Der britische Supreme Court hat die Zwangspause des Parlaments für nichtig erklärt. Die von Premier Johnson bei der Queen erwirkte Anordnung zur Parlamentsschließung gleiche einem "weißen Blatt Papier", so die Vorsitzende Richterin Hale.
Die Zwangspause für das britische Parlament auf Drängen von Premierminister Boris Johnson ist rechtswidrig und damit gegenstandslos. Dies hat am Dienstag der Supreme Court in London entschieden. Das Vorhaben von Premierminister Boris Johnson, das Vereinigte Königreich am 31. Oktober auf Biegen und Brechen aus der EU zu führen, wird damit nicht einfacher.
Johnson, der zur Not auch einen ungeregelten Brexit ohne Abkommen mit der EU in Kauf nehmen will, hatte bei der Queen beantragt, das Parlament bis kurz vor dem Austrittsdatum zu suspendieren. Kritiker vermuten, dass er sich damit der Kontrolle der Abgeordneten entziehen wollte. Die Queen stimmte zu und suspendierte das Parlament für fünf Wochen. Die Zwangspause begann dann in der Nacht zum 10. September unter teils tumultartigen Szenen. Das Parlament sollte ursprünglich erst am 14. Oktober - etwa zwei Wochen vor dem geplanten Brexit - wieder zusammentreten.
Zunächst hatten der High Court im nordirischen Belfast und der Londoner High Court Klagen gegen die Zwangspause abgelehnt. Dagegen gab der schottische Court of Session 75 Parlamentariern recht, die die Suspendierung für unzulässig hielten. Sie argumentierten, Johnson nutze diese Möglichkeit nur, um seinen Brexit-Kurs ohne parlamentarischen Rechtfertigungsdruck durchzudrücken. Die Regierung hatte gegen das Urteil des schottischen Gerichts das Rechtsmittel zum Supreme Court eingelegt.
Parlament in "extremer" Weise gehindert
Nun fand die Vorsitzende Richterin des Supreme Court, Lady Brenda Hale, deutliche Worte für die Suspendierung und den Premier: Es handele sich um einen einmaligen Fall, den es unter diesen Umständen noch nie gegeben habe und "den es wahrscheinlich auch nie wieder geben wird", so Hale, die davon sprach, dass die Auswirkungen der Suspendierung auf die britische Demokratie drastisch seien. Die Abgeordneten würden in "extremer" Weise an der Ausübung ihres verfassungsmäßigen Auftrags gehindert.
Das Urteil der elf Richter erging einstimmig und fiel für Johnson nicht nur in der Begründung, sondern auch im Ergebnis verheerend aus. Die Suspendierung ist demnach nicht nur rechtswidrig, sondern wird behandelt, als habe es sie nie gegeben. Die von Johnson bei Königin Elizabeth II. erwirkte Anordnung gleiche einem "weißen Blatt Papier", so Hale. "Das Parlament ist nicht suspendiert." Mit anderen Worten: Die Abgeordneten können ohne weiteres wieder zusammentreten und werden dies am Mittwoch um 12.30 Uhr (MESZ) wieder tun, teilte der Präsident des Unterhauses, John Bercow, nach der Urteilsverkündung mit.
"Das ist eine ziemliche Ohrfeige für die Regierung" kommentiert Roman Kaiser gegenüber LTO die Stellungnahme des Gerichts. Kaiser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht in Augsburg und befasst sich seit Jahren intensiv mit dem britischen Verfassungsrecht. "Das Gericht hat festgestellt, dass Johnson die Demokratie beschränken wollte. Das ist ein ziemlich schwerer Vorwurf gegen einen Premierminister", meint Kaiser. Ob die nun lauter werdenden Rücktrittsforderungen Gewicht erhalten, bleibt aber zunächst abzuwarten.
Supreme Court: Zwangspause ist justiziabel
Fest steht jedenfalls, dass der Supreme Court mit seiner Entscheidung nicht nur Johnson eine empfindliche Niederlage zugefügt, sondern auch ein Stück britische Verfassungsgeschichte geschrieben hat. Denn die britische Verfassung steht nicht, wie in Deutschland, auf Papier geschrieben, sondern ist vielmehr ein Geflecht aus Gewohnheitsrecht und Traditionen, weshalb die Entscheidung schwer vorherzusehen war. Schon die Frage, ob Johnsons Handeln überhaupt justiziabel war, war unter Experten umstritten.
Das Gericht stellte nun klar, dass die Justiz das Regierungshandeln in Bezug auf Parlamentssuspendierungen grundsätzlich überprüfen kann. Und es legte einen Rahmen fest, der bei solchen Handlungen nicht überschritten werden darf: "Was nicht geht, ist, wenn die Vertagung den Effekt hat, dass das Parlament nicht mehr seine Funktion als Gesetzgeber und Kontrolleur der Regierung erfüllen kann, außer es gibt eine hinreichende Rechtfertigung" erläutert Kaiser.
Eine solche habe die Regierung, abgesehen von Beteuerungen, dass die Auswirkungen gar nicht so dramatisch seien, aber nie vorbringen können, bemängelte der Supreme Court. "Das Gericht stellt sich deshalb auf den Standpunkt: wir mussten so entscheiden", so Kaiser. Dass die Regierung trotz der Entscheidung des schottischen Court of Session auch vor dem Supreme Court keine entsprechende Rechtfertigung vorgebracht habe, spreche dafür, dass tatsächlich kein anderer Zweck verfolgt worden sei, als Johnson eine Verschnaufpause auf dem Weg zum Brexit zu verschaffen, meint er.
Nächster Streit vorprogrammiert?
Was aus dem Urteil nun politisch folgt, ist nicht genau vorherzusagen. Fest steht, dass den Parlamentariern damit wieder die Möglichkeit zur Kontrolle der Regierung in die Hand gegeben wird. Und genau das sollen sie auch tun, so der Supreme Court: Das Parlament habe ein Recht darauf, in der Zeit vor einem wichtigen Ereignis wie dem geplanten EU-Austritt eine Stimme zu haben, betonte Hale in ihrer Urteilsverkündung.
Das von der Opposition durchgedrückte und bereits verabschiedete Gesetz, welches Johnson untersagt, einen Brexit ohne Abkommen zu akzeptieren, werde die Regierung "womöglich brechen", vermutet Kaiser. Ob die Opposition dies verhindern könne, sei nicht klar. Letztlich bleibe wohl wieder nur der Gang vor Gericht: "Es wäre möglich, die Regierung juristisch zu zwingen, das Gesetz zu befolgen. Gegebenenfalls auch mit Beugehaft für den Premier."
Mit Material der dpa
Supreme Court erklärt Zwangspause des Parlaments für nichtig: . In: Legal Tribune Online, 24.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37811 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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