Rechtsunsicherheiten an vielen Stellen und eine Gefährdung des Patientenwohls: Das Berufsrecht der Heilpraktiker gilt seit Jahren als reformbedürftig. Warum es dennoch nicht vorangeht, erläutert Arne Weinberg.
Aktuell ist vor dem Bundesgerichtshof (BGH) ein Fall anhängig, in dem eine junge Frau an Gebärmutterhalskrebs erkrankte und eine schulmedizinische Strahlentherapie trotz guter Heilungschancen abbrach (Az. VI ZR 120/21). Sie wandte sich stattdessen einer Heilpraktikerin zu, um eine naturheilkundliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Diese basierte auf einer nicht evidenzbasierten Schlangengifttherapie mit sogenannten "Horvi-Präparaten". Wenige Monate später verstarb die Patientin an ihrem Krebsleiden.
Das OLG München verurteilte die Heilpraktikerin, dem Sohn der Verstorbenen ein Schmerzensgeld in Höhe von 30.000 Euro zu zahlen. Als Pflichtverletzung durch Abweichung von dem als Heilpraktikerin geschuldeten Behandlungsstandard sah es das Gericht an, dass die Frau dem Wunsch ihrer Patientin nach einem Abbruch der Strahlentherapie nicht mit Nachdruck widersprochen habe. Die Aufklärung hätte auch dem Umstand Rechnung tragen müssen, dass die Hoffnung der Patientin auf Genesung "in ihrer irrationalen Ablehnung der Schulmedizin" der "letzte Strohhalm" gewesen sei.
Auch wenn der tödliche Verlauf sicherlich eine tragische Ausnahme darstellt, steht der Fall exemplarisch für viele andere, da er zeigt: Die Gefahr für Patient:innen geht häufig nicht von der heilpraktischen Behandlung als solcher aus, sondern von dem Verzicht auf eine fachärztliche Behandlung.
Erinnerung an den "Brüggen-Bracht-Fall"
Mitunter ist jedoch auch die heilpraktische Behandlung selbst lebensgefährlich: Im Jahr 2016 verstarben drei Krebspatient:innen aus Belgien und den Niederlanden, nachdem sie in einer als "Biologisches Krebszentrum" betriebenen Heilpraktikerpraxis im nordrhein-westfälischen Brüggen mit der nicht zugelassenen Substanz 3-Bromopyruvat behandelt wurden. Der verantwortliche Heilpraktiker wurde erst Jahre später vom Landgericht Krefeld wegen fahrlässiger Tötung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt. Die Staatsanwaltschaft, die drei Jahre Haft gefordert hatte, war mit ihrer Revision vor dem BGH nicht erfolgreich.
Ein Berufsverbot wurde vom Landgericht Krefeld nicht ausgesprochen. Zwischenzeitlich war der Verurteilte zum Missfallen des Landesgesundheitsministeriums noch in weiteren Regionen Nordrhein-Westfalens tätig und ist über diverse Arztsuchportale auch heute noch auffindbar.
Immerhin hat der Bundesgesetzgeber infolge dieses Skandals durch eine Änderung von § 13 Arzneimittelgesetz (AMG) im Jahr 2019 die Herstellung verschreibungspflichtiger Arzneimittel durch Nicht-Ärzte erlaubnispflichtig gemacht. Berufsrechtliche Konsequenzen für das Heilpraktikerwesen wurden aus dem Fall jedoch nicht gezogen.
Heilpraktikergesetz: Ursprung in der NS-Zeit und nicht mehr zeitgemäß
Das Heilpraktikergesetz (HeilprG) trat im Jahr 1939 in Kraft und schon der formelle Gesetzestitel ("Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung") verwendet mit dem Begriff der "Bestallung" als Synonym für die Genehmigung einen Terminus, der heute nicht mehr gebräuchlich ist. Noch dazu ist das Gesetz mit acht Paragrafen wohl das kürzeste berufsrechtliche Regelwerk des Gesundheitswesens. § 7 HeilprG verweist auf die Durchführungsverordnung des "Reichsministers des Innern". Wer jedoch in der HeilprG-DVO einen an die Bundesärzteordnung (im Unterschied zur HeilprG-DVO ein Parlamentsgesetz) angelehnten Regelungskanon erwartet, wird enttäuscht sein. Darin ist nicht mal eine Vorschrift zu finden, die das Ruhen der Heilpraktikererlaubnis für die Dauer eines Strafverfahrens anordnet.
Wie veraltet das HeilprG ist, zeigt sich auch daran, dass der vom Gesetz verwendete Heilkundebegriff völlig unzureichend ist. Als Ausübung der Heilkunde wird nach § 1 Abs. 2 HeilprG "jede berufs- oder gewerbsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden bei Menschen" verstanden. Die Gesundheitsprävention, also die Vermeidung von Krankheiten (beispielsweise durch eine Schutzimpfung), ist ebenso wie die ästhetische Medizin hiervon gar nicht umfasst. Die Legaldefinition lässt zudem den Zweck der Heilung ausreichen, ohne die Wirksamkeit des Mittels zu berücksichtigen. Gewerbsmäßiges "Gesundbeten" wäre demzufolge erlaubnispflichtige Heilkunde.
Das Bundesverfassungsgericht legte den Begriff der Heilkunde daher in seiner "Geistheiler-Entscheidung" (Beschluss vom 02.03.2004 - Az. 1 BvR 784/03) - auch aufgrund des mit der Erlaubnispflicht einhergehenden Eingriffs in die Berufswahlfreiheit - restriktiv aus und stellte darauf ab, ob für die Tätigkeit ärztliche Fachkenntnisse erforderlich seien und von dieser Gefahren für die Gesundheit ausgehen könnten. In letzterer Hinsicht stellte das Gericht lapidar fest: "Eine mittelbare Gesundheitsgefährdung durch die Vernachlässigung notwendiger ärztlichen Behandlung ist mit letzter Sicherheit nie auszuschließen, wenn Kranke außer bei Ärzten bei anderen Menschen Hilfe suchen." Dass sich diese Gefahr durchaus tödlich realisieren kann, zeigt sich an dem aktuellen BGH-Verfahren zur abgebrochenen Strahlentherapie.
Verfassungswidriges Berufszulassungsrecht?
Dass das HeilprG nicht mehr so zeitgemäß ist, wie es angesichts der rund 47.000 in Deutschland praktizierenden Heilpraktiker:innen mit mehr als 46 Millionen Patientenkontakten pro Jahr (Zahlen des Berufsverbands BDH aus dem Jahr 2017) sein sollte, ist offenbar auch dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) aufgefallen. Es hat im Jahr 2020 daher den Aachener Professor Dr. Christof Stock mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens zum Heilpraktikerrecht beauftragt. Dieser kommt in seiner über 300 Seiten langen gutachterlichen Stellungnahme zu einem vernichtenden Ergebnis:
So sei etwa die in der Durchführungsverordnung und in Leitlinien der Exekutive geregelte Überprüfung von Berufsanwärter:innen unter Verstoß gegen Gesetzesvorbehalt und Demokratieprinzip verfassungswidrig. Die Schlussfolgerung des Gutachters: "Nachdem das noch aus der Zeit des Nationalsozialismus stammende HeilprG ohnehin nur noch aus einem Torso von Vorschriften besteht, liegt es nahe, es aufzuheben und damit den Heilpraktikerberuf in seiner bisher bestehenden Prägung entfallen zu lassen." Stock spricht sich im Sinne einer Kompetenzlösung dafür aus, die Heilkunde in eine ärztliche (approbierte Ärzt:innen), alternative (Heilpraktiker:innen) und sektorale (Gesundheitsfachberufe) Heilkunde aufzuteilen. Eine staatliche Ausbildung und Prüfung - beschränkt auf das Gebiet der Alternativmedizin - soll den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung verstärken, indem sie die Behandelnden befähigt, Methoden der Alternativheilkunde ohne Gefährdung ihrer Patient:innen einzusetzen.
Problem bekannt, aber noch lange nicht gebannt
Dass das schließlich im April 2021 veröffentlichte Gutachten keine Begeisterungsstürme innerhalb der Heilpraktikerschaft ausgelöst hat, war zu erwarten. Doch auch aufseiten der Politik scheint man Unbehagen in Bezug auf den darin vorgeschlagenen "großen Wurf" zu hegen. Das BMG hat im vergangenen Jahr jedenfalls erstmal ein langwieriges Stellungnahmeverfahren eingeleitet und sah durch das Gutachten einen "transparenten Meinungsbildungsprozess" eröffnet. In diesem wurden bereits etliche Akteure aus dem Gesundheitswesen angehört und die Notwendigkeit eines weiteren empirischen Gutachtens zu heilpraktischen Behandlungsmethoden und deren Gefahrenpotential erörtert. Es scheint, als komme es dem Gesetzgeber bei einer mindestens seit Inkrafttreten des Grundgesetzes verfassungswidrigen, da dem Vorbehalt des Gesetzes zuwiderlaufenden, Berufszulassungsregelung auf ein paar weitere Jahre ohne wirksames Gesetz nicht mehr an.
Die neue Bundesregierung verlor im Koalitionsvertrag - jedenfalls explizit - kein Wort zu den Heilpraktikerinnen und Heilpraktikern. "Wir bringen ein allgemeines Heilberufegesetz auf den Weg“, heißt es in der Vereinbarung der Ampel ohne weitergehende Konkretisierung.
Das Zögern des Bundesgesetzgebers dürfte auch darin begründet liegen, dass ihm lediglich die Kompetenz zur Regelung des Berufszulassungsrechts, nicht aber des Berufsausübungsrechts der Heilberufe zukommt. Eine grundlegende Reform des Heilpraktikerwesens gegen den Willen der Länder ist daher kaum vorstellbar.
Diese dürften jedoch auch vor dem Dilemma stehen, dass Heilpraktiker:innen aktuell in ländlichen Regionen mit Ärztemangel auch Versorgungslücken im Bereich der Schulmedizin abfedern. Eine ausschließliche Verweisung der Heilpraktikerschaft auf den Bereich der Alternativmedizin würde daher auch Defizite der vertragsärztlichen Versorgung offenlegen und verschärfen.
Der Autor Arne Weinberg ist Volljurist und freier Autor mit Schwerpunkt Medizinrecht.
Patientenwohl in Gefahr: . In: Legal Tribune Online, 28.03.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47945 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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