Der Brexit hält nicht nur Politiker, sondern auch Juristen auf Trab. Nun entscheidet der Supreme Court über die von Boris Johnson verordnete Zwangspause des Parlaments. Karlsruher Maßstabsbildung ist den Richtern fremd, erklärt Roman Kaiser.
"I make my living from a subject that doesn't exist." Diese ironische Bemerkung des Politikwissenschaftlers Vernon Bogdanor bringt die berühmteste Eigenschaft der britischen Verfassung zum Ausdruck: Sie ist ungeschrieben. Sie ist nicht in einem einzigen Dokument kodifiziert, sondern setzt sich zusammen aus einer Reihe von einfachen Parlamentsgesetzen, Regeln des Case law sowie Verfassungskonventionen, die auf politischer Tradition und Übung basieren.
Wichtigster Grundsatz der britischen Verfassung ist die Parlamentssouveränität: Das Parlament kann Gesetze jeglichen Inhalts verabschieden, die als höchstes Recht des Landes Geltung haben. Wie sich nun jedoch gezeigt hat, hängt diese "Souveranität" von einer maßgeblichen Bedingung ab: Das Parlament muss überhaupt tagen.
Anders als etwa beim Bundestag wird das britische Parlament nicht nur aus Anlass von Wahlen, sondern auch dazwischen – in aller Regel jährlich – vertagt und nach einer kurzen Pause wieder eröffnet. Während die Parlamentseröffnung, die Queen's Speech, dank ihrer höfischen Zeremonien recht bekannt ist, stand die Vertagung, die Prorogation, bisher nicht im Blicklicht der Öffentlichkeit. Das hat sich geändert, seit Premierminister Boris Johnson die Abgeordneten kurz vor dem 31. Oktober, dem aktuellen Brexitdatum, gleich für fünf Wochen in die Zwangspause geschickt hat.
Das Verhältnis der drei Gewalten
Die Suspendierung des Parlaments obliegt der Queen als Teil ihrer königlichen Prärogative. Das sind diejenigen Exekutivkompetenzen, die der Krone traditionell ohne gesetzliche Ermächtigung zustehen. Sie werden heutzutage fast vollständig nur noch formell im Namen der Queen, in der Sache aber von Ministern ausgeübt, im Falle der Vertagung vom Premierminister.
Der aktuelle Verfassungskonflikt entspringt somit dem Gegensatz von Parliamentary sovereignty und Royal prerogative – einem Gegensatz, der auch historisch das Triebwerk der britischen Verfassungsentwicklung ist. Man könnte nahezu die gesamte Verfassungsgeschichte Großbritanniens anhand dessen schreiben, wie das Parlament der Exekutive Kompetenzen abgerungen hat.
Die Gerichte haben dabei stets nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Verfassungskonflikte werden klassischerweise im politischen Prozess gelöst. Großbritannien hat an sich eine Political constitution, eine Verfassung, die nicht einen fixen rechtlichen und gerichtlich überprüfbaren Rahmen vorgibt, sondern in hohem Maße von Konventionen lebt, die politisch durchsetzbar, aber auch politisch wandelbar sind. Richtern steht es grundsätzlich nicht zu, an dieser Stelle einzugreifen. Ihre Zurückhaltung bei politischen Fragen ist immens.
Vor diesem Hintergrund ist einzuschätzen, welche Bedeutung das aktuelle Verfahren vor Großbritanniens höchstem Gericht hat. Die Entscheidung hat das Potenzial, nicht nur das Verhältnis von Legislative und Exekutive, sondern auch das Verhältnis der Judikative zu den beiden anderen Gewalten zumindest ein Stück weit zu verändern. Gleichzeitig ist der Umfang der zu entscheidenden Fragen aber beschränkt: Es geht allein um eine ganz bestimmte Exekutivkompetenz; und nicht um eine allgemeine Befugnis der Gerichte, politische Entscheidungen zu überprüfen.
Wie justiziabel ist die Prärogative?
Die Richter des Supreme Court werden nach der von Dienstag bis Donnerstag abgehaltenen mündlichen Verhandlung drei wesentliche Fragen beantworten müssen: Ist die Entscheidung über die Vertagung des Parlaments justiziabel? Wenn ja, welchen rechtlichen Grenzen unterliegt sie? Und wurden diese Grenzen im konkreten Fall verletzt?
Bereits die erste Frage betrifft zentral das Verhältnis von Politik und Recht. Kann die Entscheidung des Premierministers, wann und wie lange das Parlament suspendiert wird, von den Gerichten überprüft werden? Die beiden Instanzgerichte, deren Urteile vor dem Supreme Court angegriffen werden, fanden darauf unterschiedliche Antworten. Der englische High Court betonte den politischen Charakter der Entscheidung, das Parlament zu vertagen, und verneinte die Justiziabilität, der schottische Court of Session bejahte sie.
Einiges spricht dafür, dass der Supreme Court die Justiziabilität bestätigen wird. Denn an sich geht es allein darum, ob die Ausübung einer bestimmten Exekutivkompetenz überhaupt gerichtlich überprüft werden kann. Im Grundsatz ist dies seit Längerem akzeptiert. Insbesondere kann die Regierung die Prärogative nicht dazu nutzen, den in Gesetzen ausgedrückten Willen des Parlaments zu durchkreuzen – darauf basiert etwa das Brexit-Urteil des Supreme Court von Januar 2017.
Die politische Ausübung der Prärogative unterliegt also zumindest gewissen rechtlichen Grenzen. Warum sollte dies gerade beim Teilaspekt der Vertagung anders sein? Es steht zu vermuten, dass jedenfalls die Richtermehrheit sich nicht die Möglichkeit nehmen lassen wird, auch hier in Fällen einer missbräuchlichen Ausübung einzuschreiten.
Dabei kommt es übrigens nicht auf Unterschiede zwischen englischem und schottischem Recht an. Das Vereinigte Königreich umfasst drei Rechtsordnungen: England und Wales, Schottland sowie Nordirland. Gravierende Unterschiede bestehen im Zivilrecht. Im Verfassungsrecht betreffen die Differenzen, die noch auf die Zeit vor der Vereinigung im Jahr 1707 zurückgehen, im Wesentlichen nur die Einstellung der Richter bei der Überprüfung politischer Entscheidungen. Insofern überrascht nicht, dass gerade das schottische Gericht zugunsten der Kläger entschieden hat. Rechtlich besteht jedoch kein Unterschied.
Unzulässiger Zweck?
Wo aber sind die Grenzen der Suspendierung? Bei dieser zweiten Frage kommt es vor allem darauf an, welche Zwecke die Regierung verfolgen darf. Der Supreme Court wird mit Sicherheit keinen Katalog zulässiger Zwecke oder eine abstrakte Definition aufstellen – Karlsruher "Maßstabsbildung" ist britischen Richtern fremd. Vielmehr geht es zentral darum, ob die Vertagung legitimerweise dazu genutzt werden darf, die Arbeit des Parlaments zu verhindern. Die Kläger und der Court of Session argumentieren, dass dies in einer parlamentarischen Demokratie nicht zulässig sei.
Die Regierung hält dem entgegen, dass sich das Parlament selbst mittels eines Gesetzes gegen die bevorstehende Vertagung hätte zur Wehr setzen können. Ob dies die Richter überzeugen wird, bleibt abzuwarten. Manche von ihnen haben in ihren Nachfragen auch angedeutet, dass es möglicherweise gar nicht auf das Motiv, sondern allein auf die Wirkung der Suspendierung ankommt.
Ein einmaliger Vorgang in der britischen Rechtsgeschichte
Sollten die Klagen die beiden ersten Hürden nehmen, ist die wirkliche Krux des Falls die dritte Frage: Hat die Regierung Johnson im konkreten Fall unzulässig gehandelt? Vor dem schottischen Court of Session musste die Regierung auf dieser Tatsachenebene fast zwingend verlieren, ließ sie doch ein so genanntes Witness statement vermissen.
Mit einer solchen Zeugenaussage wird normalerweise dargelegt, wie eine Verwaltungsentscheidung zustande gekommen ist. Dass die Regierung dazu nicht in der Lage war, wirft kein gutes Licht auf ihre Entscheidung. Es bedeutet aber vor allem auch, dass es dem schottischen Gericht möglich war, von äußeren Umständen auf den wirklich verfolgten Zweck zu schließen. Etwas zugespitzt lässt sich sagen: Der Court of Session hat festgestellt, dass Boris Johnson die Queen belogen hat. Ein einmaliger Vorgang in der britischen Rechtsgeschichte.
Wie die Richter des Supreme Court die Fakten des Falls beurteilen, wird wohl eine der spannendsten Fragen ihres Urteils sein. Es ist nicht unmöglich, dass sie bei den Rechtsfragen dem Court of Session zustimmen, im Ergebnis aber wie der High Court zugunsten der Regierung entscheiden.
Gewinnt die Regierung, werden sich wieder alle Augen auf den EU-Gipfel Mitte Oktober richten: Nach einem jüngst vom Parlament verabschiedeten Gesetz muss Boris Johnson um eine Verlängerung der Austrittsfrist bitten. Verliert die Regierung hingegen, stellt sich dem Premierminister zunächst eine andere Frage: Kann er noch im Amt bleiben? In der britischen Politik ist momentan alles möglich. Vor Gericht allerdings auch.
Der Autor Roman Kaiser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Medizinrecht und Rechtsphilosophie (Prof. Dr. Josef Franz Lindner) in Augsburg und Rechtsreferendar in München. Seit seinem Erasmusaufenthalt in Oxford befasst er sich mit dem Verfassungsrecht Großbritanniens.
Britische Parlamentspause vor Gericht: . In: Legal Tribune Online, 19.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37719 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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