Umgeht die Ampel-Koalition die Schuldenbremse des Grundgesetzes? Zu diesem Vorwurf der CDU/CSU-Opposition hat der Haushaltsausschuss des Bundestags am Montag Sachverständige befragt. Christian Rath hat zugehört.
Die Ampel-Koalition arbeitet wie aus einem Guss. Bei kaum einem politischen Projekt wird das so deutlich wie beim zweiten Nachtragshaushalt. Mit dem neuen Finanzminister Christian Lindner (FDP) kam kein kompromissunfähiger Verschuldungsgegner ins Amt. Vielmehr führt er in der Corona-Pandemie das bislang erfolgreiche Deficit Spending der Großen Koalition fort und ermöglicht zudem noch große neue Klimaschutz-Investitionen.
So ist es Finanzminister Lindner, der 60 Milliarden Euro ungenutzte Kreditermächtigungen in den Energie- und Klimafonds überführen will. Nach Ansicht der Regierungskoalition wird die Schuldenbremse des Grundgesetzes (GG) dabei eingehalten – wenn auch innovativ ausgelegt. Dagegen hat die CDU/CSU-Fraktion bereits eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angekündigt. Sie hält die Schuldenbremse für verletzt.
Angesichts dieser Konstellation wurde die Expertenanhörung im Haushaltsausschuss mit Spannung erwartet. Juristische und ökonomische Sachverständige sollten am Montagnachmittag den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum zweiten Nachtragshaushalt (BT-Drucksache 20/300 vom 13. Dezember 2021) bewerten.
Die Schuldenbremse in der Pandemie
Die Schuldenbremse wurde 2009 per Grundgesetzänderung eingeführt. Seit 2016 ist sie für den Bund verbindlich. Laut Artikel 115 GG darf der Bund pro Jahr grundsätzlich nur Schulden in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aufnehmen. Bei schlechter Konjunktur kommt noch ein Zuschlag dazu. Laut Bundesregierung hätte der Bund so im Jahr 2021 regulär nur knapp 33 Milliarden Euro Kredite aufnehmen können.
Allerdings gibt es in Art. 115 Abs. 2 Satz 6 auch eine Ausnahmeregelung: "Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden."
Dass die Corona-Pandemie eine solche "außergewöhnliche Notsituation" darstellt, ist jenseits der AfD unstreitig. Für den Bundeshaushalt 2021 hat der Bundestag dies zunächst am 8. Dezember 2020 festgestellt und dann am 23. April 2021 für den ersten Nachtragshaushalt bekräftigt. Der Bundestag hat deshalb eine coronabedingte Schuldenaufnahme für das Haushaltsjahr 2021 von 240 Milliarden Euro (statt 33 Milliarden Euro) erlaubt.
Die unbenutzten 60 Milliarden Euro
Von dieser maximal möglichen Schuldenaufnahme hat die Bundesregierung Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro nicht genutzt. Diese potenzielle Summe soll mit dem zweiten Nachtragshaushalt nun in den Energie- und Klimafonds (EKF) verschoben werden. Der EKF ist ein Sondervermögen, das bereits 2010 per Gesetz eingerichtet wurde, künftig aber bei der Klima-Politik des Bundes eine zentrale Rolle spielen soll.
Die Bundesregierung hält die Weiterleitung der ungenutzten Kreditermächtigungen an den EKF von der Ausnahmeregelung des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gedeckt. Die CDU/CSU bestreitet das.
Vier Experten gegen die Bundesregierung
Vier der geladenen Sachverständigen hielten das geplante Manöver der Bundesregierung für verfassungswidrig: die Rechtsprofessoren Christoph Gröpl (Uni Saarbrücken) und Kyrill-Alexander Schwarz (Uni Würzburg) sowie Hans-Günter Hennecke vom Deutschen Landkreistag und Dieter Hugo vom Bundesrechnungshof.
Sie rügten einerseits, dass die inhaltliche Konnektivität fehle. Kreditermächtigungen aus Anlass der Corona-Pandemie könnten nicht zur Finanzierung von Klimaschutz-Maßnahmen benutzt werden. Die Klimakrise sei keine kurzfristig auftretende Katastrophe, deshalb sei schon der Tatbestand von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht erfüllt.
Und auch zeitlich bestehe keine Konnektivität. Die Kreditermächtigungen seien weder 2021 genutzt worden noch seien Ausgaben im Jahr 2022 geplant, sondern wohl erst ab 2023, vielleicht noch viel später. Das Geld würde also erst zu einem Zeitpunkt ausgegeben, zu dem nach derzeitiger Prognose die pandemiebedingte Notlage gar nicht mehr bestehen wird. Der Bundesrechnungshof kritisierte, dass die späteren Ausgaben dennoch schon im Jahr 2021 als Ausgabe verbucht und so unter die Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG subsumiert werden.
Mit diesem Manöver werde gezielt die grundgesetzliche Schuldenbremse umgangen und ausgehöhlt, kritisierten die vier Sachverständigen. Maßnahmen zum Klimaschutz sollten dagegen aus dem regulären Haushalt finanziert werden. Um die Schuldenbremse einzuhalten, seien Einsparungen an anderer Stelle erforderlich.
Alexander Thiele und die Ökonom:innen
Die Gegenposition vertrat in der Bundestags-Anhörung vor allem Rechtsprofessor Alexander Thiele von der Berliner Hochschule für Management und Recht. Unterstützt wurde er vom emeritierten Rechtsprofessor Joachim Wieland, den Ökonomie-Professor:innen Jens Südeküm (Uni Düsseldorf), Lena Dräger (Uni Hannover) und Bertold Wigger (KIT Karlsruhe) sowie von Katja Rietzler (Hans-Böckler-Stiftung).
Sie arbeiteten heraus, dass die Ausnahmeklausel des Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG auch die Beseitigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie umfasse. Zu diesen Folgen gehöre ein Rückgang der Investitionen im Jahr 2021 um elf Prozent, so etwas habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Um die Wirtschaft wieder auf den alten Wachstumspfad zurückzubringen, müsse der Staat selbst Investitionen tätigen und private Investitionen fördern.
Wie der Staat gegen die Investitionslücke vorgeht, sei eine politische Entscheidung, hier habe der Bund einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. "Der Staat könnte zum Beispiel Investitionen in Kohlekraftwerke fördern", erläuterte Ökonom Südeküm, "aber viel sinnvoller ist es natürlich, wenn der Staat Investitionen in Klimaschutz unterstützt und so die Wirtschaft für die anstehende Transformation" fit mache. "Es ist sicher nicht verboten", sagte der Ökonom Bertold Wigger, "wenn neben der Investitionsförderung noch ein zweites Ziel - nämlich der Klimaschutz - verfolgt wird". Im Gegenteil sei das sogar wünschenswert. Rechtsprofessor Thiele resümierte: "Es ist keine dauerhafte Möglichkeit, den Klimaschutz so zu finanzieren, derzeit ist es aber verfassungskonform."
Die Befürworter:innen des Regierungs-Manövers halten es auch für kein verfassungsrechtliches Problem, dass das Geld wohl erst 2023 oder noch später ausgegeben wird, diese Ausgabe aber mit einer heutigen Notlage gerechtfertigt wird. "Wir brauchen jetzt ein Signal an Investoren, dass dauerhaft Geld da sein wird", sagte Katja Rietzler von der Böckler-Stiftung. "Es wäre kein Signal, wenn es darauf ankäme, ob 2023 oder 2024 immer noch eine pandemische Notlage herrscht", ergänzte Alexander Thiele. Und Bertold Wigger sah die Strategie, Rücklagen zu bilden, als Ersatz für die fehlende Möglichkeit, sich nach einer Krise auf einem "Pfad" langsam wieder der Schuldengrenze anzunähern - wie es auf EU-Ebene möglich sei.
Sind wirtschaftliche Argumente noch zulässig?
Hennecke wollte all diese Argumente nicht gelten lassen. Er sei schon in der Föderalismus-Kommission dabei gewesen, die die Schuldenbremse entworfen hatte. "Solche volkswirtschaftlichen Überlegungen als Rechtfertigung für die Schuldenaufnahme sollten ausdrücklich ausgeschlossen sein", betonte Henneke. Schließlich habe sich von 1969 bis 2009 gezeigt, dass dies zu einer stetig steigenden Staatsverschuldung führt.
Alexander Thiele sah dennoch die Möglichkeit, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG in dem von ihm vorgeschlagenen Sinne auszulegen. "Der Bund hat nun mal die staatliche Gesamtverantwortung. Das muss auch bei der Auslegung von Artikel 115 berücksichtigt werden". Thiele zeigte sich sicher, dass das BVerfG seiner Linie folgen werde.
Hessisches Urteil als Vorbild?
In eine andere Richtung verweist allerdings ein Urteil des hessischen Staatsgerichtshofs von Ende letzten Jahres (Urteil vom 27. Oktober 2021, Az.: P.St. 2783 u.a.). Das Gericht musste eine ganz ähnliche Schuldenbremse in der hessischen Landesverfassung auslegen und beanstandete den Transfer von Milliardensummen aus dem hessischen Landeshaushalt in ein hessisches Sondervermögen namens "Hessens gute Zukunft sichern".
Thiele zeigte sich dadurch aber nicht verunsichert, schließlich habe nur der Bund die gesamtstaatliche Verantwortung, nicht aber das Land Hessen. Deshalb, da ist sich Thiele sicher, werde das BVerfG bei der Auslegung des GG am Ende zu einem anderen Ergebnis kommen als der hessische Staatsgerichtshof bei der Auslegung seiner Landesverfassung.
Anhörung zum Nachtragshaushalt: . In: Legal Tribune Online, 11.01.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/47169 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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