EU-Grenze Griechenland-Türkei: Was bleibt vom Rechts­staat im Aus­nah­me­zu­stand?

von Marion Sendker

03.03.2020

Seit dem Wochenende versuchen Tausende Geflüchtete aus der Türkei in die EU zu kommen. Doch die Grenzen sind längst dicht gemacht. Völkerrechtlich ist das nicht vertretbar, meint Marion Sendker zu einer Krise der Rechtsstaatlichkeit.

Schüsse aus Richtung Griechenland. Ein Gruppe Menschen steht nahe der türkischen Kreisstadt Ipsala im Nordwesten des Landes, unweit der Grenze zum EU-Nachbarn. Ein junger Mann trägt ein drei Monate altes Baby auf dem Arm, als ihn ein Geschoss aus Europa am Kopf trifft. So zeigt es ein Video, das LTO vorliegt. Das Kind bleibt unversehrt – dem Mann fließt Blut über das linke Auge. "Hier ist kein Journalist, der darüber berichten kann", schreibt ein Syrer, der den blutenden Mann gefilmt hat. Auf dem Video, das er schickt, sieht die Verletzung wie eine Platzwunde aus. Journalisten wird der Zugang zu manchen Grenzregionen seit ein, zwei Tagen verwehrt.

Die Gruppe der Migranten drängt derweil zurück, will wieder nach Istanbul und von dort aus in die Städte, in denen die Menschen gelebt haben, bevor die Türkei am Wochenende die Grenzen geöffnet hat. "Wir sind sechs Stunden zur Grenze gelaufen", berichtet der Syrer, der das Video geschickt hat und seinen Namen nicht nennen möchte. "Irgendwann wollten viele wieder nach Istanbul, aber die türkischen Behörden haben es nicht erlaubt, sie haben uns gezwungen zur Grenze zu gehen." Dort seien sie stundenlang beschossen worden. Mittlerweile ist der Mann wieder unterwegs nach Istanbul. Enttäuscht und wütend. "Sie haben uns eine Falle gestellt", schreibt er.

EU-Türkei Abkommen: Ein Deal, der keiner mehr ist

Geschosse, Tränengas: Es braucht kein juristisches Detailwissen, um zu erkennen, dass da irgendwas nicht mit rechtmäßigen Dingen zugeht. Der türkische Außenminister twitterte dazu am Samstag: "Sieh mal einer an, wer uns in internationalem Recht belehren will: Und die setzen jetzt schamlos Tränengas gegen tausende unschuldige Menschen ein, die vor ihren Grenztoren stehen.", so Mevlüt Çavuşoğlu. "Wir haben keine Verpflichtung, diese Menschen aufzuhalten, aber Griechenland ist verpflichtet, sie wie Menschen zu behandeln!" Seine Aussage ist wahr wie falsch:

Die Türkei ist gemäß ihrem Deal mit der Europäischen Union aus dem Jahr 2016 verpflichtet, Geflüchtete im Land zu versorgen. Die nun geöffneten Grenzen stellen einen Verstoß gegen diesen Teil des Flüchtlingsdeals dar – auch wenn die ganze Aktion offenbar nur ein Versuch ist, der EU, vor allem Deutschland, Geld abzupressen. So stellte es der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende dar, als er sagte: "Ich habe Bundeskanzlerin Merkel um Geld gebeten, aber es ist nichts gekommen. Also habe ich noch einmal gefragt. Sie konnte nicht klar antworten, daraufhin habe ich gesagt, dass ich dann die Flüchtlinge schicke."

Und selbst wenn also die Türkei in den kommenden kurzfristig ihre Grenzen wieder schließt und das mit Verpflichtungen aus dem EU-Türkei-Deal begründet, dann wäre das sicher nur die offizielle Erklärung – und ein offizielles Rückbesinnen auf einen Deal, der aktuell keiner mehr ist.

Nicht nur die Türkei verabschiedet sich vom Abkommen, sondern auch Griechenland verstößt gerade ganz offen und vor den Augen der EU gegen Völkerrecht. An der etwa 200 Kilometer langen grünen Grenze zur Türkei, die normalerweise nicht überwachbar ist, finde derzeit ein "griechisches Manöver" mit scharfer Munition statt, sagt der Jurist Robert Nestler von der Organisation "Equal Rights Beyond Borders". Die NGO vertritt vor allem Geflüchtete in Griechenland. "Wir hatten Kontakt zu ein paar unbegleiteten Minderjährigen, die es rüber geschafft haben, sie haben uns bevollmächtigt. Wir haben ihnen geraten, einen Asylantrag bei der Polizei zu stellen, auf die Gefahr hin, eine Anzeige wegen Schmuggeln zu bekommen." Etwas später hätten die Juristen von den Minderjährigen aus der Türkei gehört. Sie seien also zurückgeschafft worden.

Aktuelles EGMR-Urteil kein Blanko-Scheck für Push-Backs

Solche Push-Backs sind nach internationalem Recht eindeutig verboten, auch wenn manche Stimmen, wie die des Europaabgeordneten Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei (EVP), das ablehnen und auf ein aktuelles Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) verweisen. Wenn es zu kollektiven Angriffen auf die Grenze komme, dann könne auch kollektiv zurückgeführt werden, sagte der Politiker im Deutschlandfunk. "Das wird jetzt in Griechenland auch durchgeführt. Die Rechtslage ist deswegen eindeutig."

Der Fraktionsvorsitzende der EVP verkennt aber die Tragweite des Urteils: Die Richter in Straßburg hatten vor wenigen Wochen festgestellt, dass eine kollektive Abschiebung rechtmäßig sei, weil Migranten in dem Fall illegal nach Spanien eingereist waren. Das ist indes kein Blankocheck für Push-Backs. Der EGMR hat sein Urteil darauf gestützt, dass es noch legale Zugänge in das Einreiseland gibt. Griechenland ist aber seit Tagen abgeriegelt. Das EGMR-Urteil stellt auch nicht das Verbot unmenschlicher Behandlung zum Beispiel aus Art. 3 EMRK oder Art. 4 der EU-Grundrechtecharta und die Garantie effektiven Rechtsschutzes etwa aus Art. 18 EMRK oder aus Art. 47 EU-Grundrechtecharta infrage.

"Auch aus dem Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention, zu deren Einhaltung die EU primärrechtlich verpflichtet ist, ergibt sich zudem ein Recht auf individuelle Prüfung eines Asylantrags", sagt der NGO-Jurist Nestler. "Doch das kann bei Expressabschiebungen nicht gewährleistet werden", meint Nestler. Zwar dürfe Griechenland die Menschen zeitweise an der Grenze festsetzen, aber ihr Recht auf ein Verfahren bliebe bestehen.

Die Minderjährigen, die Nestler und seine KollegInnen vertreten, seien mittlerweile wieder weit von der Grenze entfernt. Ein Recht auf Einreise sei deswegen schwer durchzusetzen. "Für alle anderen, die noch im Grenzgebiet sind, kann man versuchen, ein Verfahren vor dem EGMR zu betreiben, weil die Polizei den Personen gegenüber Hoheitsgewalt ausübt und zur Entgegennahme von Asylanträgen verpflichtet ist." Doch die griechische Regierung widerspricht einer solchen Pflicht, indem sie für einen Monat das Asylrecht ausgesetzt hat. Sie stützt sich dabei auf Art. 78 Abs. 3 des Vertrags zur Arbeitsweise der EU (AEUV). Widerstand von der EU gab es nicht, obwohl der Schritt rechtlich nicht haltbar sei, meint Nestler: "Dazu fehlen einem die Worte. Es verstößt gegen Völkerrecht, Flüchtlingsrecht, EU-Verfassungsrecht, Menschenrechte – alles. Dass jemand sowas sagt, hätte ich vor zwei Wochen nicht für möglich gehalten."

NGO-Jurist: Griechenland darf Asylrecht nicht aussetzen

Laut Art. 78 Abs. 3 AEUV darf der Europäische Rat auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments mit qualifizierter Mehrheit vorläufige Maßnahmen zugunsten des Mitgliedstaates erlassen, der sich aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage befindet. Einen entsprechenden Prozess hat es in Brüssel aber nicht gegeben. "Griechenland hat keine einseitigen Befugnisse, das Asylrecht auszusetzen. Die Klausel soll vom Wortlaut her Mitgliedstaaten entlasten und nicht Geflüchtete belasten", so Nestler.

Rechtlich sei die Situation also klar, meint Nestler. Tatsächlich entscheide sich die EU aber anders, indem sie Griechenland nicht an Recht und Gesetz erinnert, sondern Frontex zur Grenze schicke.

Keine Flüchtlingskrise – aber eine Krise der Rechtsstaatlichkeit

Nicht nur an der Landgrenze spielen sich dramatische Szenen ab, auch vor den Ägäischen Inseln zeigt sich Europa aktuell von einer Seite, die unter rechtsstaatlichen Kriterien schwierig ist. Die griechische Küstenwache drängt mit Hilfe des europäischen Grenzschutzes Frontex aus der Türkei übersetzende Boote mit Geflüchteten ab. Es gibt Videos, die zeigen, wie die Gefährte beschossen werden. Der Europaabgeordnete der Grünen, Erik Marquardt, ist zurzeit auf der Ägäisinsel Lesbos. Dort kommen täglich ein paar Hundert Menschen an, was bei Weitem nicht der Situation von 2015 entspricht. Sie werden aus der Türkei bewusst durchgelassen. Das sei ein Versuch der Erpressung, auf den die EU nicht reinfallen dürfe: "Im Grunde muss man sich klarmachen, dass da ein Staat ist, der lange mit fast vier Millionen Geflüchteten klargekommen ist: die Türkei. Jetzt bedroht dieses Land bewusst die EU. Dort gibt es aber 27 Staaten, die wirtschaftlich teilweise viel stärker sind."

Marquardt fordert, dass sich die EU jetzt besser verhält als die vom Westen oft kritisierte Türkei und rechtsstaatliche Antworten gibt. "Man muss nicht nur humanitäre Hilfe leisten, sondern auch rechtsstaatliche: Man könnte zum Beispiel Fristen für den Zugang zu Asylverfahren erweitern. Griechenland braucht dazu schnell Personal und die Geflüchteten brauchen dringend den Zugang zu geordneten Verfahren. Am Ende könnte eine Umverteilung auf die verschiedenen EU-Länder stehen, wo die Verfahren jeweils durchgeführt werden."

"Rechtsstaatliche Verfahren zu gewährleisten ist eine originäre Aufgabe der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten, sagte am Dienstag Rechtsanwalt Thomas Oberhäuser, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht des Deutschen Anwaltvereins. "Die EU ist ein Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts und muss dies gerade in Ausnahmesituationen unter Beweis stellen."

Zitiervorschlag

EU-Grenze Griechenland-Türkei: . In: Legal Tribune Online, 03.03.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40607 (abgerufen am: 04.11.2024 )

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