Mit dem am Dienstag vorgestellten Grundrechte-Report 2014 kritisieren Juristenverbände und Bürgerrechtsorganisationen Verstöße gegen das Grundgesetz. Dieses werde auch nach seinem 65. Geburtstag allzu oft nicht geachtet. Gerade mit Blick auf Themen wie die NSA-Spionage, das Asylrecht oder Sozialleistungen für EU-Bürger, müssten die Grundrechte in einem internationalen Kontext gesehen werden.
Das Grundgesetz ist in diesem Mai 65 Jahre alt geworden, mit Feierstunde im Bundestag und Lobreden in den Zeitungen. Elke Steven vom Komitee für Grundrechte und Demokratie muss erst überlegen, wie sie am besten gratuliert. "In dieser Zeit ist eine Menge an Offenheit, Freiheit und Gleichberechtigung entstanden", sagt sie schließlich. "Aber man hat auch gesehen, dass die Eingriffe in dieses Grundgesetz dem Grundgesetz geschadet haben". Solche Eingriffe dokumentiert der Grundrechte-Report seit 1997 jährlich und zeigt dabei eine Verfassungsrealität auf, die dem schönen Text zuwider läuft. Den aktuellen Bericht hat die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger am heutigen Dienstag in Karlsruhe vorgestellt. Zu den Herausgebern gehören neben dem Komitee für Grundrechte und Demokratie der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein, die Vereinigung demokratischer Juristinnen und Juristen, die Neue Richtervereinigung und der Bundesarbeitskreis Kritischer Juragruppen, sowie die Humanistische Union, die Internationale Liga für Menschenrechte und "Pro Asyl".
Die Spionage durch den US-Geheimdienst NSA steht im Mittelpunkt des diesjährigen Berichts – im Juni 2013 hatte der ehemalige NSA-Mitarbeiter Edward Snowden erste Dokumente veröffentlicht. Inzwischen ist längst klar, dass es sich um eine "globale Massenüberwachung" handelt, so der Rechtsanwalt Rolf Gössner im Grundrechte-Report: "2013 geht in die Geschichte ein als ein Jahr, in dem eine neue, bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung und Kontrolle bekannt geworden ist, die Hunderte Millionen, ja Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft." Auch Deutschland ist betroffen - und der deutsche Staat ist offenbar selbst daran beteiligt. Die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Affäre dürfte mit der "engen deutsch-amerikanischen Kooperation" zu erklären sein, so Gössner.
Deutschland sei längst "integraler Bestandteil der US-Sicherheitsarchitektur und des Kriegs gegen den Terror" – von hier aus organisierten die USA Drohnenangriffe auf mutmaßliche Terroristen. Gössner spricht von einem "Präventionsstaat", in dem "in jedem Menschen, in jedem Gedanken" eine potentielle Bedrohung gesehen werde.
"Schon, wenn ich das ausspreche, merke ich, wie utopisch es ist"
Dieter Deiseroth, ehemaliger Richter am Bundesverwaltungsgericht, fordert als Konsequenz aus dem NSA-Skandal eine "Kultur des Whistleblowing" und für Edward Snowden einen gesicherten Aufenthalt und ein Zeugenschutzprogramm. Außerdem müssten Geheimverträge mit den USA, Großbritannien und Frankreich gegenüber dem Parlament offen gelegt und das NATO-Truppenstatut überarbeitet werden. Die EU solle mit den USA ein Datenschutzabkommen aushandeln. Im Moment sieht es allerdings nicht so aus, als hätte die Bundesregierung ernsthaftes Interesse, der US-Sicherheitspolitik entgegen zu treten. Dass der Generalbundesanwalt wohl nicht gegen die NSA ermitteln will, passt ins Bild. Elke Steven ist deshalb zurückhaltend: "Natürlich dürften die deutschen Geheimdienste an solchen Überwachungsmaßnahmen gar nicht mitarbeiten. Aber schon, wenn ich das ausspreche, merke ich, wie utopisch solche Forderungen sind."
Ist das Grundgesetz zu klein für solche globalen Themen? "Wir müssen die europäischen und internationalen Zusammenhänge viel mehr berücksichtigen", sagt Steven. "Das macht es manchmal komplizierter, aber gleichzeitig auch sehr spannend." Nicht nur die NSA-Spionage wirft solche Fragen auf. In mehreren Beiträgen kritisiert der Grundrechte-Report etwa den Umgang mit Asylbewerbern. Stevens erklärt: "Das ist ein Thema, das uns immer wieder beschäftigt. Einerseits gibt es immer mal wieder Erfolge, jetzt zum Beispiel, dass Kinder und Jugendliche nicht so leicht abgeschoben werden können. Aber im nächsten Schritt – und das finde ich sehr erschreckend – wird dieser Fortschritt durch neue Regelungen sofort wieder ausgehebelt."
2/2: (Kein) einheitliches Grundrecht auf Existenzminimum
Der Europäische Gerichtshof hatte im vorigen Jahr beschlossen, dass minderjährige Flüchtlinge besser geschützt werden müssen. So sollte das Asylverfahren möglichst schnell und in dem Mitgliedstaat stattfinden, in dem sich der Minderjährige aufhält. Seit Anfang dieses Jahres gilt jedoch eine neue Fassung der Dublin-Verordnung, die zahlreiche Kinder und Jugendliche aus der Regelung ausnimmt. Anders als es das EuGH-Urteil vorsah, können diese damit wieder in den Mitgliedstaat abgeschoben werden, in dem sie zuerst europäischen Boden betreten haben. Ein Fall, der nur auf EU-Ebene sinnvoll gelöst werden kann. Steven betont aber: "Natürlich ist das Problem, dass auf europäischer Ebene gemeinsam die Flüchtlingsabwehr beschlossen wird. Es ist aber auch so, dass Deutschland großen Druck ausübt, damit die Abwehr funktioniert."
Abgewehrt werden sollen auch bestimmte Gruppen von innereuropäischen Migranten, kritisiert Steven. "Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien landen hier auf der Straße, sie bekommen noch nicht mal eine Unterkunft. Ihnen wird jede Form der Unterstützung versagt, dabei haben sie als EU-Bürger durchaus bestimmte Rechte", so Steven. Ob EU-Ausländern Hartz IV-Leistungen zustehen, ist umstritten. Das Bundessozialgericht hat den Europäischen Gerichtshof eingeschaltet, ein Urteil steht noch aus. Katharina Stamm, Referentin für Migrationsrecht bei der Diakonie Deutschland, betont im Grundrechte-Report, ein menschenwürdiges Existenzminimum müsse für jeden Menschen gelten, der in Deutschland lebt, für EU-Bürger ebenso wie für Asylsuchende. Im Moment gilt es aber eher als wahrscheinlich, dass der EuGH keine entsprechenden Ansprüche gewährt. Ein einheitliches Grundrecht auf ein Existenzminimum kennt das EU-Recht nicht.
BVerfG und EuGH: Wo verlaufen die Kompetenzen?
Brisant ist für die Frage nach einer wirksamen Durchsetzung der Grundrechte auch die Abgrenzung der Kompetenzen von Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof. Letzterer hatte in einem Fall um Steuerhinterziehung, den ein schwedisches Strafgericht vorgelegt hatte, die Bedeutung der EU-Grundrechtecharta gestärkt – und damit auch seine eigenen Kompetenzen ausgeweitet. Die Entscheidung hatte in Deutschland für Diskussionen gesorgt und die Frage angeheizt, wo die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts endet und die des EuGH beginnt. Nimmt die Bedeutung des Grundgesetzes ab, wenn die EU-Grundrechtecharta an Bedeutung gewinnt? Steven sieht den Machtkampf zwischen den Gerichten auch als Chance: "Die Perspektive sind doch die Menschenrechte. Und eine Diskussion zwischen dem höchsten deutschen Gericht und dem höchsten europäischen Gericht könnte vielleicht dazu führen, dass sowohl das Grundgesetz wie auch die Grundrechtecharta menschenrechtsgemäßer interpretiert werden – wenn durch Bürgerrechtsorganisationen entsprechend Druck erzeugt wird."
Das ist der Druck, den der Grundrechte-Report aufrechterhalten will: "In diesem Jahr ist schon so viel passiert, was wir in den nächsten Bericht reinschreiben werden", sagt Steven. "Zum Beispiel der Versuch, Staaten zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären, um Flüchtlinge leichter abschieben zu können. Oder die Polizeigewalt auf einer Versammlung in Demmin am 8. Mai. Oder die Diskriminierung von Kopftuchträgerinnen im Arbeitsleben." Nach der Präsentation ist also vor dem nächsten Grundrechte-Report.
Annelie Kaufmann, Der Grundrechte-Report 2014: Das globale Grundgesetz . In: Legal Tribune Online, 03.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12159/ (abgerufen am: 06.07.2024 )
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