2/2: "Die Verfolgung von Vergewaltigung gehört nicht ins Familienrecht"
LTO: Die derzeitige Rechtslage im Sexualstrafrecht ist also aus Ihrer Sicht unbefriedigend?
Fischer: Ja, aber aus anderen Gründen, als Frau Frommel meint. Der Bundesgerichtshof hat seine im Jahr 1999 vorschnell geäußerte Rechtsansicht zu dem Tatbestandmerkmal des Nötigens durch Ausnutzen, die zu einem reinen "Willens"-Strafrecht tendierte, im Jahr 2006 geändert. Seither ist es nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung keine "Nötigung", wenn jemand bloß eine Gelegenheit oder eine vorschnelle Einwilligung ausnutzt. Nötigung setzt eine Zwangshandlung und eine Zwangswirkung voraus; und nach dem Schuldprinzip kann der Täter nur bestraft werden, wenn er hinsichtlich dieser Merkmale vorsätzlich handelt.
Nötigen durch Ausnutzen ist deshalb nur dann gegeben, wenn das Opfer auf Widerspruch oder Widerstand verzichtet, weil es Angst vor Gewalt hat, wenn der Täter dies erkennt oder in Kauf nimmt und die sexuelle Handlung trotzdem vollzieht oder verlangt. Damit sind nun wirklich sämtliche tatsächlichen oder vermeintlichen "Lücken" geschlossen.
Frau Frommel hat die von mir seit jeher vertretene Position wohl nicht wirklich verstanden. Gleichzeitig behauptet sie nun aber, es sei ihre eigene.
LTO: Frau Frommel geht davon aus, das geltende Recht böte ein funktionierendes Präventionskonzept. Klare Fälle von Zwang und Gewalt gehörten danach ins Strafrecht, Grenzfälle ins Zivilrecht, Beziehungsdelikte würden am besten von Familiengerichten geregelt. Wie sehen Sie das?
Fischer: Diese von ihr so bezeichnete "Faustregel" ist absurd. Sie bringt alles durcheinander und ist aus fachlicher Sicht auch schlicht unverständlich.
Es geht hier doch um die Sanktionierung von schweren Verbrechen. Warum eine auf einem Beziehungskonflikt beruhende, mit körperlicher Gewalt durchgeführte Vergewaltigung nicht bestraft werden, sondern "ins Familienrecht" gehören soll, ist unerfindlich.
"Rausch der unbegrenzten Verfolgung"
LTO: Aber was ist mit Tätern, die eben keine Zwangsmittel anwenden, um an ihr – sexuelles – Ziel zu kommen, sondern zum Beispiel ein bestehendes Ober-Unterordnungsverhältnis ausnutzen?
Fischer: Ganz einfach: Wer weder Gewalt anwendet noch mit Gewalt droht noch sich Angst vor Gewalt zunutze macht, kann auch nicht Täter einer "sexuellen Nötigung" oder "Vergewaltigung" sein.
Wer mit allgemeinen Nachteilen droht, zum Beispiel mit Kündigung, schlechten Beurteilungen usw., begeht eine ganz normale "Nötigung", die natürlich geringer bestraft wird. Und wer einfach nur ein soziales Machtgefälle "ausnutzt", begeht überhaupt keine Straftat, wenn nicht einer der gesetzlichen Ausnahmefälle vorliegt, das Tatopfer also krank, jugendlich oder eingesperrt ist. Einer gesunden, erwachsenen Person, so meint das Gesetz zu Recht, kann man zumuten, sich ganz normalen sexuellen Ansinnen zu entziehen. Sonst wären ja auch jeder Mietvertrag oder jedes nervende Abendessen "Nötigungen".
Frau Frommels Darlegungen suggerieren, dass das Gesetz zu hohe Anforderungen stelle, um "Täter" zu sanktionieren. Dies sollen Personen sein, die "routiniert" sind und daher keinerlei Zwangsmittel anwenden.
Eine solche "Täter"-Beschreibung erscheint, aus dem Mund einer deutschen Strafrechtsprofessorin, erschreckend. Welchen legitimen Grund sollte es geben, jemanden, der keines der gesetzlich geregelten Zwangsmittel anwendet, ebenso so zu bestrafen wie jemanden, der das tut? In welchem Rausch der unbegrenzten Verfolgung befinden wir uns?
Das deutsche Sexualstrafrecht ist in den letzten 15 Jahren in einem Maß verschärft worden, das als beispiellos bezeichnet werden muss. Die Verschärfung hat als Welle des Verfolgungswillens die ganze Gesellschaft bis an die Grenze der Hysterie und teilweise darüber hinaus durchdrungen. Frau Frommel hat, warum auch immer, wohl nicht verstanden, wo der Fortschritt anzusiedeln ist, in dessen Namen sie zu sprechen versichert, und wer auf ihrer Seite steht. Das ist schade.
LTO: Herr Professor Fischer, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Prof. Dr. Thomas Fischer ist Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof und Herausgeber eines Kommentars zum StGB mit Nebengesetzen.
Das Interview führte Pia Lorenz.
Pia Lorenz, Fischer zum Sexualstrafrecht: . In: Legal Tribune Online, 19.08.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12936 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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