Die rechtsgerichtete israelische Koalition arbeitet konsequent an der Schwächung rechtsstaatlicher Strukturen. Die nächsten, noch drastischeren Gesetzgebungsvorhaben folgen nach der Sommerpause des Parlaments, zeigt Elmar Esser.
Nur Stunden, nachdem die Knesset am 24. Juli 2023 das umstrittene Gesetz verabschiedet hatte, das die Befugnis des Supreme Court zur Überprüfung von Entscheidungen der Regierung einschränkt, wurden bereits die nächsten Gesetzentwürfe angekündigt. Ganz oben auf der Prioritätenliste der Koalition von Premierminister Benjamin Netanjahu steht ein Gesetzgebungsvorhaben, mit dem die Politik unmittelbaren Einfluss auf die künftige Rechtsprechung des Supreme Court gewinnen will.
Konkret will man dies mit einschneidenden Änderungen des Richterwahlverfahrens erreichen. Einen Gesetzentwurf hierzu hatte die Koalition schon zu Beginn des Jahres vorgelegt. Erste Beratungen in der Knesset haben bereits stattgefunden. Doch wie ist der Status Quo und was soll sich ändern?
Der Supreme Court und die Gesetze in Israel
Israel hat keine geschriebene Verfassung, obwohl mit der Erklärung der Unabhängigkeit im Jahre 1948 vorgesehen war, dass die erste gewählte Knesset zügig eine solche erarbeiten sollte. Im Laufe der Jahre hat man sich damit beholfen, mittels einer Reihe von "Grundgesetzen" (sog. "Basic Laws") grundlegende Bestimmungen für einzelne Bereiche zu schaffen. Diese sollen eines Tages die Verfassung des Staates bilden. Insgesamt wurden bisher 13 Basic Laws verabschiedet, u.a. über die Knesset (1958), die Regierung (2001) und über die Menschenwürde und Freiheit (1992). Im Jahre 1984 wurde das Basic Law "Judikative" verabschiedet, das insbesondere die Grundlage für das Richterwahlverfahren bildet.
Basic Laws können von der Knesset mit einer einfachen Mehrheit beschlossen werden. Dies gilt in der Regel auch für Gesetze zur Änderung eines Basic Law, es sei denn, es ist im zu ändernden Gesetz selbst dafür eine qualifizierte Mehrheit vorgesehen. In keinem Basic Law ist aber eine größere Mehrheit als 61 Stimmen in der Knesset vorgeschrieben – und die rechtsreligiöse Koalition verfügt über 64 von 120 Sitzen.
Im Jahre 1995 aber hatte der Supreme Court im Verfahren "Mizrahi-Bank" mit einer Grundsatzentscheidung verfassungsrechtliches Neuland beschritten. Damals hob der Supreme Court ein einfaches Gesetz wegen Verstoßes gegen das Basic Law: "Menschenwürde und Freiheit" auf. Zudem entschied er, dass Basic Laws in Israel einen "übergesetzlichen" verfassungsrechtlichen Rang innehaben und der Supreme Court dazu ermächtigt ist, die Gesetzgebung der Knesset im Rahmen der richterlichen Kontrolle am Maßstab der Grundgesetze zu messen. Und dies auch dann, wenn diese Kompetenz nicht ausdrücklich in den Basic Laws verankert ist.
Dieses Urteil wird als der Beginn der sog. "verfassungsrechtlichen Revolution" des Supreme Court angesehen. Hieran nehmen die rechten Parteien seit langem Anstoß. Es ist erklärtes Ziel der Koalition, diese Macht des Supreme Court zu brechen.
Keine Richterposition ohne langjährige Erfahrung
Dafür will die Regierung in Israel nun auch die über das Basic Law "Judikative" geregelten Richterwahlen ändern. Auf der Basis dieses Gesetzes – sowie weiterer einfach-gesetzlicher Regelungen – werden alle Richter in Israel auf allen Ebenen von einem Richterwahlausschuss ausgewählt und vom Staatspräsidenten ernannt.
Dem Ausschuss sitzt der Justizminister vor. Bewerber für eine Richterstelle an einem Magistrates Court (vergleichbar dem Amtsgericht) müssen zuvor mindestens fünf Jahre als Anwalt oder in der Justiz tätig gewesen sein oder Recht gelehrt haben sowie als Mitglied der israelischen Anwaltskammer (Israel Bar) registriert oder zur Registrierung berechtigt sein. Um Richter am District Court (vergleichbar dem Landgericht) zu werden, muss der Bewerber zuvor mindestens vier Jahre Richter am Magistrates‘ Court gewesen sein.
Dem Richterwahlausschuss in seiner jetzigen Form gehören neun Mitglieder an:
- zwei Vertreter der Knesset (Koalition und Opposition)
- zwei Minister (darunter der Justizminister)
- zwei Vertreter der Israel Bar (der nationalen Anwaltskammer)
- drei Richter des Supreme Court (darunter die Präsidentin).
Der Ausschuss entscheidet auch über Beförderungen, Versetzungen an andere Gerichte etc. Bei Ernennung von Richtern zum Supreme Court muss im Ausschuss ein Quorum erreicht werden. Der Präsidentin des Supreme Court kommt insgesamt in vielen Fragen im Zusammenhang mit der Ernennung, Versetzung oder Beförderung von Richtern eine besondere Stellung zu. Vielfach bedarf es ihrer Zustimmung.
Richter amtieren in Israel bis zu ihrem 70. Lebensjahr und genießen sachliche, persönliche und institutionelle Unabhängigkeit.
Die bisherige Zusammensetzung des Richterwahlausschusses gewährleistet ein erhebliches Mitspracherecht der Richter- und der Anwaltschaft bei sämtlichen Entscheidungen in Bezug auf Richter. In der Vergangenheit waren Regierungen immer wieder dazu gezwungen, im Wege der Verständigung mit den anderen Ausschussmitgliedern Kompromisse einzugehen.
Ziel: "Loyale" Richter für den Supreme Court
Dies wollen die die Koalition tragenden Parteien nunmehr ändern. Ziel ist es, insbesondere den als "aktionistisch" verunglimpften Supreme Court in den Griff zu bekommen, in dem man (Regierungs-) "loyale" Richter dorthin entsendet.
Erreicht werden soll dies durch eine Änderung der Zusammensetzung des Richterwahlausschusses. Diesem sollen künftig elf oder noch mehr Mitglieder angehören, darunter sogenannte "Vertreter der Öffentlichkeit", die vom Justizminister benannt werden. Die Anwaltschaft soll keine Vertreter in den Ausschuss mehr entsenden können. Die Regierung hätte damit insgesamt eine Mehrheit in dem Ausschuss und könnte frei schalten und walten.
Die Pläne der Koalition insbesondere in Bezug auf den Supreme Court gehen aber noch weiter. Man wendet sich auch gegen die seit Jahrzehnten gepflegte Übung, dass stets der/die dienstälteste Richter/-in in das Amt des Präsidenten des Supreme Court nachrückt (Senioritätsprinzip). Künftig will man auch den Präsidenten nach dem neuen Verfahren berufen. Dies auch dann, wenn der Kandidat bis dato nicht Richter des Supreme Court war.
Vertreter der Koalition, allen voran Justizminister Yariv Levin, drängen darauf, das Gesetz, das als Herzstück des Umbaus des israelischen Rechtsstaates bezeichnet wird, so schnell wie möglich zu verabschieden. Denn damit könnte bereits im Herbst die Nachbesetzung für die Stelle der Präsidentin des Supreme Court Esther Hayut und einer weiteren Richterin nach dem neuen Verfahren durchgeführt werden. Beide treten regulär wegen Erreichens der Altersgrenze im Oktober in den Ruhestand.
Supreme Court hat bisher kein Grundgesetz verworfen
Für die amtierende Regierungskoalition wird es mit ihrer Mehrheit ein Leichtes sein, ihre Pläne umzusetzen. Gegen ein Gesetz zur Änderung des Richterwahlverfahrens jedoch würden mit Sicherheit Klagen vor dem Supreme Court als High Court of Justice (hebräisch: "Bagatz") erhoben – auch wenn der Supreme Court bisher noch kein Basic Law als verfassungswidrig verworfen hat.
Dies dürfte die höchst kontrovers geführte Debatte weiter anheizen, welche Rolle die vom Supreme Court im Fall "Mizrahi-Bank" getroffene Grundsatzentscheidung im Verfahren bei der Überprüfung eines Basic Law spielen wird.
Auch jetzt setzt die Koalition darauf, dass der Supreme Court es mangels explizit gesetzlich und nur durch Richterrecht zugewiesener Kompetenz es nicht wagen wird, Basic Laws wie das zur Änderung des Richterwahlverfahrens zu verwerfen. Sollte dies doch geschehen, befände sich Israel in einer veritablen Verfassungskrise – die Regierungskoalition würde eine derartige Rechtsprechung womöglich nicht akzeptieren.
Premierminister Netanjahu war in einem Interview mit dem amerikanischen Sender CNN am Donnerstag vergangener Woche jedenfalls trotz ausdrücklicher Nachfrage nicht zu einer Aussage bereit, dass die Regierung eine solche Entscheidung in Bezug auf das beschlossene Gesetz zum Verbot der Angemessenheitsprüfung durch den Supreme Court akzeptieren würde.
Akzeptanz einer Entscheidung durch die Regierung?
Eine solche Haltung der Regierung stünde auch bei einer Entscheidung über ein Gesetz zur Änderung des Richterwahlverfahrens zu befürchten. Erste Überlegungen, dem Supreme Court durch ein Basic Law die Verwerfungskompetenz in Bezug auf Gesetze im verfassungsrechtlichen Rang zu nehmen, werden in der Koalition bereits diskutiert.
Aktuell setzt die Koalition alles daran, die Besetzung von Richterstellen bis zur Verabschiedung eines Gesetzes zur Änderung des Richterwahlverfahrens hinauszuzögern. Justizminister Levin beruft seit Monaten den Richterwahlausschuss nicht ein. Mehr als 50 Richterstellen bleiben dadurch derzeit unbesetzt. Eine Befassung des Supreme Court mit der Untätigkeit des Justizministers soll durch das Verbot der Anwendung des Angemessenheitsgrundsatzes verhindert werden. Bereits mit diesem in der letzten Woche verabschiedeten Gesetz wurde der Kreis zur Entmachtung des Supreme Court geschlossen.
Dies zeigt: Diese Koalition ist entschlossen, den Supreme Court mit allen Mitteln zu entmachten. Wenn diese Pläne Erfolg haben, liegt der Rechtsstaat in Israel in Trümmern.
Vergleich zur Rechtslage in Deutschland
In den sozialen Medien ist zuhauf zu lesen, die Aufregung in Israel sei unverständlich – auch in Deutschland würden die Richter am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) von der Politik bestimmt, eine Einbeziehung von Anwälten oder anderen Richtern in die Entscheidung sei hierzulande nicht vorgesehen.
Hierbei wird aber verkannt, dass Deutschland mit seiner föderalen Struktur gewährleistet, dass über die Berufung von Richtern an die obersten Gerichtshöfe des Bundes in einem demokratisch legitimierten Ausschuss, in dem Bund und Länder gleichberechtigt vertreten sind, entschieden wird. Diesem Verfahren ist also der Ausgleich widerstreitender Interessen immanent.
Diese wäre in Israel mit dem geplanten neuen Richterwahlverfahren, anders als bisher, nicht mehr der Fall. Dort hätte die Regierung künftig die Möglichkeit, Entscheidungen über Besetzungen von Richterstellen kraft eigener Autorität zu treffen. Es gäbe keine weitere Instanz, etwa eine zweite Parlamentskammer, mit der man sich verständigen müsste. Diese Entscheidungen wären zudem unanfechtbar.
Der Autor Rechtsanwalt Elmar Esser (Berlin) ist 1. Vorsitzender der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung e.V. (DIJV). Mehr zur DIJV, deren 27. Jahrestagung im Oktober in Israel stattfindet, unter dijv.de.
Israel treibt Demontage des Rechtsstaats voran: . In: Legal Tribune Online, 03.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52408 (abgerufen am: 23.11.2024 )
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