Die GroKo hat 2021 den Besitz von Kinderpornografie zum Verbrechen mit einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr hochgestuft. Daran regt sich Kritik. Indes: Bereits jetzt könnten Gerichte mildere Strafen verhängen, meint Dominik Brodowski.
Nachdem die erschreckenden Missbrauchsfälle von Staufen, Bergisch-Gladbach, Lügde und Münster bekannt geworden waren, sah sich die große Koalition im Jahr 2021 gezwungen, ein Zeichen zu setzen. Der Besitz und die Weitergabe kinderpornografischer Inhalte nach § 184b Strafgesetzbuch (StGB) dürfe zukünftig kein Vergehen mehr sein, sondern müsse als das bezeichnet werden, was es sei: ein Verbrechen. Für minder schwere Fälle bestehe, so die damalige Regierungskoalition, angesichts der entsetzlichen Taten gegen Kinder kein Raum. Ausnahmslos jeder, der für eine solche Tat verantwortlich ist, müsse daher mit einer mindestens einjährigen Freiheitsstrafe rechnen.
Ein Jahr Gefängnis bei "naiven Tätern" zu hart
Gut zwei Jahre später zeigt sich immer deutlicher, dass diese Strafrechtsverschärfung über das Ziel gerechter Bestrafung hinausgeschossen ist: Nicht nur Missbrauchstäter stehen vor Gericht, sondern auch sogenannte naive Täter. Zum Beispiel eine Mutter, die ein einschlägiges Foto auf dem Handy ihrer Tochter gefunden hatte und nun andere Eltern warnen wollte. Oder eine junge Erwachsene, die einer WhatsApp-Gruppe beigetreten war, in der neben vielen anderen Inhalten auch ein einschlägiges Foto geteilt wurde – und ebendieses Foto hatte die junge Frau nicht sofort wieder von ihrem Handy gelöscht. Solches Verhalten ist gewiss nicht richtig. Es ist indessen nicht derart verwerflich, dass dies ein Jahr Gefängnis "verdient" hätte, auch nicht auf Bewährung.
Daher haben einige Amtsgerichte die Frage, ob § 184b StGB überhaupt noch verfassungskonform ist, dem BVerfG vorgelegt. Das blieb bislang aber ohne Erfolg: Karlsruhe hat zwei dieser Vorlagen Anfang März als unzulässig verworfen. Nachdem bislang die politischen Vorstöße zu einer Korrektur des Strafrahmens, für die sich v.a. die Landesjustizminister: innen stark gemacht hatten, auf wenig Bereitschaft im zuständigen Bundesministerium der Justiz (BMJ) gestoßen waren, die Reform wieder rückgängig zu machen, scheint sich jetzt etwas zu tun. Wie LTO berichtet, wird im BMJ derzeit ein Konzept erstellt, um der Justiz wieder den nötigen Spielraum zu verschaffen, damit man den Einzelfällen gerecht werde. Bis Jahresende soll es vorgelegt werden.
Dass Justizminister Marco Buschmann (FDP) nun tätig wird, ist wohl seiner Kabinettskollegin, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu verdanken. Sie plädierte kürzlich in einem Interview unmissverständlich dafür, die Reform mit Blick auf § 184b StGB wieder rückgängig zu machen. Bis dahin hatte Buschmann – wie man bei LTO nachlesen kann – die Sorge, man könne sich bei diesem Thema nur die Finger verbrennen ("politisches Diffamierungspotential").
Europarechtliche Pflicht zur Verhältnismäßigkeit von Strafen
So dringend geboten eine Korrektur durch den Gesetzgeber auch ist: Einige Strafverfahren, bei denen ein Jahr Freiheitsstrafe krass unverhältnismäßig wäre, stehen jetzt zur Entscheidung an. Doch für Strafgerichte besteht bereits jetzt ein Ausweg, sich nicht an die in § 184b StGB genannte Rechtsfolge halten zu müssen und "naive Täter" nur zu einer niedrigeren, verhältnismäßigen Strafe zu verurteilen. Sie dürfen – ja müssen – sich hierzu über den Wortlaut des StGB zu Gunsten des Beschuldigten hinwegsetzen. Den Grund für diese auf den ersten Blick sehr überraschende Konsequenz findet man im Europarecht, genauer im Europäischen Strafrecht:
Deutschland ist nämlich bei der Strafgesetzgebung im Bereich Kinderpornografie nicht frei, sondern an eine EU-Richtlinie zur Bekämpfung der Kinderpornografie aus dem Jahr 2011 gebunden. Diese verpflichtet die EU-Mitgliedstaaten, den Erwerb und den Besitz von Kinderpornografie unter Strafe zu stellen. Dieser europarechtlichen Pflicht ist Deutschland mit § 184b StGB nachgekommen. Allerdings heißt es in Erwägungsgrund 12 dieser Richtlinie zugleich, dass die Strafen wirkungsvoll und abschreckend, aber auch verhältnismäßig sein müssen. Noch deutlicher steht diese Pflicht zur Verhältnismäßigkeit von Strafen in Art. 49 Abs. 3 der EU-Grundrechtecharta – und diese ist anwendbar, weil § 184b StGB der Umsetzung einer EU-Richtlinie dient.
Pragmatische Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den EuGH
Während das BVerfG sich bislang noch nie dazu hat durchringen können, die Rechtsfolgenseite eines Straftatbestands als unverhältnismäßig zu brandmarken, geht der Europäische Gerichtshof (EuGH) hier deutlich forscher vor: Ein finnischer Einkommensmillionär hätte knapp 100.000 Euro Strafe dafür zahlen müssen, dass er bei der Einreise seinen Reisepass nicht zur Hand hatte. Dies hielt der EuGH kürzlich für unverhältnismäßig und daher für europarechtswidrig. Gleichermaßen hielt der EuGH eine österreichische Regelung für unverhältnismäßig, die bei Schlampereien mit Lohnunterlagen zwingende Einzelgeldstrafen von mindestens 1.000 Euro je Fall vorgesehen hatte.
In seiner Rechtsprechung geht es dem EuGH in diesen Fällen um eine pragmatische Plausibilitätskontrolle: Liegt Art und Höhe der Sanktion noch im Bereich desjenigen, was wirklich erforderlich ist, um das Ziel der jeweiligen Regelung zu erreichen? Gegenüber einer Mutter, die nur andere Eltern warnen wollte und daher unvorsichtigerweise ein einschlägiges Bild geteilt hatte, ist eine einjährige Freiheitsstrafe offensichtlich nicht erforderlich, um effektiv gegen sexualisierte Gewalt gegen Kinder und gegen die Weiterverbreitung von Missbrauchsdarstellungen vorzugehen. Bei "naiven Tätern" ist die Strafdrohung des § 184b StGB aus der Perspektive des Europarechts unverhältnismäßig hart.
Anwendungsvorrang schlägt Mindeststrafandrohung
Im März 2022 entschied der EuGH, dass eine europarechtliche Pflicht zur Verhältnismäßigkeit von Strafen auch unmittelbare Wirkung entfaltet. Wenngleich die Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum in der Umsetzung von Richtlinien haben, die zum Erlass von Strafvorschriften oder auch nur von Bußgeldvorschriften verpflichten, so gibt es dem EuGH zufolge ein zwingendes Verbot, unverhältnismäßig harte Sanktionen vorzusehen. Darauf könne sich jede betroffene Person auch unmittelbar berufen.
Es besteht also in Fällen "naiver Täter" ein Konflikt zwischen der europarechtlichen Pflicht, keine unverhältnismäßig harte Sanktion zu verhängen, und dem Gesetzeswortlaut des StGB, dass auch diese Täter zu mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe zu verurteilen sind. Dieser Konflikt ist, wie stets, mit dem Anwendungsvorrang des Europarechts zu lösen: Die Mindeststrafe bei § 184b StGB ist daher nicht anwendbar, wenn ebendiese Strafe unverhältnismäßig wäre.
Im selben Urteil aus dem März 2022 hatte der EuGH zudem entschieden, dass bei solchen Konfliktfällen zwischen Verhältnismäßigkeit und Mindeststrafe jedes Gericht eigenständig die angemessene, niedrigere Strafe bestimmen und verhängen darf. Gerichte müssten nicht warten, so der EuGH, bis die problematische "nationale […] Regelung […] auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren" beseitigt worden ist.
Übertragen auf § 184b StGB bedeutet diese klare Rechtsprechung des EuGH: Amts- und Landgerichte müssen der Verhältnismäßigkeit zum Durchbruch verhelfen und dürfen hierzu die in § 184b StGB enthaltene Mindeststrafe ignorieren – auch ohne vorherige Richtervorlage zum BVerfG. Das gibt den Gerichten die nötige Flexibilität in Strafverfahren gegen "naive Täter" wie die Mutter, die nur andere Eltern warnen wollte, oder die junge Erwachsene, die nicht schnell genug ein ihr zugeschicktes Bild gelöscht hatte. Aber all das entbindet den deutschen Gesetzgeber nicht von seiner verfassungs- und europarechtlichen Pflicht, dies auch selbst ins Gesetz zu schreiben – und hierzu § 184b StGB zumindest um eine Regelung für minder schwere Fälle zu ergänzen.
Der Autor Prof. Dr. Dominik Brodowski ist Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität des Saarlandes. Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV Strafverteidiger", Heft 6, 2023. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.
Europarecht und Kinderpornografie: . In: Legal Tribune Online, 24.04.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51610 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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