Die Bundesregierung verabschiedete heute ein Eckpunktepapier zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung. Im LTO-Interview lobt Generalbundesanwalt a.D. Kay Nehm das Konzept, warnt aber auch vor möglichen Regelungslücken - insbesondere im Hinblick auf Straftäter, die aufgrund eines EGMR-Urteils jetzt in die Freiheit entlassen werden könnten.
LTO: Herr Nehm, welche Lösung hat die Bundesregierung für die Sicherungsverwahrung gefunden?
Nehm: Die vom Bundeskabinett verabschiedeten Eckpunkte versuchen, zwischen europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben und dem Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft einen angemessenen Ausgleich herzustellen. Dies soll auf drei Feldern erreicht werden.
Erstens: Die Neuregelung der Sicherungsverwahrung für die Zukunft - also für Fälle, die sich nach Inkrafttreten der neuen Regelung ereignen. Dabei handelt es sich um eine rechtspolitische Frage, die nach dem Beschluss des EGMR mangels Rückwirkung unproblematisch ist.
Zweitens: Die Stärkung der Führungsaufsicht. Was kann mit Menschen geschehen, die ihre Strafe verbüßt haben, und nun in Konsequenz der europäischen Rechtslage in die Freiheit entlassen werden müssen, weil das Urteil seinerzeit keine Sicherungsverwahrung verhängt oder vorbehalten hat?
Drittens: Eine Regelung für die Altfälle, in denen von der Strafjustiz eine europarechtlich unzulässige nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängt worden ist oder verhängt worden wäre. Die Betroffenen befinden sich teilweise in Freiheit. Andere werden nach Verbüßung ihrer Strafe oder nach Ablauf der zehnjährigen Sicherungsverwahrung in die Freiheit entlassen werden müssen, obwohl sie weiterhin als höchst gefährlich eingestuft werden. Für diese Fallgruppe bedeutet die Stärkung der Führungsaufsicht allein keine befriedigende Lösung. Da das Strafrecht aufgrund des EGMR-Beschlusses keine Lösung bringen kann, muss der Gesetzgeber das Problem auf der Ebene der Therapie angehen. Hier sehe ich aber noch einige verfassungs- und europarechtliche Risiken.
"Sicherungsverwahrung kann weiter verhängt oder vorbehalten werden"
LTO: Bleiben wir beim ersten Punkt. Was bleibt übrig von der Sicherungsverwahrung, nachdem der EGMR dessen nachträgliche rückwirkende Anordnung für rechtswidrig erklärt hat?
Nehm: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die strafrechtliche Sicherungsverwahrung nicht per se verboten. Sie kann – wie bisher auch - zugleich mit dem Urteil verhängt oder vorbehalten werden. Der Richter muss also im Urteil die Prognose einer fortbestehenden Gefährlichkeit treffen. Bleibt die Verhängung im Urteil vorbehalten, hat es der Verurteilte in der Hand, am Vollzugsziel mitzuarbeiten und die endgültige Anordnung der Sicherungsverwahrung abzuwenden.
LTO: Für welche Täter kommt das infrage?
Nehm: Sie kommt insbesondere infrage auf dem Feld der Kapitaldelikte und schweren Sittlichkeitsdelikte, bei denen es sich nicht um konflikt- oder situationsbedingte Taten handelt. Die Tötung eines Menschen zur Befriedigung des Geschlechtstriebs oder schwere Sexualstraftaten mit bestimmten wiederkehrenden Handlungsmustern werfen die Frage auf, ob dem eingewurzelten Hang mit Mitteln des Strafvollzuges begegnet werden kann oder ob die Gesellschaft mit Hilfe der Sicherungsverwahrung vor weiteren einschlägigen Straftaten geschützt werden muss.
Im Übrigen will das Eckpunktepapier den Ausnahmecharakter der Sicherungsverwahrung beibehalten, versucht jedoch eine vorsichtige Korrektur. Das halte ich für ein vernünftiges Anliegen. Im Bereich der mittleren Kriminalität ist die Häufung von Straftaten sicher lästig, aber sie stellt nicht per se eine solche Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit dar, dass man stets mit der Sicherungsverwahrung eingreifen müsste.
LTO: Kann die Sicherungsverwahrung in beliebiger Länge verhängt werden?
Nehm: Das liegt primär in der Hand des Gesetzgebers. Der EGMR hat an der Sicherungsverwahrung selbst nichts auszusetzen, nur an dessen nachträglicher rückwirkender Verhängung. Der Verurteilte muss dem Urteil und dem Gesetz entnehmen können, was ihn erwartet. Das heißt, die Dauer ist zunächst vom Gesetzgeber zu bestimmen. In jedem Fall hat es der Verurteilte in der Hand, während der Strafhaft oder der Unterbringung an sich zu arbeiten, um einen weiteren Freiheitsentzug zu vermeiden oder zu beenden.
"Richter befinden sich im Zwiespalt"
LTO: Wer entscheidet künftig über die Dauer der Sicherungsverwahrung?
Nehm: Das wird weiterhin Aufgabe der Strafjustiz also der Vollstreckungskammern bleiben. Hier sollte sich der Gesetzgeber jedoch bemühen, eine größere Transparenz für den Betroffenen zu schaffen. Das könnte durch Modifizierung des Prüfungsverfahrens oder durch den Einsatz externer Gutachter geschehen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch der in der Sicherungsverwahrung Untergebrachte ebenso wie der Straftäter von Verfassungs wegen die Chance haben muss, seine Freiheit wieder zu erlangen.
LTO: Wenn eine nachträgliche, rückwirkende Sicherungsverwahrung nicht mehr möglich ist, droht uns dann eine Flut von Vorbehalten der Sicherungsverwahrung, weil sich die Richter unangreifbar machen wollen? Schließlich könnten sie sich massiver Kritik ausgesetzt sehen, wenn sie gegen einen Täter keine Sicherungsverwahrung vorbehalten und dieser nach der Haftentlassung erneut eine schwere Tat begeht.
Nehm: Selbstverständlich befinden sich auch die Richter in dieser Frage in einem Zwiespalt, der mitunter auch durch die vox populi beeinflusst sein mag. Ich bin aber lange genug im Geschäft tätig gewesen, dass ich ihnen versichern kann, die Bereitschaft der Richterschaft, Sicherungsverwahrung anzuordnen, ist keineswegs übermäßig ausgeprägt. Hier hilft eine klare Gesetzesfassung und natürlich die gesetzlich vorgeschriebene Einschaltung eines Sachverständigen. Schließlich achtet auch der BGH sehr genau auf die Einhaltung des Gesetzes und die Stichhaltigkeit der richterlichen Begründung.
LTO: Die Fälle der nachträglichen Sicherungsverwahrung sind häufig dadurch geprägt, dass Richter die Anordnung der Sicherungsverwahrung oder deren Vorbehalt versäumt haben, obwohl sich eine solche Maßnahme aufgedrängt hätte.
Nehm: Ja, in der Tat ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung zumeist deshalb notwendig geworden, weil eine sorgfältige sachverständig untermauerte Prüfung im Strafverfahren unterblieben ist. Hier konnte allerdings auch die nachträgliche Sicherungsverwahrung nicht helfen, weil deren Anordnung auf neuen Fakten beruhen musste, eine nachträgliche Korrektur tatrichterlicher Versäumnisse deshalb nicht in Betracht kam. Hier wäre es Aufgabe der Staatsanwaltschaft gewesen, das Urteil insoweit mit der Revision anzufechten.
Dieses fortbestehende Manko könnte der Gesetzgeber vermeiden. Bei bestimmten schwerwiegenden Delikten mit erheblichem Gefährdungspotential, wie etwa in Fällen der Mordlust oder bei schweren hangbedingten Sexualdelikten sollte er das Regel-Ausnahmeverhältnis umkehren. Wenn in diesen genau zu beschreibenden Fällen die Sicherungsverwahrung kraft Gesetzes regelmäßig zumindest vorzubehalten wäre, müsste der Richter dezidiert begründen, warum er dies im konkreten Fall nicht für erforderlich hält. Damit könnte das Problem der nachträglichen Sicherungsverwahrung europarechtskonform wesentlich entschärft werden.
"Führungsaufsicht sieht engere Kontrolle vor"
LTO: Kommen wir zum zweiten Punkt des Eckpunktepapiers, der verstärkten Führungsaufsicht. Was ändert sich hier?
Nehm: Die Führungsaufsicht sieht bisher so aus, dass sich die Betroffenen in Freiheit bewegen konnten. Sie unterlagen der Aufsicht der Aufsichtsstelle und eines Bewährungshelfers. Das diente nicht nur der Kontrolle, sondern insbesondere der Lebenshilfe jeder Art. Die geplante Führungsaufsicht sieht eine engere Führung vor. Die Betroffenen werden intensiver kontrolliert. Dies soll auch die elektronische Aufenthaltsüberwachung sicherstellen, mit deren Hilfe überprüft werden kann, ob sich der Proband in einem Bereich aufhält, der für ihn mit besonderen Versuchungen verbunden ist. Neu ist auch, dass die Führungsaufsicht bei Gewalttätern unbefristet verlängert werden darf.
LTO: Wie genau kann ich mir die Überwachung mit einer Fußfessel vorstellen?
Nehm: Die technischen Möglichkeiten scheinen, soweit mir bekannt ist, bereits recht ausgereift zu sein. Bei entsprechendem Personaleinsatz dürfte damit eine fast lückenlose Kontrolle möglich sein. Eine Garantie zur Verhinderung von Straftaten gibt sie allerdings nicht. Für die elektronische Fußfessel gibt es keine gesetzliche Regelung. Sie schränkt die Freiheit der Betroffenen aber soweit ein, dass der Gesetzgeber ihren Einsatz regeln muss.
LTO: Gegen wen kann die strengere Führungsaufsicht angeordnet werden?
Nehm: Das würde für entlassene Straftäter gelten, die nach bisherigem Recht unter ständiger Kontrolle gehalten werden müssen, ohne sie in Haft nehmen zu können. Sie bleibt beschränkt auf Taten, die erhebliche Schäden für die potentiellen Opfer mit sich bringen. Der mittlere Bereich der Kriminalität dürfte auch bei mehrfacher Wiederholung davon nicht berührt sein.
LTO: Hier wird es sicher Stimmen geben, die eine Ausweitung der Führungsaufsicht auch auf weniger schwere Delikte fordern.
Nehm: Eine effektive Führungsaufsicht ist sehr personalintensiv. Bei der heutigen Finanz- und Personalausstattung kann niemand Interesse daran haben, Ressourcen zu verschwenden. Wir wissen, dass es eine gewisse Rückfallquote gibt und immer geben wird. Damit muss die Gesellschaft leben.
"Therapeutische Maßnahme ersetzt Sicherungsverwahrung"
LTO: Zum dritten Punkt des Eckpunktepapiers, dem "Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter". Für welche Fälle ist es anwendbar?
Nehm: Nehmen wir an, jemand ist wegen eines schweren hangbedingten Sittlichkeitsdelikts verurteilt worden. Die Sicherungsverwahrung war vom Strafrichter weder angeordnet noch vorbehalten worden. Zeigt sich im Verlaufe des Strafvollzugs, dass der Verurteilte zum Beispiel regelmäßig gegenüber dem Anstaltspersonal oder gegenüber Mitgefangenen gewalttätig wird oder zeigen sexuelle Gewaltphantasien in Zusammenhang mit seinen Vortaten, dass in Freiheit entsprechende Taten mit Sicherheit zu erwarten sind, könnte nach den Vorstellungen eine Therapiehaft angeordnet werden. Was heute auf dem Wege nachträglicher Sicherungsverwahrung geschieht, wird dann durch eine therapeutische Maßnahme ersetzt. Diese Maßnahme soll außerhalb des Strafrechts geregelt werden. So soll zum Beispiel eine Zivilkammer über die Unterbringung entscheiden.
LTO: Greift das Gesetz auch für die Altfälle, die nach dem EGMR-Urteil frei gelassen werden müssen?
Nehm: Das wird mit dem Eckpunktepapier angestrebt. Würde der Gesetzgeber das nicht machen, blieben diese Menschen trotz der von ihnen ausgehenden Gefahren auf freiem Fuß. Dann müsste die Polizei den Betroffenen hinterherlaufen.
LTO: Ist ein nahtloser Übergang gewährleistet?
Nehm: Die Altfälle würden aus der nachträglichen Sicherungsverwahrung in eine therapeutische Maßnahme überführt werden können. Betroffene, die bereits auf freiem Fuß sind, würden, soweit die gesetzlichen Voraussetzungen gegeben sind, erneut inhaftiert.
"Therapieanstalten werden über die neue Klientel nicht glücklich sein"
LTO: Gibt es bereits geeignete Anstalten mit Sicherheitsstandard für solche hochgefährlichen Therapiepatienten?
Nehm: Die Vollstreckung der nachträglichen Sicherungsverwahrung erfolgte in den Justizvollzugsanstalten, wenn auch in besonderen Abteilungen weitgehend nach den Regeln, die auch für Strafgefangene gelten. Die Unterbringung nach dem neuen Gesetz, soll in Anstalten erfolgen, für die die Länder zuständig sind. Solche Einrichtungen haben nicht mehr Strafanstalts- sondern Heilanstaltscharakter. Das primäre Ziel ist, den Untergebrachten zu therapieren, damit er irgendwann wieder in die Freiheit entlassen werden kann.
Dies ist zum Beispiel möglich in den bestehenden Landeskrankenhäusern, die bereits heute Maßregeln der Besserung und Sicherung vollziehen. Sie sind wie Haftanstalten gesichert. Der Unterschied besteht aber in einer wesentlich freundlicheren Umgebung wie etwa in der Unterbringung in offenen Wohngruppen.
Ich bezweifle allerdings, dass die Anstalten, die normalerweise kranke Straftäter, Trinker und Drogenabhängige behandeln, über die neue Klientel besonders glücklich sein werden. Das gilt nicht nur wegen der nur schwer therapierbaren Patienten. So ist auch nach dem Eckpunktepapier völlig unklar, was mit nicht therapierbaren oder absolut therapieunwilligen Patienten zu geschehen hat. Hier steht der Gesetzgeber noch vor erheblichen verfassungsrechtlichen Problemen.
LTO: Sie sprachen die Gutachter an. Welche Rolle spielen sie bei der neuen Regelung?
Nehm: Die Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung soll von der Zivilkammer nur angeordnet werden können, wenn zwei externe – also nicht im Vollzug beschäftigte – Gutachter eine psychische Störung sowie eine darauf beruhende Gefahr bescheinigen.
Die Gutachter waren in den vergangenen Jahren euphorischer als heute. So war weitgehend Konsens, dass innerhalb einer 10-Jahres-Frist eine Heilung bzw. eine Änderung der Verhaltensweise herbeigeführt werden könnte. Von dieser Auffassung ist die Wissenschaft unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse in beachtlichem Maße abgerückt.
Im Grunde genommen ist es ja so, dass beispielsweise die Prädisposotion zur Pädophilie im medizinischen Sinne kaum heilbar ist. Es geht stattdessen darum, den Betroffenen die Einsicht zu vermitteln, sich von kritischen Situationen und Bereichen fernzuhalten, in denen sie potentielle Opfer antreffen und in Gefahr bringen.
"Der einzig gangbare Weg"
LTO: Halten Sie das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung für ausreichend?
Nehm: Die Zielsetzung der strafrechtlichen Sicherungsverwahrung und der Therapierung nach der Strafhaft stellt unter den gegebenen rechtlichen Rahmenbedingungen den einzig gangbaren Weg dar. Aber es lauern Tücken im Detail. Neben der angesprochenen Frage der Nichttherapierbarkeit wird vor allem die Umsetzung den Ländern erhebliche Probleme bereiten. Wo sollen zum Beispiel die benötigten externen Gutachter und die behandelnden Therapeuten in ausreichender Zahl herkommen? Und können die Länder genug geeignete Räume für die Unterbringung zur Verfügung stellen? Nicht zuletzt ist fraglich, ob diejenigen, die man mit der therapeutischen Maßnahme erreichen will, tatsächlich die gesetzlichen Voraussetzungen der Unterbringung erfüllen. Darüber haben sich die Verfasser des Eckpunktepapiers offenbar keine Gedanken gemacht haben.
LTO: Wenn Sie die vorgesehene Lösung insgesamt betrachten – wie lautet Ihr Fazit?
Nehm: Es ist das gemacht worden, was man nach dem EGMR-Beschluss machen konnte. Die Zurücknahme der Sicherungsverwahrung in den Fällen, in denen keine besondere Gefahr für andere Menschen besteht, die Verbesserung der Führungsaufsicht und die Unterbringung zur Therapierung in Fällen, in denen sich Unterbringungsgründe erst nachträglich ergeben. Diese Regelung würde auch die europarechtlich beanstandeten Altfälle betreffen. Der eingeschlagene Weg trägt den Sicherheitsbedürfnissen der Gesellschaft so weit als möglich Rechnung, vermeidet aber die Risiken, die in der europäischen Rechtsprechung begründet sind. Es wäre verhängnisvoll, jetzt unter Zeit- und Situationsdruck eine Regelung durchzusetzen, die erneut den Keim des Scheiterns birgt. Die Sicherungsverwahrung im weitesten Sinne taugt wegen ihrer zeitlichen Dimensionen nicht für gesetzgeberische Experimente. Auf den Gesetzgeber wartet jedenfalls noch viel Arbeit.
Kay Nehm ist ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof und Generalbundesanwalt a.D.
Das Interview führten Moritz von Bismarck, Ingo Mahl und Christian Dülpers.
Kay Nehm zur Neuregelung der Sicherungsverwahrung: . In: Legal Tribune Online, 01.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1343 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag