Für Enteignungen vor 218 Jahren erhalten die Kirchen noch heute jährlich Millionen vom Staat - obwohl das Grundgesetz das Ende der Zahlungen gebietet. Warum der Gesetzgeber endlich handeln muss, erklärt Claus Dieter Classen im Interview.
LTO: Auch im Jahr 2020 bekamen evangelische und katholische Kirche von den Steuerzahler:innen über die Bundesländer rund 570 Millionen Euro jährliche Entschädigungen für Enteignungen aus dem frühen 19.Jahhundert überwiesen. Für was wird da immer noch entschädigt?
Prof. Dr. Claus Dieter Classen: Historischer Hintergrund der heute gezahlten Staatsleistungen ist insbesondere der Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Damals wurde den Kirchen Vermögenswerte entzogen; zum Ausgleich wurden die heute noch bestehenden Leistungsverpflichtungen begründet.
218 Jahre später wird immer noch jährlich gezahlt. Und das, obwohl Art.140 Grundgesetz i. V. m. Art. 138 Weimarer Reichsverfassung den Gesetzgeber quasi seit 1919 auffordern, diese Entschädigungszahlungen ein für alle Mal abzulösen. Warum blieb der Gesetzgeber bisher untätig?
Aus vielfältigen Gründen: Unter anderem, weil eine verfassungskonforme Ablösung der Staatsleistungen für die Bundesländer - jedenfalls zunächst - mit hohen Kosten verbunden wäre und darüber hinaus auch eine Verständigung mit den Kirchen geboten ist. Offenbar empfanden alle Akteure den Status quo als ganz bequem.
Jetzt aber ist nicht zuletzt durch einen Gesetzentwurf von FDP, Linken und Grünen wieder Schwung in die Debatte gekommen. Auch Union und SPD sollten sich endlich konkret um die Erfüllung des Verfassungsauftrages bemühen. Es wird Zeit, dass der Gesetzgeber diesen endlich ernst nimmt - bevor das Bundesverfassungsgericht vielleicht eines Tages dem Staat ein verfassungswidriges Unterlassen attestiert und den Gesetzgeber dann in die Pflicht nimmt. Für einen Rechtsstaat ist die aktuelle Untätigkeit der Politik bei diesem Thema jedenfalls wenig überzeugend.
"Angemessener Ausgleich für die Kirchen"
Der Entwurf von FDP, Grünen und Linken sieht - anders als ein eigener Entwurf der AfD - nicht den sofortigen Stopp der Zahlungen durch die Länder vor. Vielmehr sollen die Kirchen von den betroffenen Bundesländern eine Entschädigung von zusammen 10,6 Milliarden Euro erhalten, einmalig oder in Raten. Zusätzlich sollen sie bis zur vollständigen Bezahlung dieses Betrages die Staatsleistungen wie bisher erhalten. Das kann die Länder, da die Ablösung erst nach 20 Jahren abgeschlossen sein muss, noch einmal bis zu 13,1 Milliarden Euro kosten. Sieht die Verfassung solche Geschenke vor?
Im Grundgesetz ist von "Ablösung" die Rede. Eine Ablösung einer finanziellen Dauerleistung besteht in der Zahlung eines größeren Betrages, der in einem angemessenen Verhältnis zur zuvor erbrachten Dauerleistung besteht. Das schlichte Auslaufenlassen der bisher erbrachten Leistungen genügt anerkanntermaßen nicht der verfassungsrechtlichen Vorgabe. Die Notwendigkeit eines "angemessenen" Ausgleichs besteht im Übrigen ja auch bei Enteignungen nach Art. 14 Abs. 3 GG.
Und sind derartige Milliardenbeträge "angemessen"?
In Anlehnung an Art.15 GG ist nach meiner Auffassung jedenfalls ein gewisses Maß an Flexibilität bei der Entschädigung möglich: So legt der Gesetzentwurf von Grünen, FDP und Linken bei der Berechnung der Entschädigung das 18,6-fache der jährlich zu leistenden Zahlungen im Jahr 2020 zugrunde. Ich halte diese Größenordnung grundsätzlich für vernünftig. Insgesamt ist es auch sachgerecht, hier einigermaßen präzise Regelungen zu treffen, von denen die Länder nicht ohne sachlichen Grund später abweichen könnten.
Mit dem Gesetzentwurf wird das sogenannte Äquivalenzprinzip zum Maßstab der Ablösung gemacht. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) besteht darauf. Was bedeutet die Anwendung des Prinzips und gibt es hierzu tatsächlich keine Alternative?
Das Äquivalenzprinzip bedeutet, dass die Ablösesumme wirtschaftlich dem Wert der bisher erbrachten Leistungen entspricht. Darüber, ob es verfassungsrechtlich zwingend ist, kann man streiten, aber ebenso darüber, ob der jetzt gewählte Betrag diesem Maßstab tatsächlich entspricht oder nicht sogar zu niedrig angesetzt ist.
"Einbeziehung der Kirchen rechtlich geboten"
Der Entwurf von Grünen, FDP und Linken, den ja auch Vertrer:innen der Koalitionsfraktionen sehr wohlwollend beurteilen, regelt auch Vereinbarungen mit den Kirchen. Durch Vertrag mit ihnen sollen die Länder eine vollständige oder teilweise Ablösung auch durch andere als Geldleistungen und in anderer Höhe vereinbaren können. Warum nimmt man die Kirchen derart mit ins Boot?
Schon aus Gründen gesellschaftlicher Akzeptanz sollte im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens versucht werden, eine Verständigung mit den Kirchen herbeizuführen. Und nicht, wie im Gesetzentwurf vorgesehen, erst danach.
Im Übrigen ist die Einbeziehung der Kirchen in den Diskussionsprozess auch rechtlich geboten: Art. 18 des mit der katholischen Kirche bestehenden Reichskonkordats verpflichtet Deutschland, "vor der Ausarbeitung der für die Ablösung aufzustellenden Grundsätze rechtzeitig zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Reich ein freundschaftliches Einvernehmen“ herbeizuführen. Die die evangelischen Kirchen dürfen schon aus Paritätsründen nicht anders behandelt werden.
Gegenüber LTO hat die katholische Bischofskonferenz bestätigt, dass sie sich einer Lösung nicht verschließen wird, soweit diese "ausgewogen" ist. Es habe bisher keine Initiative des Bundes wegen der "damit verbundenen erheblichen Kostenverpflichtungen" gegeben. Das impliziert ja schon einen gewissen Anspruch, oder?
Ja, aber auch die Kirchen können es sich nicht leisten, die Herbeiführung eines verfassungskonformen Zustandes zu blockieren.
Und weil am Ende die Länder die Ablösung bezahlen müssen, sollte ebenfalls mit ihnen gesprochen werden, bevor das Gesetz vom Bundestag beschlossen wird, auch wenn über den Bundesrat eine Beteiligung der Länder ohnehin gewährleistet ist.
Kennen Sie noch einen anderen Verfassungsauftrag, dem der Gesetzgeber so viele Jahre nicht nachgekommen ist?
Ich erinnere mich vor allem an die rechtliche Gleichstellung der nichtehelichen Kinder. Aber da ist der Gesetzgeber immerhin 20 Jahre nach dessen Verankerung im Grundgesetz tätig geworden, auch wenn dann zunächst noch nicht alles perfekt war.
Dass die seit 1919 die zunächst in der WRV und dann später ins Grundgesetz übernommene Vorgabe seit über 100 Jahren ignoriert wird, ist wirklich einzigartig.
Prof. Dr. Claus Dieter Classen ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Greifswald. Von der SPD-Bundestagsfraktion wurde er als Sachverständiger für die Anhörung im Bundestags-Innenausschuss am 12. April benannt, in der die erwähnten Gesetzentwürfe zur Ablösung von Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften beraten werden.
Staatsleistungen wegen Enteignungen von 1803: . In: Legal Tribune Online, 10.04.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44688 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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