprobung und jeder Prognoseentscheidung ist schon begrifflich ein Wagnis zu erblicken.
Privilegierung für den Vollzug schaffen
Der Täter ist kein Drogenabhängiger, das begangene Delikt eher als niedrige Kriminalität einzustufen. Zudem lebt er in fester Beziehung, hat keine offenen Ermittlungsverfahren und keine Abschiebung zu erwarten. Dazu noch ein beanstandungsfreies Vollzugsverhalten und die Bereitschaft, in Haft einen Führerschein zu erwerben. Mit anderen Worten: Ein klassischer Kandidat für den offenen Vollzug.
Das würde wohl jeder unterschreiben, der selbst schon einmal eine Lockerungsentscheidung getroffen hat – und sich nun möglicherweise auf der Anklagebank wiederfinden würde. Denn wer kann schon dafür garantieren, dass ein Straftäter keine erneute Straftat begeht? Ist bei jemandem, der wegen zwar gefährdenden Straßenverkehrsdelikten vorbestraft ist, tatsächlich ein vorsätzliches Tötungsdelikt zu erwar-ten?
Was ist eigentlich mit dem Richter, der einen Gefangenen vorzeitig auf Bewährung entlässt und der unter laufender Bewährung einen Mord begeht? Ihn schützt das Richterprivileg. Er kann – zu Recht – nur belangt werden, wenn seine Entscheidung zugleich eine (vorsätzliche) Rechtsbeugung (§ 339 StGB)* darstellt. Es sollte darüber nachgedacht werden, eine ähnliche Privilegierung auch für den Vollzug zu schaffen.
Schließlich arbeiten dort alle Mitarbeiter im Interesse der Rechtsgemeinschaft gemeinsam daran, die dort einsitzenden Straftäter zu einem Leben ohne Straftaten zu befähigen. Nahezu jeder Gefangene wird wieder entlassen und könnte damit in die eigene Nachbarschaft ziehen. Dazu müssen gerade im Rahmen von Lockerungsentscheidungen zwangsläufig Risiken eingegangen werden. Denn in purer Isolation von der realen Welt wird kein Mensch "gebessert" – das wusste schon Gustav Radbruch.
Revision angekündigt
Wie geht es weiter? Das Urteil gegen die Vollzugsbeamten ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidiger haben bereits angekündigt, Revision einzulegen. Auch das rheinland-pfälzische Justizministerium hält sich bislang mit der Einleitung von Disziplinarverfahren gegen seine Beamten zurück.
Beschlossen hat die Landesregierung dagegen, ohne ausdrückliche Bezugnahme auf den vorliegenden Fall, aber nur fünf Tage nach dem Urteil, eine "klarstellende" Gesetzesänderung: Danach soll dem "Verhalten und der Entwicklung […] während der Haft […] größeres Gewicht zukommen als [den] Umständen, die bereits Gegenstand der Verurteilung waren." Ob diese Klarstellung ausreicht, um zu verhindern, dass sich der bereits seit fast zwei Jahrzehnten andauernde Negativtrend sinkender Lockerungszahlen fortsetzt, erscheint fraglich. Im Justizvollzug überwiegt schließlich ohnehin das Risikovermeidungsdenken.
Den Mut der Entscheidungsträger, Strafgefangenen im Rahmen von Lockerungen zu ermöglichen, wieder in das Leben in Freiheit eingegliedert zu werden, hat die Entscheidung aus Limburg jedenfalls nicht gefördert. Wer will schon seinen Job und damit letztlich auch seine Hausfinanzierung für einen Straftäter aufs Spiel set-zen?
Sollte das Urteil rechtskräftig werden, könnte dies wahrlich das faktische Aus für den offenen Vollzug und für Lockerungen bedeuten.
Der Autor Dipl.-Jur. Marc Arnold, MLE. ist Doktorand an der Georg-August-Universität Göttingen bei Prof. em. Dr. Dr. h. c. Jörg-Martin Jehle und Vollzugsabteilungsleiter in der JVA Lübeck.
* Falsche Zahl wurde korrigiert (29.06.2018, 12.07 Uhr)
Haftstrafe zur Bewährung für JVA-Mitarbeiter: . In: Legal Tribune Online, 29.06.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/29453 (abgerufen am: 24.11.2024 )
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