Gesundheitsminister Spahn plant, Krankschreibungen per Video auch losgelöst von der Pandemie und unter erleichterten Voraussetzungen dauerhaft zuzulassen. Maximilian Koschker und Philipp Deuchler sehen das kritisch.
In Deutschland werden jährlich etwa 75 Millionen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) ausgestellt. Regelmäßig erfolgt die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im Rahmen einer persönlichen Untersuchung des Patienten durch den behandelnden Arzt, also von Angesicht zu Angesicht. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde die Krankschreibung per Video als Mittel eingeführt, um den Ansturm auf Arztpraxen zu reduzieren und so dem Infektionsgeschehen vorzubeugen.
Was zunächst nur als temporäre Ausnahme gedacht war, ist schon seit Juli 2020 in der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses als dauerhafte Möglichkeit verankert. Ärzte können demzufolge unter bestimmten Voraussetzungen einen Patienten per Videosprechstunde bis zur Dauer von sieben Kalendertagen erstmalig krankschreiben. Hierzu muss der Patient dem Arzt (oder einem anderen Arzt derselben Berufsausübungsgemeinschaft) aufgrund früherer Behandlung unmittelbar bekannt sein. Zudem muss die konkrete Erkrankung für eine Videosprechstunde geeignet sein. Eine Folge-AU per Video ist möglich, wenn die erstmalige Arbeitsunfähigkeit des Patienten aufgrund einer unmittelbaren persönlichen Untersuchung durch denselben Arzt festgestellt wurde.
Nun beabsichtigt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn in seinem jüngst vorgelegten Referentenentwurf zum Gesetz zur digitalen Modernisierung von Versorgung und Pflege, die bisherigen Voraussetzungen für eine Krankschreibung per Video weiter zu lockern. Insbesondere sollen eine erstmalige Krankschreibung sowie deren Verlängerung auch ohne bisherigen persönlichen Kontakt zwischen Arzt und Patient möglich sein. Einen Anspruch darauf, dass die ärztliche Untersuchung per Videosprechstunde erfolgt, haben Arbeitnehmer allerdings weder derzeit noch nach dem vorgelegten Referentenentwurf; hier kommt dem behandelnden Arzt ein Beurteilungsspielraum zu.
Der AU-Beweiswert bleibt im Grundsatz unverändert
Arbeitnehmer sind gesetzlich verpflichtet, ihrem Arbeitgeber eine Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen (§ 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz, EFZG). Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) kommt einer AU grundsätzlich ein so hoher Beweiswert zu, dass der Arbeitnehmer für die bescheinigte Dauer als tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt gilt. Nur in Ausnahmefällen (zum Beispiel Erkrankung nach Ablehnung eines Urlaubsantrages im beantragten Urlaubszeitraum, Arbeit bei einem anderen Unternehmen während der angeblichen Arbeitsunfähigkeit, Ankündigung einer Erkrankung, etc.) kann der Arbeitgeber diesen hohen Beweiswert der AU erschüttern.
Bisher musste sich das BAG noch nicht mit der Video-AU beschäftigen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Rechtsprechung auch solchen Bescheinigungen einen hohen Beweiswert zuschreiben wird. Das EFZG sieht für den Nachweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit nämlich ausdrücklich die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung vor – diese ist also in den Augen des Gesetzgebers das Mittel der Wahl. Die Videosprechstunde wiederum ist eine gesetzlich vorgesehene und damit legitime Möglichkeit, eine solche ärztliche Bescheinigung zu erlangen.
Es wäre daher widersinnig, Arbeitnehmern einerseits die Möglichkeit zur Beibringung einer Video-AU zu geben, ihnen andererseits aber vor Gericht den Rückgriff auf diese Methode vorzuwerfen.
Video-AU und Entgeltfortzahlung
Aus diesem Grund sind Arbeitgeber auch nicht berechtigt, bei Vorlage "nur" einer Video-AU die Fortzahlung des Arbeitsentgelts zu verweigern. Zwar gibt das EFZG Arbeitgebern ein Leistungsverweigerungsrecht hinsichtlich der Entgeltfortzahlung, solange der Arbeitnehmer die gesetzlich vorgeschriebene AU-Bescheinigung nicht vorlegt oder diese nicht ordnungsgemäß ausgestellt wurde (§ 7 Abs. 1 EFZG).
Auch eine AU, die auf eine Videosprechstunde zurückgeht, ist aber eine ärztliche Bescheinigung im Sinne des Gesetzes, so dass bei Vorlage einer Video-AU die Entgeltfortzahlung nicht verweigert werden darf.
Dies dürfte selbst dann gelten, wenn die Video-AU an formalen Fehlern leidet oder so gar nicht hätte ausgestellt werden dürfen – denn diese Umstände sind in der Regel nicht vom Arbeitnehmer zu vertreten (§ 7 Abs. 2 EFZG).
Video-AU birgt Risiken für den Arbeitnehmer
Aus Arbeitnehmersicht bringt die Video-AU aber nicht nur Vorteile mit sich. Risiken ergeben sich für Arbeitnehmer etwa daraus, dass weder in den geltenden Vorschriften noch im vorgelegten Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums näher konkretisiert wird, für welche Krankheitsfälle eine AU per Videosprechstunde letztlich geeignet ist. Es kann sich daher später vor dem Arbeitsgericht (beispielsweise im Rahmen einer Kündigungsschutzklage) herausstellen, dass die Erkrankung des Arbeitnehmers einer Video-AU gar nicht zugänglich gewesen ist und die AU-Bescheinigung damit nicht ordnungsgemäß ausgestellt wurde.
Dies wiederum müsste der vorgelegten Video-AU ihren hohen Beweiswert für das tatsächliche Bestehen einer Arbeitsunfähigkeit im Beurteilungszeitraum nehmen. Es bleibt abzuwarten, wie die Arbeitsgerichte mit solchen Fehlbeurteilungen umgehen werden.
Auch wenn die Video-AU vor allem in Pandemie-Zeiten durchaus ihre Berechtigung hat, stößt sie wegen der gegenüber persönlichen Untersuchungen erhöhten Manipulationsgefahr bei Arbeitgebern auf Vorbehalte. Wenn die Video-AU gleichwohl zum ständigen Begleiter der Personal- und Arbeitsrechtspraxis wird, wäre zumindest eine Konkretisierung der Krankheitsbilder zu begrüßen, die aus Sicht des Gesetzgebers mittels Videosprechstunde zuverlässig beurteilt werden können - im Interesse beider Arbeitsvertragsparteien.
Dr. Maximilian Koschker ist Rechtsanwalt bei der Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland. Er berät Unternehmen in allen individual- und kollektivarbeitsrechtlichen Fragestellungen, insbesondere im Zusammenhang mit den Herausforderungen der modernen Arbeitswelt und der zunehmenden Digitalisierung (Arbeitswelt 4.0).
Philipp Deuchler ist Rechtsanwalt bei der Wirtschaftskanzlei CMS in Deutschland und berät Unternehmen zu allen Fragen des Individual- und Kollektivarbeitsrechts. Neben seiner Tätigkeit als Anwalt promoviert er derzeit zu einem sportarbeitsrechtlichen Thema an der Universität Mannheim.
Videokrankschreibung auch nach Corona: . In: Legal Tribune Online, 08.12.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/43661 (abgerufen am: 31.10.2024 )
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