Verwaltungsakt oder Bewährungsstrafe per Algorithmus? Für wesentliche Entscheidungen sollte das Recht nicht nur einen Gesetzes- oder Richtervorbehalt vorsehen – sonst wird die Rechtsordnung unmenschlich, warnt Ferdinand Kirchhof.
LTO: Herr Kirchhof, vor gut einem Jahr haben sie Ihre Entlassungsurkunde als Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts entgegengenommen. Gab es in der Zwischenzeit ein Verfahren in Karlsruhe, an dem Sie nur zu gerne mitgewirkt hätten?
Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof: Wenn man aus dem Amt scheidet und weiß, was man dort für die Verfassung bewirken kann, dann würde man natürlich auch gerne weiter mitwirken. In einer Demokratie werden aber Ämter nur auf Zeit vergeben. Das ist auch richtig so. Ganz nebenbei: Es entlastet natürlich auch, die Verantwortung für die verbindliche Interpretation des Grundgesetzes einem Nachfolger zu übergeben.
Dieses Jahr wurde das Grundgesetz viel gefeiert für seine Zukunftsoffenheit. Wie gut gerüstet sehen Sie es?
Das Grundgesetz ist ein echter Glückfall. Das wird oft gesagt, aber es stimmt tatsächlich. Die Grundrechte geben eine klare Zielrichtung vor, ebenso die Staatszielbestimmungen der Demokratie und des Rechtsstaats. Das Grundgesetz ist schnörkellos formuliert; es hat mit den Gerichten einen starken Durchsetzungsmechanismus.
Wo sehen Sie die größten Herausforderungen?
Man sollte sehr vorsichtig sein, Neues ins Grundgesetz einzufügen und damit dessen Aussagen zu verwässern. Momentan gibt es viele Vorschläge, wie die Aufnahme von Grundrechten für Kinder oder eines Staatsziels der Nachhaltigkeit. Sie sind gut gemeint, aber häufig überflüssig, ja sogar risikobehaftet. Etliche Vorschläge sind auch nur tagespolitischer Natur und wegen ihrer Kurzfristigkeit nichts für das Grundgesetz. Dann halte ich es mit dem Grundsatz: Hände weg vom Grundgesetz! Aber es gibt durchaus auch gesellschaftliche und technische Änderungen, die es notwendig erscheinen lassen, sie mithilfe des Grundgesetzes in die richtigen Bahnen zu lenken.
"'Global player' haben große Informationsmacht, das ist auch eine Gewalt über Menschen."
Welche sind das?
Ich denke vor allem an die Digitalisierung und das Verhalten neuer "global player" auf dem Schauplatz Internet. Diese Unternehmen arbeiten grenzüberschreitend und mit großer Marktmacht. Der Staat hat Staatsgewalt aus seiner Souveränität, große Unternehmen haben die Macht des Geldes, und solche "global player" haben große Informationsmacht. Das ist auch eine Gewalt über Menschen. Auf solche Fakten muss eine freiheitliche Verfassung Antworten finden, um Freiheit zu erhalten.
Wo stellen diese Entwicklungen das Grundgesetz vor Probleme?
Im Schwerpunkt ist das Grundgesetz territorial begrenzt. Nur soweit die Staatsgewalt reicht, wirkt der Schutzauftrag des Grundgesetzes. In der Regel endet er an der deutschen Grenze. "Global player" agieren in anderen Rechtsordnungen oder in gar keiner Rechtsordnung. Diese Unternehmen schaffen sich ihre Verhaltensregeln selbst. Das zeigt sich bei den Betreibern von social-media-Plattformen. Sie entscheiden selbst darüber, welche Nachrichten sie priorisieren, welche Meinungsbeiträge sie streichen, ob sie ganze Themengebiete aus ihrem Angebot ausschließen. Da hat die deutsche Rechtsordnung zur Zeit noch wenig zu sagen.
Derzeit gibt es aber auch Versuche, solche Akteure darauf zu verpflichten, Ansprechstellen in Europa vorzuhalten oder sie mit Verträgen an nationale Rechtsordnungen zu binden …
Ja, man hat das Problem erkannt. Die "global player" sind darüber nicht begeistert, sehen aber, dass sie etwas tun müssen, um den Zugang zu den Märkten weiterhin zu behalten. Trotzdem versuchen sie unbeirrt, für sich selbst ausgedehnte Regelungsmöglichkeiten aus ökonomischen Gründen zu sichern. Wenn sich social-media-Anbieter etwa darauf einlassen, "unangemessene Beiträge" zu löschen, dann bestimmen sie selbst darüber, was "unangemessen" ist. Sperren sie so ganze Bereiche von politischen Meinungsäußerungen dabei aus, verarmt unser öffentlicher Diskurs.
Muss sich jeder Staat dann mit Akteuren wie Facebook an einen Tisch setzen und sie vertraglich binden, wie das zuletzt der französische Präsident Emmanuel Macron getan hat?
Gerade wegen diesen grenzüberschreitenden Herausforderungen könnte die Europäische Union besser solche "global player" binden und in die Pflicht nehmen. Ob Vertrag oder Unionsnorm, wichtig ist allein, für eine zuverlässige rechtliche Bindung zu sorgen. Wer als Bürger neue Internetdienste in Anspruch nimmt, soll sich auch auf den Schutz verlassen können, den er bisher verfassungsrechtlich bei allen anderen Medien erwarten konnte.
Das sind ja vor allem Fragen der Regulierung, wie könnte man über das Grundgesetz entgegensteuern?
Unter den Grundrechten ist in erster Linie Artikel 10 Grundgesetz, die Telekommunikationsfreiheit, von der Digitalisierung betroffen. Wenn wir elektronisch miteinander kommunizieren, soll der Dritte, also der Vermittler, nicht mithören. Artikel 10 Grundgesetz verpflichtet aber wie jedes Grundrecht allein den Staat. Gegen private Netzbetreiber schützt er nicht. Früher hatte die staatliche Deutsche Bundespost das Monopol bei der Telekommunikation. Damals passte der Art. 10 GG. Nun hat er jedoch seinen Verpflichtungsadressaten durch Privatisierung verloren. Damit läuft das Grundrecht leer. Der Gesetzgeber versucht, in mühsamen, einfachgesetzlichen Einzelregelungen des Telekommunikations- und des Medienrechts das verlorene, verfassungsrechtliche Terrain wiederzugewinnen. Sie können heute aber nicht mehr generell sagen, wenn jemand meine Kommunikation mithört, habe ich dagegen ein starkes Grundrecht im Rücken, gehe nach Karlsruhe und beschwere mich.
"Bei wesentlichen Entscheidungen brauchen wir einen 'Menschenvorbehalt'"
Also brauchen wir mehr Grundrechtsbindung zwischen Privaten?
Man könnte überlegen, ob einzelne Grundrechte wie der Artikel 10 GG unmittelbar für Private gelten sollten. Es existieren bereits in der EU-Charta Grundrechte, die gegenüber jedermann wirken, also auch zwischen Privaten. Dort werden große Unternehmen und Arbeitgeber unmittelbar verpflichtet. Die verfassungsrechtliche Delikatesse liegt nur darin, dass wir damit die vom Grundgesetz bisher sorgsam verfolgte Trennung von grundrechtsberechtigter Gesellschaft und grundrechtsverpflichtetem Staat partiell aufgeben würden.
Wird es nicht auch immer schwieriger, überhaupt Akteuren Verantwortung zuzuschreiben, wenn bei der Automatisierung undurchsichtige Ketten von Mitwirkenden entstehen?
Ich sehe dieses Problem vor allem beim zunehmenden Einsatz von Algorithmen. So laufen zum Beispiel bereits 70 Prozent der Börsengeschäfte über elektronisch automatisierte Plattformen des Internets; Steuerbescheide werden heute schon von Computern erlassen Diese entscheiden nicht nach geschriebenen, gesetzlichen Regeln, sondern durch Algorithmen. Diese durchschauen wir aber überhaupt nicht, denn sie werden nicht offengelegt und treten uns in binärer "Sprache" gegenüber. Der den Algorithmus eingebende Programmierer ist auch nicht wie ein Gesetzgeber demokratisch legitimiert.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen uns klar darüber werden, wo wir solche Algorithmen einsetzen wollen, denn sie sind zutiefst undemokratisch. Bei der Steuerung von Produktionsprozessen oder zur Regelung des Straßenverkehrs sind sie sicher ein Segen. Aber beim Erlass eines Verwaltungsaktes oder der Entscheidung über eine Strafaussetzung zur Bewährung? Überall dort, wo voluntative Wertungen getroffen werden, ist demokratische Legitimation und menschliches Urteil statt undurchsichtiger, binärer Fremdsteuerung gefragt. Derartige Entscheidungen darf ein Algorithmus nicht übernehmen. Sie müssen von Menschen mit demokratischer Legitimation und Verantwortung gefällt werden. In diesen Wertungsfällen sollten wir einen zwingenden "Menschenvorbehalt" vorsehen. Ähnlich wie wir im Staat für wesentliche Entscheidungen einen "Gesetzesvorbehalt" oder einen "Richtervorbehalt" kennen, sollen diese Entscheidungen nur von Menschen getroffen werden dürfen. Sonst wird unsere Rechtsordnung im wahrsten Sinne des Wortes unmenschlich.
Herr Kirchhof, vielen Dank für das Gespräch.
Ex-BVerfG-Vizepräsident Kirchhof zu Algorithmen: . In: Legal Tribune Online, 31.12.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39429 (abgerufen am: 05.11.2024 )
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