Fürsorgeleistungen für Kinder: Brot und Bildung

von Franz Dillmann

14.09.2010

"Kinder sind keine kleinen Erwachsenen". Das BVerfG wurde in seiner Entscheidung zur Verfassungswidrigkeit der pauschalisierten Regelsätze des SGB II ungewohnt deutlich, das Arbeitsministerium plant nun die "Bildungskarte", um auch Kindern aus sozial schwachen Familien Bildung und Teilhabe zu gewähren. Eine Chipkarte zwischen Bildungsmisere und Menschenwürde?

Nach der Bibel lebt der Mensch nicht vom Brot allein. Schiller zufolge kommt die Würde von allein, gibt man dem Menschen Essen und Wohnung, um seine Blöße zu bedecken. Zwischen diesen literarisch skizzierten Polen physischer und sozialer Existenz bewegt sich die teils zirzensische Debatte um Inhalt und Maß des Sozialgeldes für Kinder.

Die Bundesregierung steht in der Pflicht, für die im Sozialgesetzbuch II (SGB II) und Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) verankerten Fürsorgeleistungen bis zum 31. Dezember 2010 eine sozialstaatlich adäquate und verfassungsrechtlich legitimierte Grundlage zu finden.

Den Bauplan für diese nötige Neujustierung existenzsichernder Hilfen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit seiner Entscheidung vom 9. Februar 2010 vorgelegt.

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fuße auf der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und sichere die materiellen Grundlagen, die für die physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich seien.

BVerfG: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen"

Die Richter erklärten die bisherige Berechnung der pauschalisierten Regelsätze des SGB II zu Recht für verfassungswidrig. Ihre vehemente Kritik an der willkürlichen prozentualen Ableitung des Sozialgeldes für Kinder vom Regelsatz für Erwachsene und das Fehlen jeglicher eigener, auf die Bedarfe von Kindern zugeschnittener Ermittlung, gipfelte in dem Merksatz: "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen".

Der Politik schrieben sie ins Stammbuch, der spezifische Kindesbedarf habe sich an kindlichen Entwicklungsphasen und einer kindgerechten Persönlichkeitsentfaltung auszurichten. Bildung ermögliche Teilhabe.

Die bislang unberücksichtigten notwendigen Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten wie für Schulbücher, Hefte und Ausflüge, gehörten deshalb zum existenziellen Bedarf eines Kindes, der altersspezifisch bestimmt werden müsse.

Hausaufgaben gemacht: Basisgeld und Bildungskarte

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales plant, als Kardinallösung ein eigenständiges pauschaliertes Basisgeld für Kinder einzuführen. Um deren darüber hinaus gehenden Rechtsanspruch auf gezielte Förderung der Bildung und gesellschaftliche Teilhabe zu erfüllen, will es zudem ein Bildungspaket schnüren.

Lernen soll gefördert, das Mittagessen in der Schule bezuschusst, die Teilhabe an Kultur und Sport unterstützt und die Kosten für Schulbedarf sollen übernommen werden. Man will ein Mehr an Bildung erreichen, Lebenschancen verbessern, soziale Integration vorantreiben und positive Persönlichkeitsentwicklung stärken.

Individuell geholfen werden soll Kindern, die tatsächlich einen konkreten Bedarf haben. Diesen soll auf Antrag im Jobcenter ein so genannter Familienlotse im Zusammenwirken mit Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und Kommune feststellen.

Zentrales Instrument soll nach einer Übergangsphase die Bildungskarte sein. Dabei handelt es sich um eine elektronische Wertkarte, die mit Guthaben und konkreten Leistungen aufgeladen werden kann. Die politische Kritik an dieser Idee blieb nicht aus: Die Chipkarte stigmatisiere und diskriminiere, es werde nur ein neues bürokratisches Ungetüm aus der Taufe gehoben.

Rechtsprüfung bestanden

Sozialhilferechtlich bewegt sich das kreative Vorhaben in geordneten normativen Bahnen. Das Sozialhilferecht als Referenzsystem des 2005 mit den Hartz-Reformen eingeführten SGB II sieht in § 10 SGB XII die Leistungserbringung als Sachleistung ausdrücklich durch "unbare Formen der Verrechnung" vor.

Die Geldleistung als an sich vorrangige Leistungsform tritt zurück. Individuelle Bildungs- und soziale Teilhabebedarfe von Kindern können erheblich besser und wirtschaftlicher durch die Karte als durch Geld gedeckt werden. In vielen Kommunen wird dieses Modell schon seit längerer Zeit erfolgreich praktiziert.

Eine Leistungserbringung in Form von Sachleistungen korrespondiert sowohl mit dem sozialhilferechtlichen Mitwirkungsgebot in § 1 SGB XII als auch mit dem staatlichen Wächteramt über die elterliche Erziehung in Art. 6 GG: Eltern müssen nach Kräften daran mitwirken, die Teilhabe ihrer Kinder an der Gesellschaft zu ermöglichen. Der Staat seinerseits muss fehlendes Engagement ausgleichen dürfen.

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat bereits 1991 entschieden, die Menschenwürde werde nicht verletzt, wenn der Berechtigte bestimmte Positionen aus dem Regelbedarf als Sachleistung erhalte, solange ihm nur ein ausreichender Barbetrag zur eigenen Verfügung verbleibe. Transferbezieher dürften kein Problem damit haben, sich mit der Karte zu "outen". Eine die Menschwürde tangierende Stigmatisierung erfolgt durch Ausschluss und Nichtteilhabe, nicht aber durch eine elektronische Karte, die Wahlmöglichkeiten im Sinne des § 9 SGB XII offen lässt.

Karrierechancen offen

Das Bildungspaket ist daher sozialrechtlich kompatibel. Ob es kostenneutral eingeführt werden kann und administrativ praktikabel ist, wird sich noch zeigen. Friktionen sind vorprogrammiert. Basisgeld und Bildungspaket müssen austariert werden. Sonderpädagogische Bedarfe, etwa von lernbehinderten Kindern, sind bisher nicht einkalkuliert. Viele - sich bisher eher fremde - staatliche Stellen wie Schule und Arbeitsverwaltung müssen künftig harmonisch zusammen wirken. Technische Probleme werden erwartet.

Die Länder murren folglich teils zu Recht. Langfristig ist das Bildungspaket ohnehin keine allein tragfähige Lösung, um die allseits konstatierten Bildungsdefizite aufzufangen. Die deutet auch das BVerfG in seinem wegweisenden Urteil bereits an. Individuelle Hilfe kann institutionelle nicht ersetzen.

Wirksamer sind auf Dauer gut ausgestattete (offene) Ganztagsschulen, Lernmittelfreiheit, breit gefächerte Sport- und Kultureinrichtungen, vielseitige Bildungsangebote und überhaupt ein inklusives Gemeinwesen, das Kinder stärkt und die Eltern in Ihrer Erziehungsverantwortung entlastet. Denn neben materieller Teilhabe ist auch soziale und emotionale Teilhabe für Kinder existenziell – der Mensch lebt eben nicht vom Brot allein!

Der Autor Franz Dillmann ist Verwaltungsjurist und leitet die Rechtsabteilung eines überörtlichen Sozialhilfeträgers. Er publiziert regelmäßig zu sozialrechtlichen Themen.

Zitiervorschlag

Fürsorgeleistungen für Kinder: . In: Legal Tribune Online, 14.09.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/1459 (abgerufen am: 20.11.2024 )

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