2/2: "Studien zu Gewalttaten nicht eindeutig"
LTO: Sie beschäftigen sich deshalb vor allen Dingen mit Studien, bei denen die Täter selbst befragt werden.
Walburg: Mit solchen Befragungsstudien kann man ein genaueres Bild bekommen. Zum Beispiel fragt man junge Menschen danach, ob sie bestimmte Delikte begangen haben. Dann kann man weitere Fragen stellen, etwa nach den Lebensumständen, nach ihren Werten und Normen und nach ihrem Lebensstil. So kann man auch etwas über Entstehungsbedingungen und Hintergründe von Kriminalität erfahren. Dabei zeigt sich, dass die Zahl der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die jugendtypische Taten begehen – wie Diebstähle oder Sachbeschädigungsdelikte – nicht höher ist als die bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund. Insgesamt gibt es da keine großen Unterschiede.
Was Gewaltdelikte angeht, die natürlich nicht ganz zu Unrecht im Mittelpunkt der Debatte stehen, da sind die Studien nicht ganz eindeutig. Nach der Mehrzahl der Studien sind Jugendliche mit Migrationshintergrund aber etwa anderthalb- bis zweimal so häufig an Gewalttaten beteiligt. Allerdings finden sich für die Nachkommen der sogenannten Gastarbeiter auch Hinweise, dass die Unterschiede deutlich geringer werden.
"Sich als Mann durch Gewalt Respekt zu verschaffen, gilt kulturenübergreifend"
LTO: Woran kann die erhöhte Gewaltbereitschaft liegen?
Walburg: Da gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Teilweise geht man davon aus, dass es im Prozess der Integration eben zu Spannungen kommt. Die Jugendlichen fühlen sich nicht zur Mehrheitsgesellschaft zugehörig und entwickeln ein negatives Selbstbild, zu dem auch Gewaltbereitschaft gehört.
Eine andere These ist, dass es mit den Werten und Normen zu tun hat, die aus einem bestimmten Herkunftsland mitgebracht werden, dass Gewalt dort eher akzeptiert wird. Gerade bei Gewalt von Jugendlichen, bei Gewalttaten auf der Straße, ist das aber nicht sehr überzeugend.
Wenn Studien zu dem Ergebnis kommen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund mehr Gewaltdelikte begehen, dann gilt das nicht nur für eine bestimmte Herkunftsgruppe. Dass Gewalt durch Männer legitim ist, dass man sich als Mann durch Gewalt Respekt verschaffen muss – solche Vorstellungen findet man typischerweise bei jungen Männern, die gesellschaftlich marginalisiert sind, die in einer sozialen Randlage leben und anderweitig wenig Anerkennung erfahren. Das ist kulturenübegreifend und nicht mit der Herkunft zu erklären. Zugleich kann man sagen, je besser die Integration in das Bildungssystem gelingt, je mehr dort Perspektiven entstehen, auch für Jugendliche mit Migrationshintergrund, desto mehr verliert Gewalt an Attraktivität.
"Kein Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewalttaten"
LTO: Und welche Rolle spielt die Religion? Nicolaus Fest hat ja gerade in seinem Kommentar in der Bild am Sonntag behauptet, muslimische Jugendliche seien weit überproportional kriminell.
Walburg: Erhöhte Gewaltrisiken finden sich nicht nur bei muslimischen Migrantenjugendlichen. Nach manchen Studien sind ihre Gewalttäteranteile aber etwas höher als bei nicht-muslimischen Migranten. Daraus kann man aber nicht ableiten, dass die muslimische Religiosität für Jugendgewalt verantwortlich ist. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen die zeigen, je religiöser ein junger Mensch ist, desto weniger begeht er Straftaten. Üblicherweise sind soziale Bindungen und die soziale Kontrolle in diesen Fällen höher. Bei muslimischen Jugendlichen gibt es auch Studien, die sagen, die Religiosität spielt einfach keine Rolle. Klar ist: Einen Zusammenhang zwischen stärkerer Religiosität und häufigerer Gewalttäterschaft gibt es nicht, auch nicht bei muslimischen Jugendlichen.
Übrigens ist es so, dass religiöse muslimische Jugendliche deutlich weniger Alkohol konsumieren. Und der Alkoholkonsum ist ein durchaus zu beachtender Faktor, gerade bei Gewaltdelikten. Viele körperliche Auseinandersetzungen entstehen schließlich unter Alkoholeinfluss.
Dr. Christian Walburg ist Akademischer Rat am Institut für Kriminalwissenschaften in der Abteilung Kriminologie der Universität Münster. Er hat am Forschungsprojekt "Kriminalität in der modernen Stadt" mitgearbeitet, einer Langzeituntersuchung zur Entstehung und Entwicklung von Delinquenz im Lebensverlauf junger Menschen. Seine 2014 veröffentlichte Dissertation befasst sich mit Zusammenhängen zwischen Migration und Jugenddelinquenz.
Das Interview führte Annelie Kaufmann.
Annelie Kaufmann, Jugendkriminalität und Migrationshintergrund: . In: Legal Tribune Online, 04.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12775 (abgerufen am: 02.11.2024 )
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