Interview mit Thomas Fischer: "Wenn Protest gegen Unsinn mich zum Rebell macht, bin ich gern einer"

"Ich kenne keinen anderen Senat, in dem so intensiv, offen und gleichberechtigt diskutiert wird"

LTO: Noch einmal zurück zur Beratungspraxis. Nehmen wir an, ich bin Richter in Ihrem Senat, und vertrete bei einer zur Entscheidung stehenden Rechtsfrage eine andere Meinung als Sie. Die übrigen Kollegen schwanken noch. Wie schwer ist in dieser Situation mein Leben?

Fischer: Das ist vermutlich eine Scherzfrage.

Ihr Leben ist so schwer, wie Sie und das Schicksal es machen. Ich werde darauf gewiss keinen Einfluss nehmen.

Die Frage gibt mir aber Gelegenheit zu einer kleinen Richtigstellung: Ein ehemaliger Dienstvorgesetzter, der mehrfach rechtswidrige – und daher von den zuständigen Verwaltungsgerichten aufgehobene - dienstliche Beurteilungen über mich erstellt hat, hat den öffentlich lancierten Versuch unternommen, mich als autoritäre Persönlichkeit zu desavouieren, die abweichende Meinungen zu unterdrücken und eigene Meinungen rücksichtslos durchzusetzen versuche.

Nichts davon ist richtig. Noch niemals habe ich einen BGH-Senat erlebt, in dem so intensiv, breit, offen und gleichberechtigt diskutiert wurde. Bei uns gibt es keine "Außenseiter" und keine "Rebellen". Wir sind sieben gleichberechtigte Richter, mit jeweils eigenen Vorstellungen und Meinungen. Es gibt weder einen vorgetäuschten Konsens noch einen "Vorgesetzten", denn die Position des "Vorsitzenden Richters" hat nach meiner Überzeugung mit der eines Vorgesetzten nichts zu tun. Soweit im Rahmen von Senatsbesprechungen Mitglieder des Senats Kritik an meinem "Führungsstil" formuliert haben, richtete sich diese gegen eine angeblich zu "antiautoritäre" Führung, gegen zu wenig "Bestimmung" und zu viel Zuweisung von Eigenverantwortlichkeit.

Ein schönes Beispiel zur Illustration: Nach meiner Ernennung zum Vorsitzenden des 2. Strafsenats habe ich in einer Rund-Verfügung die Kollegen des Senats gebeten, Entscheidungsentwürfe jeweils binnen spätestens drei Wochen nach der Beratung/Entscheidung vorzulegen. Ein Kollege beschwerte sich nach einem Jahr darüber, dass ich die Einhaltung dieser Frist durch ihn "nicht oft genug kontrolliert" hätte. Dazu kann ich nur sagen: Das stimmt. Wenn ein Bundesrichter ernstlich eines Oberlehrers bedürfte, der seine Hausaufgaben kontrolliert, wäre er eine eklatante Fehlbesetzung. 

"Natürlich betreibt der BGH auch Rechtspolitik"

LTO: Der 2. Strafsenat vertritt vielfach liberale Positionen und greift Kritik auf, die von der herrschenden Meinung in der Literatur seit Langem vertreten, von der Rechtsprechung aber vormals nicht beherzigt wurde. Sehen Sie hier eine mangelnde Bereitschaft einiger Kollegen, von einer einmal beschlossenen Linie abzuweichen? Und nach welchen Kriterien entscheiden Sie selbst, bis wohin Sie eine möglicherweise unbefriedigende Rechtsprechungslinie aufrechterhalten, bzw. ab wann sie damit brechen?

Fischer: Das Recht, auch das Strafrecht, ist keine statische, ein für allemal feststehende Materie, denn es besteht aus Sprache und normativen Vereinbarungen; beides verändert sich laufend. Anders gesagt: Bedeutungen ändern sich, weil sich die Lebensverhältnisse ändern. Es ist eine der Aufgaben der Obersten Gerichtshöfe, dem durch eine "Fortentwicklung des Rechts", d.h. der Auslegung der Gesetze, Rechnung zu tragen.

Das kann im Einzelfall einmal durchaus "abrupt" erfolgen, wenn eine jahrzehntelange "gefestigte Rechtsprechung" aufgegeben wird oder wenn Präzisierungen für bestimmte Fallgruppen erfolgen, die in dieser Form bisher noch nicht abgetrennt wurden.

In solchen Fällen muss selbstverständlich abgewogen werden, wie groß der Nutzen und die Notwendigkeit einer Änderung gegenüber dem Vorteil der "Stetigkeit" sind. Es gibt dafür keine allgemeinen Formeln; gewiss wird das von verschiedenen Richtern auch unterschiedlich beurteilt werden.

"Streit ist nicht das Gegenteil von Demokratie, sondern ihre Grundlage"

Das bloße Beharren auf eingefahrenen Meinungen hat kein besonderes Gewicht, wenn sich die Tatsachen oder deren Beurteilung geändert haben. Gelegentlich sind es auch Veränderungen der Mehrheitsverhältnisse in einem Senat oder im Gericht, die zu Änderungen der Rechtsprechung führen. Die Ansicht, die obersten Gerichtshöfe machten - insoweit - nicht auch Rechtspolitik oder gar, dies sei ihnen "verboten", ist falsch. Sie geht von einer sprachlich, inhaltlich, argumentativ "abschließenden" Regelung durch den Gesetzgeber aus, die vom jeweiligen Gericht nur noch "erkannt" werden müsse. Das ist nach meiner Ansicht Unsinn. Norm und Normanwendung stehen in einem komplizierten Wechselverhältnis.

Man nennt das Fortentwicklung des Rechts. Es ist eines der wesentlichen Aufgaben des Obersten Bundesgerichts. Der BGH betreibt dieses Geschäft seit nunmehr 70 Jahren – mal einstimmig, mal streitig, aber immer nach dem Gesetz. Der "Streit" ist, anders als die Medien meinen, nicht das Gegenteil von funktionierender Demokratie, sondern deren Grundlage. Es mag sein, dass das einigen anstrengend erscheint.

Es gibt viele gute Gründe, eine "einmal beschlossene Linie" beizubehalten.

Es gibt freilich auch weniger gute. Der 2. Strafsenat orientiert sich in seiner Rechtsprechung nicht daran, was "erwünscht", "üblich" oder "eine Linie" ist.

Zitiervorschlag

Constantin Baron van Lijnden, Interview mit Thomas Fischer: . In: Legal Tribune Online, 14.07.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16207 (abgerufen am: 04.11.2024 )

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