Die "Scharia-Polizei" in Wuppertal schürt die Angst vor einer Paralleljustiz in Deutschland. Im staatlichen Strafverfahren berufen nicht-christliche Straftäter sich auf ihren Glauben, rechte Gewalt soll künftig härter bestraft werden. Djt-Gutachterin Tatjana Hörnle will aber weder mit islamischen Friedensrichtern kooperieren noch sich um kulturelle Prägung oder rechtsradikale Gesinnung kümmern.
LTO: Frau Professor Hörnle, das Thema Ihres Gutachtens für den 70. Deutschen Juristentag (djt), der in der kommenden Woche in Hannover stattfindet, lautet "Kultur, Religion, Strafrecht – Neue Herausforderungen in einer pluralistischen Gesellschaft". Eine der Herausforderungen, über welche Sie in der Abteilung Strafrecht diskutieren werden, ist die sogenannte Paralleljustiz. Beweisen die jüngsten Vorfälle in Wuppertal, dass es eine solche längst gibt? Hat Deutschland sie verschlafen?
Hörnle: Die gerade viel Aufmerksamkeit findenden Vorfälle in Wuppertal sind atypisch. Bei diesen ging es um Provokation und öffentlichkeitswirksame Werbung für extremistische Gruppen. Typischerweise schottet das Phänomen der Paralleljustiz sich aber ab, es findet jenseits der Wahrnehmung der Öffentlichkeit statt.
Von Paralleljustiz sprechen wir, wenn selbsternannte Richter, vor allem die sogenannten Scharia-Gerichte, im Zusammenwirken mit betroffenen Parteien unter bewusster und systematischer Umgehung der staatlichen Justiz Delikte ahnden, Schadensersatz festsetzen und Forderungen vollstreckten. Solche nichtstaatlichen Schlichter treffen auch Regelungen für andere Probleme wie etwa Ehe- oder Familienkonflikte, die sonst Straf- oder Zivilgerichte beschäftigen würden.
Länder aus dem englischsprachigen Rechtskreis erkennen Urteile von religiösen Schiedsgerichten zu familienrechtlichen Fragen teilweise an. Für Deutschland gibt es Erfahrungsberichte, die sich auf einzelne Gruppen von Migranten in Berlin und Bremen beziehen. Dort scheinen einflussreiche Individuen als Streitschlichter zu agieren, die innerhalb der Gruppe genügend Autorität genießen, um "Urteilen" Geltungskraft zu verschaffen. Verlässliche Zahlen zur Intensität solcher Aktivitäten gibt es allerdings nicht.
"Paralleljustiz zeigt tiefes Misstrauen – auch gegenüber der Gesellschaft"
LTO: Experten wie Michael Rosenthal, der ebenfalls beim djt referiert, halten eine Paralleljustiz in diesem Sinne nicht für per se schädlich, sofern sie sich nicht als Selbstorganisation einer Minderheit, sondern als bloße Streitschlichtung in Ergänzung des förmlichen Justizverfahrens begreife. Wie sehen Sie das?
Hörnle: Versuche, Konflikte ohne Inanspruchnahme der Justiz zu regeln, sind nicht per se zu beanstanden. Aber Probleme treten etwa dann auf, wenn es um Delikte geht, die einen staatlichen Strafanspruch ausgelöst haben. Die sogenannte Privatstrafe ist ebenso abzulehnen wie eine vollkommene Disposition des Tatgeschädigten über die Reaktion auf eine Straftat. Strafe dient zwar den Interessen konkreter Tatopfer, hat aber auch generalpräventive Funktionen.
Außerdem ist sowohl bei strafrechtlich als auch bei zivilrechtlich zu beurteilenden Vorfällen Paralleljustiz deshalb problematisch, weil ihre Akteure systematisch und anhaltend vorgehen. Diese systematische Umgehung des deutschen Rechtssystems zeigt tiefgehendes Misstrauen – mittelbar auch gegenüber der deutschen Gesellschaft. Das ist Grund zur Beunruhigung.
Außerdem bedeutet eine Rückverlagerung von Rechtsprechung und Vollstreckung solcher "Urteile" auf machtvolle Privatpersonen einen Rückschritt. Dass moderne Staaten ihre Verfahren und die Vollstreckung ihrer Urteile durch eine Fülle von prozeduralen Normen gestalten und ihr Justizpersonal in umständlicher Weise ausbilden, hat ja gute Gründe: Diese Maßnahmen sollen Willkür, Machtausübung und Ignoranz verhindern und gewährleisten, was wir "rechtsstaatliche Standards" nennen. "Paralleljustiz" kennt solche Sicherungsmechanismen nicht.
LTO: Was empfehlen Sie, um Parallelgesellschaften zu begegnen – vor allem solchen, die sich dem Leitwert der Ehre verpflichtet sehen?
Hörnle: In erster Linie handelt es sich um ein soziales Problem, mein Fachwissen erstreckt sich nicht darauf, ob und gegebenenfalls wie Parallelgesellschaften aufzulösen wären. Für das Rechtssystem müssen wir uns fragen, wie wir mit Ergebnissen der Paralleljustiz umgehen wollen- soweit wir von diesen überhaupt erfahren.
Um den Rechtsstaat zu verteidigen und systematisch betriebene Aktivitäten einer Paralleljustiz zu verhindern, dürfte es naheliegen, jegliche Form des "Andockens" und der Kooperation abzulehnen. Das könnte zum Beispiel heißen, dass wir Übereinkünfte, die unter Mitwirkung von in der Regel muslimischen sogenannten Friedensrichtern zustande gekommen sind, im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs nach § 46a Strafgesetzbuch (StGB) nicht anerkennen.
Pia Lorenz, Kultur und Religion im deutschen Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 11.09.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13147 (abgerufen am: 01.11.2024 )
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