Heiß oder tropisch schwül?: Hit­ze­wal­lungen vor Gericht

Gastbeitrag von Martin Rath

20.06.2021

Die körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen durch die unangenehmen Witterungsverhältnisse des Sommers sind immer wieder ein Fall für die Justiz. Seit 125 Jahren geben sie auch Aufschluss über soziale Verhältnisse in Deutschland.

Das bittere Chinin, ein Naturheilmittel, das in größeren Mengen eingenommen werden sollte, vertrug nicht jeder.

Magenbeschwerden und Nervenleiden wie Schwindelgefühle, Kopfschmerzen oder vorübergehende Erblindung waren ein Preis, den europäische Reisende und Kolonialbeamte zu zahlen hatten, wollten sie nicht schwer an Malaria erkranken. Um die tropische Hitze Afrikas auszuhalten, konsumierten sie in rauen Mengen Alkohol und Opiate – statt des Chinins oder zur vermeintlichen Linderung seiner Nebenwirkungen.

Wie sehr die Bemühungen der europäischen Mächte um imperiale Herrschaft in Afrika auf den Drogenkonsum ihrer Forschungsreisenden, Soldaten und Beamten angewiesen waren, hat unter anderem der zuletzt an der Universiteit van Amsterdam lehrende Ethnologe Johannes Fabian (1937–) mit seinem großartigen Werk "Im Tropenfieber. Wissenschaft und Wahn in der Erforschung Zentralafrikas" (München, 2001) gezeigt.

Den Eindruck, dass die widrigen klimatischen und hygienischen Bedingungen den deutschen Beamten schon in jungen Lebensjahren einen frühen Platz auf den örtlichen Friedhöfen unweit der weiß gestrichenen Villen vermittelten, zeigte auch der Soziologe Trutz von Trotha (1946–2013) in seiner Studie "Koloniale Herrschaft: zur soziologischen Theorie der Staatsentstehung am Beispiel des 'Schutzgebietes Togo'" (Tübingen, 1994).

Pension für ausgeschiedene Soldaten – die Hitze des Südens

Neben der heute für dringlich erklärten Frage nach der moralischen Qualität der deutschen Kolonialherrschaft – mit starrem Blick auf die seinerzeit in Afrika, Asien und Ozeanien erworbenen Kunstschätze und die Verbrechen an Leib, Leben und Freiheit der einheimischen Bevölkerung – ließen sich in der Rechtsprechung auch Hinweise auf die Grautöne der Geschichte finden.

Mit Urteil vom 27. Mai 1895 (Az. IV 6/95) befasste sich beispielsweise das Reichsgericht mit der Frage, ob einem Steuermann der kaiserlichen Marine eine Erhöhung der bereits bewilligten Pension von 736 Mark jährlich um 750 Mark zustand.

Ein solcher, außerordentlich hoher Zuschlag zur Pension stand Offizieren und Deckoffizieren zu, die "nachweislich infolge einer militärischen Aktion oder durch außerordentliche klimatische Einflüsse, namentlich bei längerem Aufenthalte in den Tropen invalide und zur Fortsetzung des Seedienstes ohne ihr Verschulden unfähig" geworden waren.

Unstrittig war die Invalidität des Klägers, eines Soldaten, der sich 1890/91 eine Malaria zugezogen hatte, während er an Bord des Kriegsschiffs "Habicht" im Kamerun eingesetzt wurde und an Kämpfen teilnahm. Ob allerdings die tropischen Bedingungen, die Hitze und die "schlechte Luft" nun eher ganz gewöhnliche Bedingungen waren oder "außerordentliche klimatische Einflüsse", war strittig.

Den Einsatz im neuen Kolonialreich und in tropischen Gewässern honorierte der Fiskus bereits, indem er die Dienstzeiten in den Tropen doppelt anrechnete. Fraglich blieb, ab wann die dort zu erleidenden "klimatischen Einflüsse" dem Beamten oder Soldaten ein Sonderopfer abverlangten, das auch die zusätzliche und beträchtliche Erhöhung der Ruhestandsbezüge nach sich ziehen sollte.

Gut einhundert Jahre später ist die Unterscheidung zwischen bloßer Hitze und tropischer Schwüle ein Dreh- und Angelpunkt pensionsrechtlicher Streitigkeiten. So begehrte ein Offizier der Luftwaffe für die fünf Jahre seiner Tätigkeit als Fluglehrer im amerikanischen Goodyear die Anerkennung als doppelt ruhegehaltsfähig, weil diese Ortschaft im Bundesstaat Arizona mit ihren Sommertemperaturen über 40 °C zu einer weit erhöhten körperlichen Belastung geführt habe.

Allerdings ging die Behörde – und mit ihr das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen – davon aus, dass die trockene Wüstenhitze Arizonas weniger belastend sei als die tropische Schwüle in Houston oder New Orleans, deren Klima einem deutschen Soldaten zu einer erhöhten Pension verhelfen können (OVG NRW, Urt. v. 13.12.2001, Az. 1 A 245/98).

Fürsorge, von der Häftlinge nur träumen können

Seit der juristische Sprachgebrauch die staatliche Hoheit über Schüler, Soldaten und Strafgefangene nicht mehr mit dem robusten Ausdruck "besonderes Gewaltverhältnis" bezeichnet, scheint auch die soziologische Neugier daran etwas verblasst zu sein, welche Gemeinsamkeiten diese Gruppen von Menschen – diesseits der juristischen Abstraktion – wohl aufweisen könnten.

Während heute der Bürger in Uniform nach dem Einsatz in schwül-tropischen Regionen auf die Verbesserung seiner Einkünfte hoffen darf, muss sich der Bürger im Strafvollzug Sorgen um eine hinreichende Frischluftzufuhr machen: Vielerorts werden in jüngster Zeit die Fenster von Zellen durch Lochgitter ersetzt, die den Luftaustausch reduzieren, ein Ausblick ist nur noch durch Glasfenster möglich, die sich nicht öffnen lassen.

Mit Beschluss vom 16. August 2017 tadelte das Bundesverfassungsgericht (Az. 2 BvR 336/16) zwar nicht den Einbau von Lochgitter-Fenstern als solchen, nahm aber Anstoß daran, dass sich das vom Gefangenen angerufene Landgericht Offenburg nach einer richterlichen Inaugenscheinnahme der Zelle im deutlich kühleren November 2015 nicht nach sinnvollen Kriterien abwägend zur Frischluftversorgung in den Sommermonaten geäußert hatte.

Nur in einem kurzen Zeitraum wachsender sozialer Liberalität, in den 1950er und 1960er Jahren, galt ein gewisser politischer Reformwille allen drei Gruppen besonderer Gewaltverhältnisse – der Euphemismus vom "Sonderrechtsverhältnis" will das nicht mehr recht leisten. Vielleicht ändert der Eindruck allseits zu erleidender Hitze daran etwas – im staatlichen Unvermögen, einen Beitrag zur Sicherheit und Gesundheit der jeweiligen Insassen zu leisten, sind sich Schulen und Gefängnisse in Zeiten der COVID-19-Pandemie doch immerhin wieder etwas näher gekommen.

Freiheit des Menschen im Naturzustand? – Reden wir lieber vom Hitzefrei

Woher der kurze Frühling wachsender Liberalität in der (west-) deutschen Gesellschaft womöglich kam, deutet sich in einem Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 23. März 1965 an (Az. VI ZR 271/63).

Am späten Vormittag des 10. Juli 1959 waren ein sieben- und ein achtjähriger Junge auf die Idee gekommen, "Abschleppen" zu spielen. Der Tretroller des einen wurde mit einem zufällig gefundenen Strick an das Fahrrad des anderen gebunden, der Ältere zog den Jüngeren auf einer Straße in Bad Neuenahr hinter sich her. Beim Versuch, eine 51 Jahre alte Frau zu umfahren, brachten sie diese zu Fall. Wegen der Versicherungsleistungen – das Unfallopfer erlitt wegen zahlreicher Brüche eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um 60 Prozent – ging der Versicherungsträger gegen die Eltern der Kinder vor, weil diese ihre Aufsichtspflicht verletzt hätten.

Diesen Vorwurf mussten sich die Eltern nach Ansicht der erkennenden Gerichte jedoch nicht machen, weil sie ihren Söhnen glaubwürdig eingeschärft hatten, dass sie nicht auf der Straße fahren sollten und sich durch heimliche Beobachtung der Kinder auch sicher sein konnten, dass diese sich an die elterlichen Weisungen halten würden.

Darauf, dass die Kinder auf den Gedanken kommen mochten, "Abschleppen" zu spielen und das dazu notwendige Seil zufällig "finden" könnten, hätten die Eltern jedoch nicht rechnen müssen.

Zum sozialen Panorama, das in diesem Fall aufscheint, gehört einerseits, dass die (west-) deutsche Gesellschaft seinerzeit bereit war, generell sehr viel mehr bei Unfällen getötete Kinder hinzunehmen – 1970 waren es 15,3 Menschen unter 15 Jahren, im Jahr 2020 nur noch 4,8 je 100.000 Einwohner. Umgekehrt ließen die Richter erkennen, dass sie die Aufsichtspflichten der Eltern auch nicht überspannen wollten, wenn die Kinder gefährlich wurden. – Im vorliegenden Fall hatten die beiden Jungen nämlich den besonderen Freiraum genutzt, den ihnen der heiße Julitag verschafft hatte: Sie hatten von der Schule hitzefrei bekommen.

Für die Angehörigen der geburtenstarken Jahrgänge hieß das noch, aus einem oft ein wenig als Gefängnis erlebten Schulbetrieb in die potenzielle Lebensgefahr einer unbewachten Umwelt entlassen zu werden, sobald der Thermometerstand erhofft, aber doch unverhofft die magische Grenze überschritt.

Mit dem Paradox heutiger Pädagogik, die Kinder unter Bedingungen eines didaktisch engmaschig durchgeplanten Ganztagsschulwesens und elterlicher Restzeitbespaßung ausgerechnet zur Selbständigkeit erziehen zu sollen, hatte diese Lebenswelt nicht viel zu tun.

Hitzefrei hieß hier, Eltern nicht allzu streng in Haftung zu nehmen, wenn ihre Kinder im Genuss dieser Freiheit beim Spielen einen Schaden verursachten.

Zitiervorschlag

Heiß oder tropisch schwül?: . In: Legal Tribune Online, 20.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45250 (abgerufen am: 25.11.2024 )

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