Internationaler Gerichtshof verhandelt: Leistet Deut­sch­land Bei­hilfe zum Völ­ker­mord?

von Dr. Franziska Kring

07.04.2024

Nicaragua wirft Deutschland Beihilfe zum Völkermord vor. Am Montag beginnen die Anhörungen. Kann der IGH eine Entscheidung treffen, ohne dass Israel an dem Verfahren beteiligt ist?

Vor allem für seine Waffenlieferungen an Israel gerät Deutschland im Gaza-Krieg zunehmend unter Druck. Nicht nur politisch, sondern auch auf dem Rechtsweg – und das sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Am Freitag haben sieben Berliner Anwältinnen und Anwälte um Ahmed Abed und Nadija Samour einen Eilantrag beim Verwaltungsgericht (VG) Berlin gestellt, um der Bundesrepublik zu untersagen, weitere Waffenexporte an Israel zu genehmigen und erteilte Genehmigungen zu widerrufen. Im Wesentlichen das Gleiche will Nicaragua ab Montag vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) erreichen. Kernvorwurf an die Bundesrepublik ist, dass sich Deutschland durch die Waffenlieferungen, aber auch durch die Streichung der Hilfsmittel für das UN-Palästinenserhilfswerk (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees, UNRWA) der Beihilfe zum Völkermord durch Israel schuldig macht.

Ob Israel tatsächlich einen Völkermord an den Palästinensern begeht, klärt der IGH gerade in einem separaten Verfahren. Südafrika hatte diesen Vorwurf Ende Dezember per Klage gegen Israel erhoben und ein Eilverfahren eingeleitet. In den Eilentscheidungen vom 26. Januar und 28. März betonten die Richterinnen und Richter in Den Haag Israels Verpflichtung, seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention einzuhalten. Außerdem gaben sie dem Staat vor allem auf, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen. Aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage in Gaza kam es zur zweiten Eilentscheidung und zu neuen Sofortmaßnahmen gegen Israel. Darin forderte der IGH Israel insbesondere auf, mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen.

Jetzt findet sich Deutschland in der Beklagtenposition vor dem IGH wieder. Nicaragua hat eine Klage eingereicht und ein Eilverfahren angestrengt. Die Anhörung zu diesem beginnen am Montag. Zuerst bekommt Nicaragua das Wort, bevor Deutschland sich am Dienstag gegen die Vorwürfe verteidigen darf. Die entscheidende Frage in dem Verfahren wird sein, ob der IGH Deutschland wegen Beihilfe verurteilen kann, wenn noch gar nicht gerichtlich feststeht, ob Israel einen Völkermord an den Palästinensern begeht.
 

Was setzt Völkermord voraus?

Völkermord ist nach Art. II der Völkermordkonvention u.a. die Tötung von Mitgliedern einer Gruppe, oder die vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, die körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen. Hinzukommen muss immer die Absicht, "eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Diese ist schwer nachzuweisen.

Um sich der Beihilfe am Genozid schuldig zu machen, müsste Deutschland nach Art. 16 der Artikelentwürfe der International Law Commission (ILC) zur Staatenverantwortlichkeit in jedem Fall Kenntnis der Umstände des völkerrechtswidrigen Handelns Israels gehabt haben.

Die Bundesregierung richtete zwar Warnungen und Appelle an Israel, die Zivilbevölkerung zu schützen und das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Wiederholt habe Deutschland eine Anpassung der israelischen Kriegsführung gefordert, um die Zivilbevölkerung zu schützen, heißt es aus dem Auswärtigen Amt. Ob das für eine "Kenntnis" ausreicht, wird der IGH zu klären haben.

Nicaragua sieht in den Waffenexporten an Israel eine Beihilfe zum Völkermord. Der Wert der Rüstungsexporte, die die Bundesregierung im Jahr 2023 genehmigt hat, beläuft sich auf 326,5 Millionen Euro. Davon lieferte Deutschland Kriegswaffen im Wert von 20 Millionen Euro, darunter 3.000 tragbare Panzerabwehrwaffen und 500.000 Schuss Munition für Pistolen und Gewehre. Allein in den ersten sechs Wochen des Jahres 2024 genehmigte sie Rüstungsexporte für rund neun Millionen Euro an Israel; darunter Kriegswaffen für etwa 32.000 Euro. Obwohl sich die internationale Kritik an Israels Kriegsführung mehrt, schließt die Bundesregierung nicht aus, weiterhin deutsche Rüstungsgüter nach Israel zu liefern. Sie verweist seit Wochen darauf, dass Waffenexporte Einzelfallentscheidungen sind, die sorgfältig, auch unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten, geprüft würden – so sagte es zuletzt die Stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann bei der Regierungspressekonferenz am Freitag. Selbst wenn man in den Waffenlieferungen eine taugliche Beihilfehandlung sieht, ist jedoch in jedem Fall auch eine Haupttat erforderlich.

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Darf ohne Israel über Israel verhandelt werden?

"Die Teilnahme am Völkermord erfordert die Haupttat und diese muss erstmal festgestellt werden", schätzt Völkerrechtler Prof. Dr. Stefan Talmon von der Universität Bonn ein. Aber geht das, ohne dass Israel an dem Verfahren beteiligt ist? Israel könnte nämlich eine sogenannte "unverzichtbare dritte Partei" sein.

Nach der Monetary-Gold-Doktrin, die auf eine Entscheidung des IGH aus dem Jahr 1954 zurückgeht, urteilt der Gerichtshof gerade nicht über Klagen, die als zentralen Gegenstand die Rechte eines Staates betreffen, der keine Partei des Verfahrens ist. Das würde gegen das Konsensprinzip verstoßen, wonach der Gerichtshof seine Zuständigkeit gegenüber einem Staat nur mit dessen Zustimmung ausüben kann. Aus diesem Grund sind solche Klagen dann unzulässig. Über die Beihilfe zum Völkermord kann also nur entschieden werden, wenn Israel an dem Verfahren beteiligt wäre – oder wenn der Gerichtshof schon vorher festgestellt hätte, dass Israel einen Völkermord begeht. Das ist allerdings nicht der Fall.

In den einstweiligen Anordnungen gegen Israel vom 26. Januar und zuletzt vom 28. März 2024 stellte der IGH zwar klar, dass einige der von Südafrika geltend gemachten Rechte "plausibel" sind, darunter das Recht der Palästinenser in Gaza, vor Völkermord und damit zusammenhängenden Handlungen nach Art. III der Völkermordkonvention geschützt zu werden. Damit stellt der IGH jedoch nicht fest, dass Israel tatsächlich einen Völkermord begeht. Was bedeutet das nun für das Eilverfahren Nicaragua vs. Deutschland?

Wird die Zulässigkeit der Klage schon im Eilverfahren geprüft?

Im Eilverfahren nach Art. 41 des IGH-Statuts gilt ein niedrigerer Beweisstandard. Hier reicht es aus, dass die Gerichtsbarkeit des IGH "nach erstem Anschein" (prima facie) vorliegt, die geltend gemachten Rechte "plausibel" sind und mit den beantragten Maßnahmen in Zusammenhang stehen. Außerdem muss eine "reale und unmittelbare Gefahr" einer irreparablen Beeinträchtigung dieser Rechte drohen. 

"Die spannende völkerrechtliche Frage ist dann, ob die Zulässigkeit der Klage schon im Eilverfahren geprüft wird", so Talmon. Es sei dogmatisch schwierig, klar zwischen der Gerichtsbarkeit und der Zulässigkeit der Klage zu trennen. Häufig behandele der IGH Unzulässigkeitsfragen auch erst in der Begründetheit, erklärt der Göttinger Professor für Straf- und Völkerrecht Kai Ambos auf LTO-Anfrage.

Zu entscheiden hatte der IGH einen solchen Fall noch nicht. "Insofern kann Deutschland hier Rechtsgeschichte schreiben", sagt Talmon. "Es könnte sein, dass der IGH die Frage der unverzichtbaren dritten Partei aus strategischen Gründen schon hier aufwirft", meint der Völkerrechtler. Ähnlich schätzt es auch Ambos ein: In letzter Zeit habe man häufig Verfahren beobachten können, in denen Staaten, die nicht in eigenen Rechten verletzt sind, klagen und sich auf sogenannte Erga-omnes-Verpflichtungen, also Pflichten "gegenüber allen", stützen. Die Verletzung dieser Pflichten, zu denen etwa die aus der Völkermordkonvention zählen, können alle Staaten geltend machen und nach Auffassung des IGH auch einklagen. "Wenn der IGH diesen strategischen Klagen einen Riegel vorschieben will, könnte der IGH das Verfahren bis zur Entscheidung im Verfahren zwischen Südafrika und Israel aussetzen", so Ambos.

Auch im Hinblick auf das Konsensprinzip erscheint es naheliegend, die Monetary-Gold-Regel auch im Eilverfahren schon anzuwenden. "Es wäre merkwürdig, wenn dem Gerichtshof die Anwendung einer solchen Vorschrift hier verwehrt wäre", schreiben auch Dr. Alexander Wentker und Dr. Robert Stendel im Verfassungsblog.

Mögliche Verstöße gegen die Genfer Konventionen

Nicaragua wirft Deutschland jedoch auch Verstöße gegen andere Normen des Völkerrechts vor. Insbesondere geht es um Verletzungen der Genfer Konventionen. Nach dem Gemeinsamen Artikel 1 der vier Genfer Konventionen sind alle Vertragsparteien verpflichtet, die Konventionen "unter allen Umständen einzuhalten und seine Einhaltung durchzusetzen". Vertragsstaaten wie Deutschland hätten in jedem Fall eine Pflicht, präventiv tätig zu werden, wenn sie sehen, dass eine Verletzung des humanitären Völkerrechts unmittelbar bevorsteht, so Talmon.

Der UN-Kommissar für Menschenrechte, Volker Türk, sagte etwa, dass "alle Parteien des Gaza-Krieges verantwortlich für klare Verletzungen des humanitären Völkerrechts einschließlich möglicher Kriegsverbrechen" sind. In Betracht kommen etwa Verstöße gegen das Unterscheidungsgebot, also das Gebot der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten, sowie das Aushungern der Zivilbevölkerung nach Art. 54 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen. Auch der Luftangriff auf einen Konvoi von Fahrzeugen der NGO World Central Kitchen, bei dem sieben Mitarbeitende getötet wurden – laut Benjamin Netanjahu ein tragischer Fehler – könnte objektiv gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. Nach den Genfer Konventionen genießen auch humanitäre Mitarbeitende besonderen Schutz. Die Hilfsfahrzeuge der NGO sollen klar als solche gekennzeichnet gewesen sein.

Damit der IGH feststellen kann, dass Israel die Genfer Konventionen verletzt und Deutschland deshalb tätig werden muss, könnte ebenfalls eine Beteiligung Israels an dem Verfahren erforderlich sein. "Jedoch scheint die Frage der unverzichtbaren dritten Partei hier nicht so sehr im Vordergrund zu stehen", so die Einschätzung Talmons. Und auch hier stelle sich natürlich die Frage, ob die Monetary-Gold-Regel schon im Eilverfahren thematisiert werde oder ob der IGH diese Fragen in die Begründetheit verschiebt.

Israel will Hilfslieferungen aufstocken

Auch in der Streichung der Hilfsmittel für das UN-Palästinenserhilfswerk sieht Nicaragua einen Verstoß gegen die Genfer Konventionen. Ende März hat Deutschland zwar angekündigt, die Zahlungen wieder aufzunehmen – jedenfalls für die Arbeit in Jordanien, Libanon, Syrien und im Westjordanland. Über die Zukunft der Unterstützung für Gaza werde "im Lichte des Fortgangs der laufenden Prüf- und Untersuchungsprozesse entschieden", heißt es in einer Pressemitteilung.

Ob die Streichung der Hilfsmittel für das Palästinenserhilfswerk gegen die Genfer Konventionen verstößt, kann der IGH jedenfalls unabhängig von einer Beteiligung Israels entscheiden. Vieles spricht jedoch dafür, dass diese Entscheidung im politischen Ermessen Deutschlands steht.

Gegenspieler auch in anderen Verfahren

Es bleibt abzuwarten, wie sich Deutschland bei der Anhörung gegen die Vorwürfe verteidigen wird. Bei der Regierungspressekonferenz am Freitag sagte Sebastian Fischer, Sprecher des Auswärtigen Amtes, man blicke "gelassen" auf das am Montag beginnende Verfahren. Deutschland habe weder die Völkermordkonvention noch das humanitäre Völkerrecht verletzt und weise die Vorwürfe Nicaraguas zurück.

Gegenspieler sind Nicaragua und Deutschland nicht nur in diesem Verfahren. Nicaragua unterstützt Südafrika bei der Klage gegen Israel. Deutschland hat ebenfalls angekündigt, dem Völkermordverfahren vor dem IGH beizutreten – und zwar auf der Seite Israels. Welche Bedeutung dieses Verfahren für die Entscheidung des IGH hat, wird sich in den kommenden Wochen zeigen.

Mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

Internationaler Gerichtshof verhandelt: . In: Legal Tribune Online, 07.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54265 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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