In Brandenburg mussten sich die Arbeitsgerichte in den vergangenen Monaten immer wieder mit Klagen der Jobcenter gegen Unternehmen wegen sittenwidriger Löhne beschäftigen. Im Interview erklärt Olaf Möller von der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit, ab wann ein Lohn sittenwidrig ist und warum auch ein gesetzlicher Mindestlohn die Niedriglohnklagen nicht überflüssig machen wird.
LTO: In Brandenburg haben bereits mehrere Jobcenter vor den Arbeitsgerichten gegen sittenwidrige Löhne geklagt und Recht bekommen. Auf welche Anspruchsgrundlage stützen sie ihre Klagen?
Möller: Anspruchsgrundlage ist § 115 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) i.V.m. § 33 Abs. 5 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Danach geht der Anspruch des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber auf eine Vergütung auf das Jobcenter über, soweit der Arbeitgeber den Anspruch nicht erfüllt hat und deshalb Sozialleistungen gezahlt werden müssen.
LTO: Und erfüllt hat der Arbeitgeber den Anspruch nicht, wenn er einen sittenwidrigen Lohn zahlt?
Möller: Genau.
LTO: Ab wann ist ein Lohn denn sittenwidrig?
Möller: Nach einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts ist ein Lohn sittenwidrig, wenn er nicht einmal zwei Drittel der ortsüblichen Vergütung beträgt (Urt. v. 22.04.2009, Az. 5 AZR 436/08).
LTO: Und zu was werden die Unternehmen dann verurteilt?
Möller: Sie müssen die Differenz zwischen dem gezahlten, sittenwidrigen Lohn und einer angemessenen Vergütung erstatten, wenn das Jobcenter in dieser Höhe etwa eine Aufstockung übernehmen musste.
Soweit ein Arbeitnehmer keine Sozialleistungen beansprucht hat, können wir allerdings nicht tätig werden. Dann haben wir nämlich keinen Schaden. Interessen für schlecht bezahlte Arbeitnehmer dürfen wir nicht vertreten, dafür haben wir keinen gesetzlichen Auftrag. Uns trifft vielmehr eine Neutralitätspflicht.
"Sittenwidrige Löhne auch für Konkurrenzunternehmen ein Problem"
LTO: Welches Ziel verfolgen die brandenburgischen Jobcenter damit?
Möller: Zunächst geht es darum, den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen, Ansprüche wegen sittenwidriger Lohnzahlungen durchzusetzen. Je lückenloser und konsequenter wir das angehen, desto eher wird das auch eine präventive Wirkung gegenüber den Arbeitgebern haben. Sittenwidrige Löhne sind ja nicht nur für die jeweiligen Arbeitnehmer ein Problem, sondern auch für konkurrierende Unternehmen, die angemessene Gehälter zahlen. Außerdem sollen die Steuer- und Sozialsysteme natürlich entlastet werden.
LTO: Das hört sich nach einem koordinierten Vorgehen an. Wer plant das alles?
Möller: Jedes Jobcenter ist verpflichtet, Ansprüche aus sittenwidrigen Lohnzahlungen aufzugreifen. Die Jobcenter in Brandenburg und Berlin haben deshalb intern entsprechende Prozesse implementiert, agieren dabei aber eigenverantwortlich. Die Regionaldirektion unterstützt den Netzwerkaufbau und den Austausch aktiv.
§ 115 SGB X gibt es ja schon länger. So richtig durchgesetzt wird der Anspruch aber erst seit etwa zwei Jahren. Die Zentrale der Bundesagentur für Arbeit hat allen Jobcentern entsprechende Arbeitshilfen zur Verfügung gestellt und guckt auch darauf, dass die Ansprüche geltend gemacht werden.
LTO: Folgen andere Bundesländer Ihrem Vorbild?
Möller: Das wissen wir nicht. Ein Austausch findet da nicht statt.
LTO: Wie viele Verfahren sind aktuell noch geplant?
Möller: Das erfassen wir nicht. Außerdem streben die Jobcenter, bevor sie den Klageweg zum Arbeitsgericht beschreiten, eine gütliche Einigung mit dem Arbeitgeber an. Oft hat das Erfolg und außerdem den Vorteil, dass der Arbeitnehmer zukünftig zu einem tariflichen bzw. ortsüblichen Lohn weiterbeschäftigt wird.
Manchmal wird auch einfach die Stundenzahl reduziert. Wie viel Schwarzarbeit dabei entsteht, wissen wir natürlich nicht. Da haben wir keine Chance, das zu überprüfen.
"Ein gesetzlicher Mindestlohn würde die Niedriglohnklagen nicht erledigen"
LTO: Falls es demnächst doch einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn gibt, erledigen sich solche Niedriglohnklagen dann?
Möller: Nur bedingt. Ein gesetzlicher Mindestlohn schafft Klarheit über die Höhe des Anspruchs. Die Erfahrungen mit Branchen, in denen es bereits Mindestlöhne gibt, zeigt leider, dass Unternehmen wahrscheinlich auch versuchen werden, einen gesetzlichen Mindestlohn zu unterlaufen. Die Verfolgung der übergegangenen Ansprüche wird daher auch weiterhin eine wichtige Aufgabe der Jobcenter bleiben.
LTO: Sind diese krassen Fälle – wie 1,59 Euro die Stunde für einen Pizzalieferanten – Ausnahmen oder stellvertretend für viele Löhne im Land?
Möller: Die Jobcenter können nur übergegangene Ansprüche von Leistungsempfängern nach dem SGB II geltend machen. Wir haben daher keine vollständige Übersicht über alle sittenwidrigen Löhne im Land.
LTO: In einem Verfahren vor dem Arbeitsgericht Cottbus hatte sich das beklagte Unternehmen damit gewehrt, dass das Jobcenter es ungenügend beraten hätte (Az. 12 Ca 10848/13). Warum sollte das Jobcenter einen Arbeitgeber über die Höhe eines angemessenen Gehalts aufklären müssen?
Möller: Bei den Jobcentern gibt es tatsächlich auch einen Arbeitgeber-Service. Wenn dort ein Stellenangebot abgegeben oder eine Arbeitgeberförderung beantragt wird, müssen auch Angaben zum Gehalt für künftige Arbeitnehmer gemacht werden. Die Mitarbeiter des Jobcenters prüfen dann, ob das angegebene Gehalt mit tariflichen Mindestlöhnen vereinbar ist bzw. nicht sittenwidrig ist, wenn es keine speziellen gesetzlichen Vorgaben gibt.
LTO: Vielen Dank für das Interview.
Olaf Möller ist Pressesprecher der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit.
Die Fragen stellte Claudia Kornmeier.
Jobcenter klagen gegen sittenwidrige Löhne: . In: Legal Tribune Online, 06.11.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9964 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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