Südafrika will ein Ende des Militäreinsatzes in Gaza erreichen und wirft Israel erneut Völkermord vor. Am Donnerstag und Freitag verhandelte der IGH über den neuen Eilantrag. Israel bezeichnet die Vorwürfe als "Verdrehung der Wirklichkeit".
Erst am Donnerstag warnten die Außenminister von 13 Staaten, darunter Deutschland, in einem Brief an Israel vor einer umfassenden Militäroffensive in Rafah und forderten mehr Unterstützung für die palästinensische Bevölkerung. Auch Außenministerin Annalena Baerbock verschärfte ihren Ton: "Die Menschen dort wissen weder ein noch aus, und haben keine sicheren Orte mehr, an die sie fliehen können. Der Schutz der Zivilbevölkerung muss aber höchste Priorität haben. Das ist im Moment nicht zu erkennen", sagte sie am Donnerstag.
Laut Schätzungen der Vereinten Nationen (UN) haben von den gut 2,3 Millionen Einwohnern des Gazastreifens bis zu 1,4 Millionen Menschen in Rafah Zuflucht gefunden, die Flüchtlingslager sind überfüllt. Viele müssen jetzt aber weiterziehen: Israel vermutet die letzten verbliebenen Hamas-Bataillone in Rafah und hat Anfang Mai mit der Evakuierung des östlichen Teils der Stadt begonnen.
Wegen der Offensive in Rafah musste sich Israel jetzt erneut vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) verantworten. Südafrika wirft Israel Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vor und will mit seinem mittlerweile vierten Eilantrag vom 10. Mai 2024 den Militäreinsatz stoppen. Die Maßnahmen, die der IGH bisher angeordnet hat, seien angesichts der veränderten Umstände in Gaza nicht ausreichend. In den Eilentscheidungen vom 26. Januar und 28. März hatten die Richterinnen und Richter in Den Haag Israel aufgefordert, seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention einzuhalten. Außerdem gaben sie dem Staat vor allem auf, mehr humanitäre Hilfe zuzulassen und mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Zur zweiten Eilentscheidung kam es aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage in Gaza.
Durch die Eskalation um Rafah seien jetzt neue Sofortmaßnahmen notwendig, argumentiert Südafrika. Ursprünglich hatte es seinen Antrag auf den Stopp des militärischen Vorgehens in Rafah beschränkt. Bei der Verhandlung am Donnerstag forderte Südafrikas Botschafter Vusi Madonsela jedoch ein Ende des Militäreinsatzes im gesamten Gazastreifen. Außerdem solle Israel Ermittlern, humanitärer Hilfe und Journalisten ungehindert Zugang gewähren. Israel, das am Freitag seine Argumente vortragen durfte, wies indes Vorwürfe des Völkermords zurück und berief sich auf sein Selbstverteidigungsrecht.
Südafrika: Militäraktion in Rafah ist "Teil des Endspiels"
Nach Art. 76 Abs. 1 seiner Gerichtsordnung kann der IGH – entweder auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen – zuvor getroffene Eilentscheidungen aufheben oder ändern, wenn eine Änderung der Sachlage das erfordert. Darauf beruft sich Südafrika. Die Eskalation der Lage schaffe "neue Tatsachen, die den Rechten der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen irreparablen Schaden zufügen", so die Rechtsvertreter Südafrikas. "Die palästinensische Bevölkerung ist Opfer eines Völkermords – und die bisherigen Anordnungen des IGH haben nicht ausgereicht, um sie zu beschützen", sagte Professor Vaughan Lowe bei der Verhandlung. Der IGH müsse handeln, damit seine bisherigen Anordnungen nicht wertlos seien.
Das Vorgehen Israels in Rafah sei "Teil des Endspiels", so Lowe. "Dies ist der letzte Schritt zur Zerstörung von Gaza und des palästinensischen Volkes", ergänzte er.
Es sei unvorstellbar, dass die Situation in Gaza sich seit der letzten IGH-Entscheidung Ende März noch weiter verschlechtern könne, so John Dugard, einer der Anwälte Südafrikas. Doch genau das sei der Fall. Städte und Krankenhäuser seien nahezu vollständig zerstört worden. Rafah sei der "letzte Zufluchtsort für etwa 1,5 Millionen Menschen", der "letzte lebensfähige Teil für die medizinische Versorgung", sagt Dugard. Israel zwinge diese vertriebenen Menschen jetzt erneut dazu, zu fliehen.
Der Angriff auf Rafah sei Teil des "anhaltenden Völkermords in Gaza", so Anwältin Adila Hassim. Israel töte immer noch Zivilisten "in alarmierendem Ausmaß" und greife gezielt Krankenhäuser an.
Israel: Südafrika missbraucht Völkerrecht "auf abscheuliche und zynische Weise"
Israel wies die von Südafrika vorgebrachten Vorwürfe als "Verdrehung der Wirklichkeit" zurück. Südafrika missbrauche das internationale Recht auf "abscheuliche und zynische Weise", sagte der Rechtsvertreter Israels, Gilad Noam, am Freitag in Den Haag. "Etwas immer wieder als Völkermord zu bezeichnen, macht es noch nicht zu einem Völkermord. Eine Lüge zu wiederholen, macht sie nicht wahr", so Noam.
Zudem kritisierte er die kurzfristige Anberaumung der Anhörung. Südafrika hatte den Antrag am 10. Mai eingereicht, weniger als eine Woche später habe die Anhörung begonnen. Einen Antrag auf Verlegung des Termins habe der IGH abgelehnt. Deshalb sei Israel an diesem Tag "nicht durch sein ausgewähltes Team an Rechtsanwälten" vertreten.
Inhaltlich sagte er, das Bild, das Südafrika vermittle, sei "völlig von den Tatsachen und Umständen losgelöst". Um die Palästinenser zu beschützen, müsste die Hamas ausgelöscht werden. Rafah sei ein "militärisches Bollwerk der Hamas", die Israel mit Raketen beschieße. Auch halte die Hamas noch immer zahlreiche Geiseln fest. Israel sorge zudem für humanitäre Hilfe und tue alles zum Schutz der Zivilbevölkerung. Jeder Staat in der schwierigen Position, in der Israel sich befinde, würde genauso handeln. Südafrika sei kein "Hüter der Menschheit", sondern ein legaler Arm der islamistischen Hamas, so Noam.
Ohnehin hätte man das Wort "Hamas" bei Südafrikas Vortrag kaum gehört, so Israels Anwältin Tamar Kaplan-Tourgeman. Am 7. Oktober 2023 hatten Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen den Süden Israels überfallen, 1.200 Menschen getötet und mehr als 240 Geiseln genommen. Allein die Hamas sei für das Leiden der Zivilbevölkerung verantwortlich. Israel werde immer noch angegriffen und verteidige sich dagegen.
Am Ende der Anhörung wurde Kaplan-Tourgeman durch einen Zwischenruf unterbrochen. "Lügner", rief eine Frau im Gerichtssaal im Friedenspalast. Sie wurde anschließend von Sicherheitsmitarbeitern aus dem Saal geführt.
Wie es weitergeht
Wann der IGH über mögliche neue Sofortmaßnahmen entscheidet, steht noch nicht fest. Bis Samstag hat Israel Zeit, zu einer Frage des deutschen IGH-Richters Georg Nolte Stellung zu nehmen. Nolte wollte u.a. wissen, wie Israel sicherstellen will, dass die evakuierten Menschen humanitäre Unterstützung wie Nahrung und Unterkunft erhalten. Südafrika kann dann bis Montag erwidern.
Das Verfahren in der Hauptsache zum Vorwurf des Völkermords kann sich noch mehrere Jahre hinziehen.
Mit Material der dpa
Humanitäre Lage in Gaza: . In: Legal Tribune Online, 17.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54573 (abgerufen am: 19.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag