Nicht nur Straßenblockierer, sondern auch Polizisten müssen ihr Handeln an den Maßstäben des Rechts messen lassen. Drohungen mit Schmerzen sind rechtswidrig, wenn Demonstranten einfach weggetragen werden können, meint Patrick Heinemann.
"Die letzte Generation" klebt sich aus Protest gegen zaghafte Klimaschutzpolitik auf Deutschlands Straßen fest. Ob darin eine strafbare Nötigung liegen kann, inwieweit Aktivisten gar wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung verantwortlich sind, wenn infolge ihres Protests Rettungsfahrzeuge steckenbleiben, das alles wird aktuell heiß diskutiert. In den juristischen Fokus der Öffentlichkeit rücken jetzt aber auch die Polizeieinsätze, bei denen Demonstranten von der Straße losgelöst und weggetragen werden. Anlass bietet ein Video, das kürzlich bei Twitter veröffentlicht wurde. Zu hören ist das Gespräch eines Berliner Polizisten mit einer Anhängerin der "letzten Generation", die sich am 9. November auf der Danziger Straße in Prenzlauer Berg festgeklebt hatte. Der Beamte kündigt in dem Video an, er werde jetzt unmittelbaren Zwang anwenden, wenn sie nicht freiwillig aufstehe und mit ihm mitgehe, das werde "wehtun". Die Demonstrantin entgegnet, sie würde sich "wegtragen lassen". Der Polizist erwidert, das werde nicht funktionieren, er werde stattdessen einen "Handbeugehebel" ansetzen, das werde am Handgelenk "unfassbare Schmerzen auslösen" und "sehr wehtun", ob sie nicht freiwillig mitkommen wolle. Ein auf dem Video nicht erkennbarer Dritter erklärt, "das mildeste Mittel wär wegzutragen", was der Beamte mit Berliner Charme quittiert: "Sie erklären mir nicht meinen Job!"
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Platzverweis gegen Blockierer rechtmäßig
Aber wer erklärt’s ihm dann? Vieles spricht dafür, dass hier schon die Drohung mit einem schmerzhaften Polizeigriff rechtswidrig war. Im Ausgangspunkt geht es um die Vollstreckung einer "Platzverweisung" wie die Maßnahme im Berliner Polizeigesetz heißt (§ 29 Abs. 1 Satz 1 ASOG Bln). Wie in anderen Bundesländern kann auch die Berliner Polizei Personen zur Abwehr einer Gefahr vorübergehend eines Ortes verweisen. Unter Gefahr im polizeirechtlichen Sinne ist dabei ganz klassisch eine Sachlage zu verstehen, in der bei ungehindertem Geschehensablauf mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit ein Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung eintritt. Unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit fällt insbesondere der Schutz der objektiven Rechtsordnung.
Ein Verbleiben der Demonstrantin auf der Straße wäre mit den Grundregeln des Straßenverkehrs unvereinbar, wonach sich Verkehrsteilnehmer – also auch Fußgänger – so zu verhalten haben, dass andere nicht mehr als nach den Umständen vermeidbar behindert werden (§ 1 Abs. 2 Straßenverkehrsordnung (StVO)). Fußgänger müssen zudem die Gehwege benutzen und Fahrbahnen unter Beachtung des Fahrzeugverkehrs zügig auf dem kürzesten Weg quer zur Fahrtrichtung überschreiten (§ 25 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 StVO).* Eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne stellt die Straßenblockade also ohne Weiteres dar. Auch dürfte ein Platzverweis in der Regel die angemessene Maßnahme sein, um diese Störung zu beseitigen. Ein durch die Polizei ausgesprochener Platzverweis ist sofort vollziehbar, ein eventueller Widerspruch dagegen hat also keine aufschiebende Wirkung (§ 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)). Das eigentliche Problem liegt damit auf der Ebene des Verwaltungsvollstreckungsrechts.
Auch unmittelbarer Zwang gerechtfertigt
Das Verwaltungsvollstreckungsrecht stellt verschiedene Mittel zur Verfügung, um Verwaltungsakte durchsetzen. Hierzu gehören insbesondere das Zwangsgeld sowie die Ersatzvornahme. Beides ist hier "untunlich" (§ 12 Verwaltungs-Vollstreckungsgesetz (VwVG)), kommt also aus unterschiedlichen Gründen nicht in Frage: Das Zwangsgeld hat keine hinreichende Beugewirkung, um die Gefahr effektiv und vor allem zügig zu beseitigen. Eine Ersatzvornahme kommt nicht in Betracht, weil das Sich-Wegbewegen von einem bestimmten Ort eine "unvertretbare" höchstpersönliche Handlung darstellt, also etwas, das man nur selbst tun kann. Entfernt die Polizei Personen gegen ihren Willen von einem Ort, wendet sie daher unmittelbaren Zwang an (§ 8 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsverfahrensgesetz Berlin (VwVfG Bln) i. V. m. § 12 VwVG). Wegen der Eilbedürftigkeit braucht es keiner vorherigen schriftlichen Androhung des unmittelbaren Zwangs, auch wenn im sogenannten gestreckten Verfahren vorgegangen wird, also ein zuvor erlassener Verwaltungsakt mit Zwangsmitteln vollstreckt werden soll (§ 8 Abs. 1 Satz 1 VwVfG Bln i. V. m. §§ 13 Abs. 1 Satz 1, 6 Abs. 2 VwVG). Auch eine mündliche oder sonstige Androhung ist – außer bei äußerst intensiven Zwangsmitteln wie Schusswaffen – grundsätzlich nicht erforderlich.
Grenzen des unmittelbaren Zwangs
Nicht nur bei der Entscheidung, ob ein Platzverweis ausgesprochen wird, oder aber bei der Auswahl des Zwangsmittels, sondern gerade auch bei der Anwendung von Zwangsmitteln sind Behörden an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden. Dieses rechtstaatliche Prinzip hat mindestens genauso freiheitssichernde Bedeutung wie die Grundrechte. Es ist auch sehr viel älter und vor allem vom Preußischen Oberverwaltungsgericht als Schranke polizeilicher Befugnisse entwickelt worden. Gerade in Berlin sollten Polizeibeamte sich damit also eigentlich auskennen. Wegen der Grundrechtsintensität des unmittelbaren Zwangs ist die Art und Weise seiner Anwendung gesetzlich gesondert geregelt.
Ausdrücklich heißt es in § 4 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über die Anwendung unmittelbaren Zwanges bei der Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Landes Berlin (UZwG Bln), dass dabei von den möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenigen zu treffen sind, die den Einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigen. Eine Maßnahme des unmittelbaren Zwanges darf nicht durchgeführt werden, wenn der durch sie zu erwartende Schaden erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht (§ 4 Abs. 2 UZwG Bln). Die hierzu erlassenen Ausführungsvorschriften betonen deshalb noch einmal ausdrücklich: "Durch unmittelbaren Zwang kann die betroffene Person insbesondere in ihren Rechtsgütern wie Leib, Leben, Freiheit und Eigentum sowie ihren sonstigen Rechten schwerwiegend beeinträchtigt werden. Auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist deshalb vor und bei Anwendung unmittelbaren Zwanges besonders sorgfältig zu achten." (Nr. 15 AV Pol UZwG Bln)
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit missachtet
Nach diesen Maßstäben ist im konkreten Fall nicht erkennbar, warum die Berliner Polizeikräfte nicht zuerst versuchten, die Demonstrantin wegzutragen. Dabei greifen üblicherweise zwei Polizisten die betroffene Person jeweils links und rechts unter die Arme und tragen sie – ohne dabei besondere Gewalt auszuüben – einfach von der Stelle. Genügend Einsatzkräfte waren hierfür jedenfalls anwesend, wie auf dem Twitter-Video zu erkennen ist. Die Aktivistin erklärte sich hierzu auch bereit, verhielt sich also insofern kooperativ. Das Wegtragen von Sitzblockadeteilnehmern entspricht auch der gängigen Polizeipraxis, wie LTO aus Polizeikreisen erfuhr.
Erst wenn dabei Widerstand geleistet wird oder solcher von vornherein zu erwarten ist, darf die Polizei – auch um sich selbst zu schützen – gegebenenfalls auch (schmerzhafte) Gewalt anwenden (§ 8 Abs. 1 Satz 1 VwVfG Bln i. V. m. § 15 Abs. 2 VwVG). Mit Blick auf den inzwischen recht weiten Straftatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) kann der Einsatz unter anderem von "Polizeigriffen" und ähnlicher Zwangsmaßnahmen dann allerdings schnell nicht mehr der Gefahrenabwehr, sondern der Festnahme im Rahmen der Strafverfolgung dienen. Dieser Unterschied ist wiederum für den Rechtsweg entscheidend, falls die oder der Betroffene die Rechtswidrigkeit des Polizeihandelns feststellen lassen will.
Straf- und disziplinarrechtliche Bedeutung?
Beamte, die die gesetzlichen Grenzen des unmittelbaren Zwangs missachten, können sich wegen Körperverletzung im Amt (§ 340 Abs. 1 Satz 1 StGB) strafbar machen. Bleibt es bei einer Drohung mit "unfassbaren Schmerzen", wäre zumindest an eine (versuchte) Nötigung im Amt zu denken (§ 240 Abs. 1 und 4 Nr. 2 StGB). Polizisten, die gerne unnötige Schmerzen androhen, begehen zudem ein Dienstvergehen von erheblicher Schwere. Sie stellen ihre charakterliche Eignung dergestalt in Frage, dass eine disziplinare Ahndung in Betracht kommt (§§ 5 Abs. 1, 13 Abs. 1 DiszG Bln).
Die Berliner Polizei kündigte gegenüber LTO eine Stellungname zu dem Vorfall an (Diese ist mittlerweile eingegangen, die Polizei hält das Verhalten für rechtmäßig. Näheres siehe hier).*
Innenministerin Faeser und die Härte des Rechtsstaats
Unabhängig davon sind es aber nicht nur einzelne Demonstrantinnen oder Polizeibeamte, deren Verhalten dieser Tage rechtlich aus dem Ruder läuft. Auch von ganz oben sind bisweilen Töne zu vernehmen, die zumindest jedem mit juristischem Grundstudium den Atem stocken lassen müssten. Vorne mit dabei: Nancy Faeser, als Bundesinnenministerin zugleich ressortverantwortliche Verfassungsministerin. Sie warb auf Twitter für ein "hartes Durchgreifen" der Polizei, die hierfür ihre vollste Unterstützung habe. Bereits im Januar hatte sie in anderem Zusammenhang gefordert: "Wenn Menschen radikal werden, muss der #Rechtsstaat mit aller Härte durchgreifen." Das sind Versatzstücke aus dem juristischen Bullshit-Bingo. Volle Härte ist nicht gleichzusetzen mit dem Rechtsstaat, im Gegenteil: Der Rechtsstaat verlangt vor allem Verhältnismäßigkeit – und gerade daran scheint es im konkreten Berliner Fall zu mangeln.
* Korrigierte Norm und korrigierter verlinkter Tweet im letzten Absatz, Version vom 16.11.2022
* Hinweis auf Stellungnahme der Polizei ergänzt am 18.11.2022.
Wann darf die Polizei gegen Klimaktivisten Gewalt anwenden?: . In: Legal Tribune Online, 14.11.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/50169 (abgerufen am: 18.11.2024 )
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