Das Verfassungsjubiläum ist vor allem ein westdeutscher Erinnerungstag – und damit eine vertane Chance. Dabei ist es angesichts historischer Versäumnisse gerade jetzt an der Zeit für eine gesamtdeutsche Debatte, meint Tobias Roß.
Es beginnt schon mit der Jahreszahl: Landauf, landab wird in der Woche um den 23. Mai der 75. Geburtstag des Grundgesetzes gefeiert, so auch am Mittwoch beim Staatsakt vor dem Bundestag. Mit dem 75. Jahrestag des Inkrafttretens der Verfassung ist die historische Realität und das Lebensgefühl vieler Menschen in Hannover, Koblenz und (natürlich) Bonn erfasst. Für den Landstrich zwischen Ostsee und Thüringer Wald, den wir der Einfachheit halber gemeinhin als "Ostdeutschland" bezeichnen, gilt das nicht. Dort jährt sich in diesem Jahr zum 35. Mal der Jahrestag der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls. Mit Feierstunden zu "75 Jahren Grundgesetz" dagegen adressiert man die ostdeutsche Lebenswirklichkeit eher nicht.
Entsprechend kritisch hat sich kürzlich auch die aus Thüringen stammende Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt im Stern geäußert. Sie meint, die alte Bundesrepublik feiere sich mit den Jubiläumsveranstaltungen selbst, Ostdeutschland sei dabei nur ein "Anhängsel".
Man könnte solcherlei Argumentation als ostdeutschen Minderwertigkeitskomplex und reflexhafte Kritik am Westen abtun. Das wäre allerdings ein Fehler – denn die Kritik trifft einen wunden Punkt. Sie nimmt zu Recht eine historische Kontinuität ins Visier: Wenn Verfassungsorgane, Politiker und Medien in Deutschland im Mai 2024 das 75. Jubiläum des Grundgesetzes feiern, setzt sich die schon zu Wendezeiten herrschende Erzählung fort, die auch die Deutsche Einheit selbst im Jahr 1990 bestimmt hat.
Blinde Flecken in der Einheitsdebatte
Es ging damals um die Frage: Tritt die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) nach Art. 23 GG a.F. zu? Oder gibt sich das wiedervereinte deutsche Volk eine neue Verfassung gemäß Art. 146 GG? Die Wiedervereinigung erfolgte – das ist bekannt – auf dem ersten Weg, also per Beitritt der DDR oder zugespitzt: als "Übernahme" der DDR durch die Bundesrepublik. So jedenfalls hat es der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem gleichnamigen Buch formuliert.
Während es im Rückblick so scheint, als hätten damals nur zwei vorgegebene Wege zur Wahl gestanden, war die Varianz 1990 deutlich größer: Es gab außer den Optionen Beitritt und komplette Verfassungsneuschöpfung auch Vorschläge für ein angepasstes Grundgesetz. Diese wurden vor allem im Sommer und Frühherbst 1990 nicht nur in der Politik, sondern auch unter Juristen viel diskutiert. Außerdem stand eine Volksabstimmung im Raum.
Auch 35 Jahre später lohnt sich ein Blick zurück auf diese bewegte Zeit. Die damalige Debatte lässt zugleich die blinden Flecken der beteiligten westlichen Verfassungsrechtler und Politiker für die massiven gesellschaftlichen Folgen der Beitrittslösung erkennen.
Das provisorische Grundgesetz
Um die Verfassungsdebatte von 1990 zu verstehen, ist zunächst ein Blick in das Grundgesetz in seiner bis dahin geltenden Fassung nützlich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben schon 1948/49 große Weitsicht bewiesen. Es wurde damals für den Fall einer Wiedervereinigung Art. 146 als Weg der Verfassungsneuschöpfung in das Grundgesetz aufgenommen. Um die Wiedervereinigung samt neuer Verfassung zu ermöglichen, sah das Grundgesetz selbst einen Verzicht auf seinen eigenen Fortgeltungsanspruch vor. Es wollte einer Wiedervereinigung mithin keinesfalls im Wege stehen.
Der Abgeordnete Heinrich von Brentano (CDU) hatte am 8. Mai 1949 im Bundestag historische Worte dafür gefunden: "Wir alle sind uns klar – und das kommt im letzten Artikel unseres Verfassungsentwurfs zum Ausdruck –, daß das, was wir hier beschließen, zeitlich begrenzt sein soll und muß. Und wir hoffen und wünschen, daß der Tag bald kommen möge, an dem unsere ganze Arbeit sich als überholt erweisen wird, der Tag, an dem das deutsche Volk, das ganze deutsche Volk in wahrhaft freier Willensentfaltung seine eigene Staatsform und sein eigenes Staatsgrundgesetz frei und unabhängig wird beschließen können."
Es überrascht deshalb, dass die überwiegende Auffassung in der Verfassungslehre im Jahr 1990 gleichwohl den Beitritt der DDR zur BRD nach Art. 23 GG favorisierte. Die Gründe dafür waren recht profan – und aus westdeutscher Sicht naheliegend: Das Grundgesetz konnte "als bewährte Verfassung" weitergelten. Die rechtliche Identität der Bundesrepublik blieb unberührt, allein die DDR ging unter. Zudem konnte man so auch weiter auf die Maßstäbe zurückgreifen, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zwischen 1951 und 1990 herausgebildet hatte. Eine "allgemeine Verfassungsdebatte" wollte man gerade vermeiden, wie man in einschlägigen juristischen Fachzeitschriften lesen konnte.
Pointiert lassen sich die Argumente wie folgt zusammenfassen: In der Bundesrepublik sollte sich so wenig wie möglich ändern. Oder wie es der damalige Finanzminister Theo Waigel kürzlich in der Retrospektive ausdrückte: "Lass uns dieses Grundgesetz bewahren. Etwas Besseres finden wir nicht." Hinzu kamen auf politischer Ebene die bekannten Sachzwänge, wie das befürchtete enge welthistorische Zeitfenster, das für die Vollendung der Einheit zur Verfügung stand.
Weitere Optionen neben Übernahme oder neuer Verfassung
Die genannten Argumente haben Gewicht. Allerdings fällt zugleich die massive Asymmetrie zwischen Ost und West in der 1990 geführten Verfassungsdebatte und sodann auch in der gewählten Beitrittslösung besonders auf: Während sich für die Menschen in den damals "neuen Ländern" im Rahmen einer umfassenden Transformation quasi über Nacht alle Lebensumstände änderten und Lebensentwürfe über den Haufen geworfen wurden, sollte sich durch den Beitritt der "Brüder und Schwestern im Osten" für die Bundesrepublik möglichst gar nichts spürbar verändern.
Dabei lautete die Alternative bei genauer Betrachtung gar nicht zwingend Beitritt oder Ausarbeitung einer komplett neuen Verfassung. In der Diskussion waren auch Mittelwege wie etwa eine Anreicherung des Grundgesetzes durch ergänzende Bestimmungen oder zumindest ein Referendum des gesamten Volkes in Ost und West über das Grundgesetz als gemeinsame Verfassung.
Es hat schon im Jahr 1990 sowohl in den parlamentarischen Debatten in Bundestag und Volkskammer als auch in der Zivilgesellschaft ein Bewusstsein für die Schwierigkeiten gegeben, die mit der Beitrittslösung verbunden waren. Es überrascht in der Retrospektive, wie zielgenau bestimmte – gerade sozialpolitische – Folgen eines anstehenden Beitritts schon in den Debatten im Sommer und Frühherbst 1990 adressiert worden sind.
Westdeutscher Kuhhandel um gesamtdeutsche Verfassung
So hat etwa der damalige SPD-Ministerpräsident des Saarlandes, Oskar Lafontaine, in der Bundestagsdebatte um den Einigungsvertrag im September 1990 auf die Bedeutung der "Würde und Selbstachtung der Menschen in der DDR" hingewiesen. Wörtlich sagte er: "Wenn die Menschen in der DDR nicht erfahren, daß mit der marktwirtschaftlichen Ordnung soziale Gerechtigkeit verbunden ist, dann glaube ich nicht, daß wir das Einigungswerk weiter gut voranbringen können."
Dementsprechend forderte die Sozialdemokratie seinerzeit mit Blick auf die Eigentumsverhältnisse in der DDR den Grundsatz "Rückgabe vor Entschädigung" umzukehren. Begangenes Unrecht könne nicht durch neues Unrecht geheilt werden. Gepaart waren diese Vorschläge regelmäßig mit der Idee, das gesamte Volk am Ende über ein ergänztes Grundgesetz abstimmen zu lassen.
Zivilgesellschaftliche Initiativen gingen in eine ähnliche Richtung, setzten aber teils andere inhaltliche Schwerpunkte. So hatte sich etwa im Juni 1990 ein mit Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kultur und Politik besetztes Verfassungskuratorium gegründet, das über eine Aktualisierung des Grundgesetzes beriet. Unter ihnen waren viele bekannte Namen wie Jürgen Habermas, Wolf Biermann oder Otto Schily. Das Kuratorium gilt heute als die erste gesamtdeutsche Bürgerinitiative. Auch dort ging es nicht darum, das Grundgesetz vollständig ad acta zu legen – sondern um die Frage, wie gewachsene Verfassungstraditionen des Grundgesetzes mit verfassungspolitischen Vorstellungen des Ostens zu einem neuen Ganzen ergänzt werden können. Im Mittelpunkt standen hier thematisch z.B. die Gleichberechtigung etwa durch eine Festlegung der paritätischen Besetzung öffentlicher Ämter, Kinderrechte sowie mehrere Konkretisierungen des Sozialstaatsprinzips. Noch im September 1990, kurz vor der Wiedervereinigung, hatten fast 1.000 Menschen im Weimarer Nationaltheater an historischer Stätte über diese Fragen diskutiert.
Der politische Kompromiss im Deutschen Bundestag zwischen der oppositionellen Sozialdemokratie und den regierungstragenden Parteien aus CDU, CSU und FDP spiegelt diese Debatten nur sehr bedingt wider: Er sah schließlich vor, dass die SPD-Fraktion dem Einigungsvertrag und dem darin vorgesehenen Beitritt der DDR nach Art. 23 GG zustimmte, während Union und FDP im Gegenzug darauf verzichteten, Art. 146 GG insgesamt zu streichen. So wurde der Weg originärer Verfassungsgebung durch das Volk zumindest für die Zukunft offengehalten. Deshalb findet sich Art. 146 GG bis heute im Grundgesetz.
Versäumnisse mit Folgen
Dass die 1990 diskutierten Alternativen zum Beitritt nicht wenigstens versucht worden sind, war ein Versäumnis – übrigens auch der DDR-Volkskammer, die den Beitrittsweg mitgetragen hat. Die Langzeitfolgen dieser Entscheidung sind erheblich: Durch den Beitritt und die sich anschließenden wirtschaftlichen, beruflichen sowie sozialen Verlusterfahrungen in den frühen 1990er Jahren wurden viele Menschen im Osten entmutigt und empfanden sich selbst oft mehr als Objekte der geschichtlichen Verhältnisse denn als handelnde Subjekte. Sie waren plötzlich mit Realitäten konfrontiert, auf die sie nicht vorbereitet waren. Im Grundgesetz, so wie es mit seiner Eigentums-, Sozial- und Wirtschaftsordnung ausgestaltet ist, fanden sich die tiefgreifenden Transformationserfahrungen der Ostdeutschen häufig nicht gespiegelt.
Das verdeutlicht das Beispiel der Spielzeugfirma "Sonni" aus dem Landkreis Sonneberg in Südthüringen. Sonneberg nennt sich seit Generationen die "Weltspielzeugstadt". Schon um 1900 gab es in Sonneberg mehr als 300 Hersteller. Vor der Wiedervereinigung produzierte das Unternehmen "Sonni" Puppen, Teddybären und anderes Spielzeug für den Weltmarkt. Diese Arbeit diente den Mitarbeitenden nicht nur zum Lohnerwerb, sondern war ein wichtiger Teil ihrer Identität. Denn in der DDR bestimmten die Betriebe einen großen Teil der Freizeitaktivitäten mit. Nach der Wiedervereinigung wurde "Sonni" von der Treuhand übernommen und letztlich aufgelöst.
Diese Erfahrungen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei "Sonni" und in vergleichbaren Fällen prägen vielerorts bis heute das Bild der Wiedervereinigung – und zeigen, dass die 1990 geführten verfassungsrechtlichen Debatten um Alternativen zum bloßen Beitritt ihre Berechtigung hatten.
Mehr Legitimität statt Treuhand-Brechstange
Zum einen hätte formal schon eine bewusste gemeinsame Abstimmung in Ost und West über die Verfassung – und sei es auch über das bestehende Grundgesetz – eine prägende und legitimierende Funktion auf die Menschen in der DDR gehabt. So wäre zumindest über den Akt der Wiedervereinigung Augenhöhe zwischen Ost und West hergestellt worden.
Alternativ hätte eine 1990 diskutierte Ergänzung des Grundgesetzes dazu beitragen können, durch materiell-verfassungsrechtliche Regelungen – etwa über eine seinerzeit diskutierte zeitweilige gesonderte Wirtschaftsverfassung für die neuen Länder – der DDR-Wirtschaft einen weniger harten Schnitt mit weniger schwerwiegenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen zu ermöglichen. Dann wäre es mit einiger Wahrscheinlichkeit zum "Fall Sonni" nicht gekommen.
Freilich wäre es andererseits verkürzt, die Verfassungsdebatte von 1990 allein als Debatte der verpassten Chancen zu bewerten. Zum vollständigen Bild gehört auch, dass die Diskussionen, die 1990 geführt worden sind, Verfassungsänderungen befördert haben, die einige Jahre später realisiert wurden. So beruht etwa die Einfügung des Art. 20a GG als Staatszielbestimmung zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und zum Tierschutz auf Verhandlungen der gemeinsamen Verfassungskommission, die im Nachgang zur Wiedervereinigung und auf Grundlage des Einigungsvertrages ins Leben gerufen wurde.
Osten ist kein demokratisches Niemandsland
Neben diesen langfristigen Effekten der historischen Verfassungsdebatte von 1990 gibt es auch aktuell Positives zur Akzeptanz des Grundgesetzes in Ostdeutschland zu vermelden. Es ist nämlich keinesfalls so, dass die Ostdeutschen generell in einer Mehrheit mit dem Grundgesetz fremdeln würden oder damit nichts anzufangen wüssten. Nach einer aktuellen Erhebung der Technischen Universität Dresden finden knapp 68 Prozent der Ostdeutschen, das Grundgesetz habe sich "voll und ganz" oder "eher bewährt". Das sind zwar 20 Prozent weniger als in Westdeutschland, aber die Zahlen sprechen doch für eine recht breite Akzeptanz, zumal die Zustimmung zur Verfassung steigt. Entgegen einiger Unkenrufe vor allem aus dem Westen ist "der Osten" also doch zu Differenzierung fähig und kein demokratisches Niemandsland.
Vielleicht ist das – bei aller Kritik an historischen Entscheidungen – eine der schönsten Nachrichten zu diesem Jubiläum: Das Grundgesetz ist nach 75 Jahren Geltungsdauer im Westen sowie knapp 34 Jahren im Osten lebendig. Es ermöglicht mit seinen Garantien den Austausch und das Gespräch gerade auch zu streitigen Themen.
Es gibt also allen Grund zu feiern – auch im Osten. Und es ist hier nicht anders als auf jeder anderen Party auch: Ob man bei den Feierlichkeiten am Rand steht oder die Party zu seiner eigenen macht – das liegt auch immer ein Stück weit an einem selbst.
Tobias Roß ist Rechtsanwalt und Partner der auf Verwaltungs- und Verfassungsrecht spezialisierten Kanzlei Dombert Rechtsanwälte. Er war längere Zeit als Anwalt in Potsdam tätig und leitet heute den Kanzleistandort Düsseldorf. Geboren und aufgewachsen ist er im thüringischen Sonneberg.
Eine ostdeutsche Perspektive: . In: Legal Tribune Online, 24.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54617 (abgerufen am: 20.11.2024 )
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