Ist Jiddisch nicht deutsch genug und eröffnet daher als Sprache auch nicht den Zugang zur deutschen Kultur? Volker Beck erläutert, wie u.a. der BGH mit dieser Begründung den Juden aus der UdSSR Entschädigungs- und Rentenansprüche verwehrte.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wünscht sich "ein klares Bekenntnis, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland ein Teil von uns sind, ein Teil unseres gemeinsamen Wir, sondern dass wir denen entschieden entgegentreten, die das noch oder wieder infrage stellen." Wenn das nicht nur so dahin gesagt sein soll, muss das auch die Infragestellung bisheriger diskriminierender Rechtspraktiken beinhalten, zumal diese auf fragwürdigen historisch-rechtlichen Setzungen beruhen.
Heute werden jedenfalls aus der Sowjetunion stammende Jüdinnen und Juden, von denen seit 1990 etwa 200.000 eingewandert sind, bei der Rente gegenüber den seitdem eingewanderten 2,2 Millionen Spätaussiedler:innen aus der UdSSR benachteiligt, obwohl die Ahnen beider Gruppen aus den deutschen Landen nach Osten gewandert waren – mit einer Begründung, die auf den Prüfstand gehört.
So haben deutsche Verwaltungen und deutsche Gerichte den aschkenasischen Jüdinnen und Juden – die größte ethno-religiöse Gruppe im heutigen Judentum – ihre historische Muttersprache aus dem "deutschen Sprach- und Kulturkreis" schlichtweg herausdefiniert. Aschkenas steht in der talmudischen Tradition für die Gegend des späteren Deutschlands. Das "Mameloschn", "Teitsch" oder "Loschen Aschkenas"‘ (= Sprache Deutschlands), für die sich erst seit Ende des 19. Jahrhunderts in den USA die Bezeichnung "Yiddisch" durchsetzte, ist die historische Muttersprache der aschkenasischen Juden.
BGH: "Jiddisch vermittelt nicht den Zugang zur deutschen Kultur"
Ob die Begründungen dieser Praxis, die immer wieder auch von deutschen Gerichten abgenickt wurde, sprachwissenschaftlich und historisch so zu halten sind, hinterfragen Jiddisten, Historiker:innen und Sprachwissenschaftler:innen Ende Oktober bei einer Tagung in den Räumen der Konrad-Adenauer-Stiftung.
1973 sagte jedenfalls der Bundesgerichtshof (BGH) erstmals: "Nach Auffassung der Beschwerde soll (…) das Jiddische dem deutschen Sprachkreis zuzurechnen sein. Daraus ergibt sich keine grundsätzliche Rechtsfrage, die einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs bedarf. Jiddisch ist nicht Deutsch. Jiddisch ist die Sprache der Ostjuden; es vermittelt den Zugang zur jüdischen Kultur, nicht zur deutschen." (Beschl. v. 14.06.1973, Az. IX ZB 480/71) Sozialgerichte, sowie wie der BGH selbst im Jahr 1984, bestätigten und variierten diese Rechtsprechung in der Folge.
Die Aussagen des BGH sind nachweislich falsch: Jiddisch vermittelt den Zugang zur aschkenasischen (vom Rhein, aus den deutschen Landen stammenden) jüdischen Kultur, aber eben beispielsweise nicht zur sepharadischen (von der iberischen Halbinsel stammenden) und ihrer Sprache das Ladino. Es gibt zahlreiche jüdische Sprachen, nicht nur das Jiddische. Dieser Umstand scheint den deutschen Obergerichten völlig entgangen zu sein. Zumindest haben sie ihn nicht verstanden.
Völkische Identitätsdefinitionen und ein nationalistischer, anachronistischer Blick in die Geschichte hatten auch Einfluss auf den Umgang mit dem Jiddischen und der Aufnahme und Entschädigung aschkenasischer Jüdinnen und Juden durch die Bundesrepublik.
Widersprüchliche Einschätzungen des Deutschen Bundestages?
Es wurde dabei ein apodiktischer Gegensatz von jüdischer und deutscher Kultur aufgebaut. In Sonntagsreden – also wenn es mal nicht ums Geld geht – wird hingegen ein ganz anderes Verhältnis beschworen. Richtig ist allerdings, dass die Rechtsprechung auf der Linie des Gesetzgebers war: Der Bundestag sagte noch 1989 einhellig im Zusammenhang mit dem Fremdrentengesetz: "Die Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis bedeute, dass Deutsch wie eine Muttersprache im persönlichen Bereich überwiegend benutzt worden sein müsse und dadurch ein Zugang zur deutschen Kultur möglich gewesen sei."
Von Mehrsprachigkeit, von einer kritischen Reflexion der deutschen Geschichte keine Spur. Ebenso wenig zeugt die erwähnte Stellungnahme von einer historisch-kritischen Verwendung des Begriffes der "deutschen Kultur". Es ist übrigens der gleiche Bundestag, es sind die gleichen Fraktionen, die nur ein Jahr später angesichts der Chance auf jüdische Zuwanderung aus der Sowjetunion von der "Revitalisierung des jüdischen Elements im deutschen Kultur- und Geistesleben" träumen, die glauben, dass die sowjetischen Juden "unsere Mitbürger werden können", die sich beim Jiddischen an den "wundersame[n] Klang mittelalterlichen deutschen Sprechens" erinnert fühlen (BT-Pl.-Prt. 11/231, S. 18359–64; 11/234, S. 18740–7). Leider ohne Konsequenz.
Der Jiddist Simon Neuberg erinnert, dass "das Jiddische mit dem Deutschen kulturell durch seine ganze Geschichte verbunden ist, – und was das Westjiddische angeht, bis ins 18. Jh. zur Kulturgeschichte in Deutschland gehört". Germanist:innen und Jiddisten können den vielfältigen kulturellen Austausch zwischen der Jiddischen und Deutschen Kultur belegen.
"Kultureller Vorposten des Deutschtums im Osten"?
Aufgrund der Pogrome während der Kreuzzüge und der Großen Pest verschob sich durch Vertreibung und der Emigration das Zentrum des ashkenasischen Judentums von West- und Mittel- nach Osteuropa, zwischen Köln, Metz und Regensburg im 15. und 16. Jahrhundert nach Polen und Litauen. In dieser Zeit sprachen jüdische und christliche Nachbarn überwiegend noch die gleichen Dialekte. Die Auseinanderentwicklung mit Minderheitensprachen in einer zumindest beim Ostjiddischen fremdsprachigen Umgebung begann in jener Zeit.
Die Zuschreibung von Hochsprache und Dialekt, die Betrachtung von Gemeinsamen und Differentem, das Bewusstsein einer Sprachgemeinschaft sind Ausdruck wie Gegenstand politischer Machtverhältnisse. Die jiddische Sprache und Kultur waren in den letzten Jahrhunderten vielfach Spielball der Politik. Während des Ersten Weltkrieges gab es in Deutschland eine Diskussion, ob man die Jiddisch sprechenden Jüdinnen und Juden als "kulturellen Vorposten des Deutschtums im Osten" betrachten könne. Die UdSSR erkannte das Jiddische als Nationalsprache der sowjetischen Juden und unterdrückte das Hebräische. Die zionistische Bewegung und Israel machten Ivrit, das moderne Hebräisch, zur Sprache ihres Staates.
Auch in der Sprachwissenschaft wurde um den Rang des Jiddischen gestritten. Der bedeutende Sprachwissenschaftler und Jiddist Max Weinreich brachte es auf den Punkt: "Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Marine." Wer die Willkür von dergleichen normativen Setzungen nachvollziehen will, werfe nur einen Blick in eine x-beliebige Kommentierung des § 23 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG): "Die Qualifizierung einer Sprache als Regional- oder Minderheitensprache, schließt nicht aus, dass diese zugleich als Mundart (Dialekt) einer anderen Amtssprache zu werten ist", heißt es etwa im VwVfG-Standardkommentar Steltken/Bonk/Sachs. Und nicht nur das: So ist das Lëtzebuergesch Amtsprache in Luxemburg und zugleich lediglich eine moselfränkische Sprachvarietät des Westmitteldeutschen.
"Deutscher Sprach- und Kulturkreis"
Dem Eingang der Rechtsfigur des "deutschen Sprach- und Kulturkreis" in die deutsche Gesetzgebung verdanken wir einer Rechtstradition und -entwicklung, die Grund genug sein sollte, bisherige Begriffsprägungen in Frage zu stellen. Mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz von 1913 wurde das ius sanguinis zum Kern deutschen Staatsvolksverständnis. Man reagierte damit auf eine Notwendigkeit der Kolonialgeschichte: Die Staatsbürgerschaft geht durch Abwesenheit vom Mutterland nicht verloren, sondern kann auch in der Fremde auf Nachkommen übertragen werden, ohne dass die Kolonisierten ebenfalls in diesen Genuss kommen.
Das hatte Weiterungen: 1939 formulierte ein Runderlass des Reichsinnenministeriums "Deutscher Volkszugehöriger ist, wer sich als Angehöriger des deutschen Volkes bekennt, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Tatsachen, wie Sprache, Erziehung, Kultur usw. bestätigt wird." Fast wortgleich ging diese Definition dieses Erlasses in das Bundesvertriebenengesetz ein. An Hans Globkes (ehem. NS-Verwaltungsjurist und späterer Chef des Bundeskanzleramtes) damaliger Interpretation, dass "Personen artfremden Blutes (sic!), insbesondere Juden und Zigeuner,(…) jedoch niemals deutsche Volkszugehörige [sind], auch wenn sie sich etwa bisher in der Tschecho-Slowakei zur deutschen Nationalität gerechnet haben sollten", hielt man freilich nicht fest.
Im Bundesentschädigungs- und Fremdrentengesetz verzichtet man zudem auf das Bekenntnis zum "deutschen Volkstum"; das wollte man von Jüdinnen und Juden angesichts der Shoah dann doch nicht verlangen, substituierte es aber durch die Zugehörigkeit zum "deutschen Sprach- und Kulturkreis". Das zugrunde gelegte Verständnis, dass man nicht gleichzeitig jüdische und deutsche Wertvorstellungen hegen oder Traditionen pflegen konnte, lässt sich aber heute nicht ernsthaft aufrechterhalten. Hier hatte sich durch die Hintertür doch ein völkisch-nationalistisches Geschichtsverständnis eingeschlichen.
Deutschland sollte das Jiddische besonders schützen
Aus historischer Verantwortung sollte die Bundesrepublik des in Deutschland traditionellen Westjiddischen und das Ostjiddische in den Schutz der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen aufnehmen. Bislang schützt Deutschland nur Dänisch, Sorbisch, Friesisch, Romanes, Niederdeutsch. Finnland z.B. schützt angesichts von 50 Jiddisch-Sprechenden die Jiddische Sprache insgesamt.
Deutschland hat das trotz seiner Verantwortung für die Zerstörung der kulturellen Jiddischen Infrastruktur in Polen und der Sowjetunion, der Ermordung von Millionen Mitgliedern dieser Sprachgemeinschaft keinen relevanten Beitrag zur Bewahrung der jiddischen Sprache und Kultur geleistet. Die jiddische Sprache und Kultur sind Teil der 1.700 Jahre jüdischen Lebens, das unser Land in diesem Jahr feiert. Höchste Zeit für Konsequenzen.
Der Autor Volker Beck war von 1994 bis 2017 Mitglied des Deutschen Bundestag. Er war in dieser Zeit u.a. Erster parlamentarischer Geschäftsführer sowie rechts- und religionspolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Derzeit arbeitet Beck als Lehrbeauftragter für Religionspolitik am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum. Zudem ist er Geschäftsführer des Tikvah Institut gUG, in dem Strategien gegen Antisemitismus entwickelt werden.
Jüdische Sprache im Recht: . In: Legal Tribune Online, 16.10.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/46373 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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