Bislang haben Unternehmen nicht viel zu befürchten, wenn ein Mitarbeiter eine Straftat mit Unternehmensbezug begeht. Im schlimmsten Fall drohen ein Bußgeld und ein Imageschaden. Der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty will deshalb ein spezifisches Unternehmensstrafrecht einführen. Im LTO-Interview erklärt er, warum Deutschland sich die Nachbarstaaten zum Vorbild nehmen sollte.
LTO: Herr Minister, alles nur Wahlkampfgetöse oder warum kommt Ihr Vorstoß zur Einführung eines spezifischen Unternehmensstrafrechts gerade jetzt, wenige Wochen vor der Landtagswahl in NRW?
Kutschaty: Von "Wahlkampfgetöse" kann keine Rede sein. Bereits vor etwa einem Jahr haben wir in meinem Haus ein Projekt gestartet, in dem der Reform- und der Optimierungsbedarf im strafrechtlichen Sanktionenrecht insgesamt untersucht und gegebenenfalls Lösungen entwickelt werden.
LTO: Eigentlich herrscht parteiübergreifend Konsens darüber, dass Bürokratie abgebaut werden soll. Warum wollen Sie dann neue Normen schaffen statt bestehendes Recht einfach konsequenter anzuwenden?
Kutschaty: Es geht mir zunächst darum, die Frage zu klären, ob das bestehende Recht ausreicht, um aus Unternehmen heraus begangene Straftaten hinreichend zu sanktionieren.
Aktuell gibt es in Deutschland nur Regelungen im Ordnungswidrigkeitenrecht, nämlich die Verbandsgeldbuße. Aber auch, wenn man diese umfassend ausschöpft, bestehen zum Teil noch Lücken und Begrenzungen bei der Ahndung von Straftaten aus Unternehmen heraus. Diese Probleme könnte man beheben, wenn man ein Unternehmensstrafrecht schafft.
"Die Bußgelder sind viel zu niedrig"
Ich denke etwa an die Fälle von so genannter "organisierter Unverantwortlichkeit", in denen zweifelsfrei feststeht, dass eine Straftat aus einem Unternehmen heraus begangen wurde. Häufig ist es jedoch aufgrund komplexer organisatorischer Unternehmensstrukturen nicht möglich, die Tat einer Individualtäterin oder einem Individualtäter zuzuordnen. Weil derzeit eine gesetzliche Lücke existiert, kann eine solche Unternehmensstraftat gar nicht, also nicht einmal als Ordnungswidrigkeit, sanktioniert werden.
In den übrigen Fällen ist der Ahndungsteil der möglichen Geldbuße im Regelfall auf 1 Million Euro begrenzt. Eine solche Grenze ist viel zu niedrig. Bei der gegenwärtigen Rechtslage geht das Unternehmen mit einer Straftat deshalb ein kalkulierbares Risiko ein.
LTO: Aber stehen Sie mit dieser Auffassung nicht ziemlich alleine da?
Kutschaty: Eine Reformbedürftigkeit des geltenden Rechts hat jüngst auch der Kartellrechtssenat des Bundesgerichtshofs (BGH) im Hinblick darauf bejaht, dass Unternehmen die Möglichkeit eröffnet ist, eine drohende bußgeldrechtliche Sanktion durch die gezielte Wahl gesellschaftsrechtlicher Gestaltungen zu umgehen. Ferner hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie Lücken im Gesetz bei der Rechtsnachfolge in der Bußgeldhaftung festgestellt.
Vor diesem Hintergrund sehe ich in Übereinstimmung mit der Mehrzahl meiner Amtskolleginnen und -kollegen sowie auch mit weiten Teilen der juristischen Fachliteratur ein grundsätzliches kriminalpolitisches Bedürfnis für ein neues Unternehmenssanktionsrecht.
Ob und in welcher Form wir neue Normen schaffen wollen, bleibt allerdings dem Ergebnis unserer weiteren Prüfung vorbehalten.
"Eine Unternehmensauflösung als ultima ratio sollte nicht ausgeschlossen sein"
LTO: Welche neuen Sanktionsmöglichkeiten gegen Unternehmen schweben Ihnen denn konkret vor?
Kutschaty: Denkbar sind beispielsweise umsatzbezogene Geldstrafen, der Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen sowie von Steuervorteilen und Subventionen oder Tätigkeitsverbote bis hin zur Betriebsschließung. Auch die Auflösung des Unternehmens als ultima ratio sollte nicht ausgeschlossen sein, etwa wenn das Unternehmen ausschließlich illegalen Zwecken dient. Schließlich kann es auch angebracht sein, eine Entscheidung zu veröffentlichen, durch die eine Sanktion verhängt wurde.
LTO: In der Vorlesung "Strafrecht AT" lernen Jurastudierende, dass sich nach deutschem Strafrecht nur ein Mensch strafbar machen kann. Daran knüpft auch die Zurechnungsnorm des § 14 Strafgesetzbuch (StGB) an. Mit diesem Grundsatz würde ein spezifisches Unternehmensrecht brechen. Inwiefern wäre dies überhaupt mit dem Schuldprinzip vereinbar?
Kutschaty: Das ist eine sehr berechtigte Frage, die wir uns natürlich auch gestellt haben. Bereits jetzt kann man dazu sagen, dass das Bundesverfassungsgericht das Schuldprinzip zuletzt vorwiegend aus der Menschenwürdegarantie des Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) hergeleitet hat. Die ist aber für Unternehmen nicht einschlägig. Denn diese sind nicht Träger von Menschenwürde.
Der Schuldgrundsatz ist zudem seinem Inhalt nach nicht an die sozial-ethischen Maßstäbe des strafrechtlichen Schuld- und Strafbegriffs gebunden. Auch eine Schuld von Unternehmen erscheint danach vorstellbar.
"Die Bedenken hinsichtlich des Schuldprinzips sind überwindbar"
Die geltende Vorschrift der Verbandsgeldbuße gemäß § 30 Ordnungswidrigkeitengesetz (OWiG) führt nach herrschender Meinung zur Bildung einer eigenen täterschaftlichen Norm und müsste sich daher auch am Schuldgrundsatz messen lassen. Ihre Verfassungsmäßigkeit wird aber nicht bezweifelt. Im Rahmen unserer Prüfung ziehen wir zudem auch Modelle mit Maßnahmen bzw. Maßregeln in Betracht, die sich von einem Schuldbegriff lösen. Außerdem möchte ich noch auf etwas hinweisen: Das Schuldprinzip ist auch international, insbesondere in Europa, als rechtsstaatliches Grundprinzip anerkannt. Die Diskussionen in einigen Nachbarstaaten, etwa in der Schweiz, in Österreich oder auch in Luxemburg, waren insoweit der in Deutschland geführten Diskussion sehr ähnlich.
Die jetzigen Regelwerke in diesen Staaten zeigen deshalb, dass die Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit eines Unternehmensstrafrechts mit dem Schuldprinzip überwindbar sind.
LTO: Welche Erfahrung mit spezifischem Unternehmensstrafrecht hat man denn im Ausland gemacht?
Kutschaty: Mit seiner gegenwärtigen Rechtslage nimmt Deutschland einen Inselstatus ein. Alle neun unmittelbaren Nachbarstaaten kennen inzwischen ein Unternehmensstrafrecht oder ein Quasi-Unternehmensstrafrecht:
"Das Unternehmensstrafrecht wirkt präventiv"
Die Niederlande seit 1976, Frankreich seit 1994, Dänemark seit 1996, Belgien seit 1999, die Schweiz seit 2003, Polen seit 2003, Österreich seit 2006, Luxemburg seit 2010 und Tschechien mit Wirkung zum 1. Januar 2012.
In den Staaten des anglo-amerikanischen Rechtskreises, also USA, Kanada und Großbritannien, hat die strafrechtliche Haftung von Unternehmen ohnehin bereits eine lange Tradition. Zudem verfügt auch eine Vielzahl weiterer europäischer Staaten, etwa Norwegen, Island, Finnland, Slowenien und auch Italien, über ein modernes Unternehmensstrafrecht.
Ganz aktuell kann ich über die Situation in Österreich berichten: Bei meinem Besuch einer Tagung des Strafrechtsauschusses der Bundesrechtsanwaltskammer am 24. Februar 2012 in Aachen hat ein Gastprofessor aus Österreich von seinen Erfahrungen mit dem dortigen Unternehmensstrafrecht berichtet, das 2006 eingeführt wurde. Seine Bilanz fiel sehr positiv aus. Nachdem es in der Anfangsphase nach Inkrafttreten des Verbandsverantwortlichkeitsgesetzes nur wenige entsprechende Verfahren gegeben habe, sei die Zahl inzwischen nahezu "explodiert". Praktisch alle Großverfahren würden nunmehr, zumindest auch, gegen Unternehmen geführt. Dabei zeige sich eine enorme präventive Wirkung des Unternehmensstrafrechts. Die Unternehmen fürchteten vor allem einen Imageschaden.
LTO: Sie sprechen gerade die Möglichkeit an, dass der Ruf eines Unternehmens bei strafrechtlichen Ermittlungen leidet. Birgt ein spezifisches Unternehmensstrafrecht nicht gerade die Gefahr, dass ein Unternehmen durch strafrechtlich relevantes Fehlverhalten einzelner Mitarbeiter in seiner Gesamtheit kriminalisiert wird?
"Ich strebe einen parteiübergreifenden Konsens an"
Kutschaty: Dieser Fall ist eher rechtstheoretischer Natur. Bereits nach derzeitiger Rechtslage ist ein Unternehmen für das strafrechtliche Fehlverhalten bestimmter Angestellter haftbar. Wenn eine Verbandsgeldbuße verhängt wird, ist das Unternehmen in der Regel auch Nebenbeteiligter des Strafverfahrens gegen die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter. Deren strafrechtliche Verantwortlichkeit soll durch unser Vorhaben nicht berührt werden.
Die von uns geprüfte weitergehende Unternehmenshaftung ist abhängig von der konkreten Ausgestaltung der erforderlichen Regelungen. Deren Aufgabe wäre es auch, einer eventuell für ungerecht erachteten "Kriminalisierung" eines Unternehmens vorzubeugen. Als zu verfolgende Taten kämen aber ohnehin nur solche in Betracht, bei denen die strafrechtlich relevante Tätigkeit oder Untätigkeit im Unternehmensbereich wurzelt und im Unternehmensinteresse ausgeführt worden ist.
LTO: Sie sind ein Landesminister und Ihre Partei ist im Bund lediglich in der Opposition. Somit sind die Erfolgsaussichten ihres Projekts sehr gering. Wie wollen Sie also erreichen, dass Ihr Vorschlag auch tatsächlich umgesetzt wird?
Kutschaty: Ich beabsichtige keinen Alleingang und auch keinen gesetzgeberischen Schnellschuss. Mein langfristig angelegtes Projekt beinhaltet eine intensive und ergebnisoffene Prüfung. Die Argumente aller Seiten sollen in unsere Betrachtungen einbezogen werden. Wir sind bereits in den Austausch mit Fachkreisen eingetreten und werden auch unsere Gerichte und Staatsanwaltschaften umfassend beteiligen. Am Ende strebe ich einen parteiübergreifenden Konsens an.
LTO: Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Constantin Körner.
Constantin Körner, NRW-Justizminister plant Unternehmensstrafrecht: . In: Legal Tribune Online, 09.04.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5965 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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