Fehlurteile im deutschen Strafprozess: Denn sie wissen nicht, was sie tun

von Prof. Dr. Ulrich Sommer

24.01.2017

Der Irrtum eines Managers kostet Geld. Der eines Strafrichters zerstört Leben. Und der Jurist erkennt seine Fehler nicht einmal, meint Ulrich Sommer. Der Strafprozess scheitere, wenn er weiter psychologische Selbstverständlichkeiten ignoriert.

Juristen geben sich gern dem Gefühl hin, auf der Basis ihrer eigenständigen Wissenschaft Recht zu produzieren. Was richtig und falsch in der Rechtsanwendung ist, meinen sie nach etlichen Semestern des Studiums erkennen zu können.

Dass dies schlicht eine Illusion ist, halten andere Wissenschaftszweige der Juristerei seit langem vor. Allein der noch so elaborierte Umgang mit Begriffen schafft es niemals, den direkten Weg vom abstrakten Gesetzestext zur Regelung des konkreten Falles zu finden. Zwischenwertungen sind notwendig, aufgeladen durch das Verständnis des Juristen von sozialen Zusammenhängen, gesellschaftlichen Bedingungen oder psychischen Konstellationen des Rechtsanwenders. Die Ausbildung gibt dem Juristen hierzu nichts an die Hand.

Das gilt erst recht für den praktischen Strafprozess. Hier geht es nicht nur um die Anwendung des Rechts. Im Mittelpunkt steht die Feststellung eines Sachverhalts. Wie festgestellt wird, sollte eigentlich das Gesetz vorgeben. Laien erwarten daher gerne vor einem Strafprozess von Juristen eine Prognose über dessen Ausgang – denn schließlich steht ja alles im Gesetz, das der Jurist so phänomenal zu beherrschen gelernt hat. Der Strafjurist aber kann nur die Achseln zucken und auf den Grundsatz der freien Beweiswürdigung verweisen. Ob der Strafrichter einer eloquent vorgetragenen Geschichte der Entlastung für den Angeklagten glaubt oder nicht glaubt, ist nicht im Gesetz geregelt. Regeln hat auch die Rechtsprechung nicht entwickelt.

Spektakuläre Fehlurteile: Tatjana Gsell und Bauer Rupp

Die Deutung ambivalenter Sachverhalte obliegt allein dem Strafrichter. Alles was logisch möglich ist – so der BGH –, ist rechtens, selbst wenn es anderen lebensfremd erscheint. In ständiger Rechtsprechung heißt es aus Karlsruhe und Leipzig, dass die Aufgabe, sich auf der Grundlage der vorhandenen Beweismittel eine Überzeugung vom tatsächlichen Geschehen zu verschaffen, grundsätzlich allein dem Tatrichter obliegt. Seine Beweiswürdigung hat das Revisionsgericht regelmäßig hinzunehmen, es ist ihm verwehrt, sie durch eine eigene zu ersetzen.

Wenn sich im Vorgarten des Tatorts eines Raubüberfalls Einkaufstüten mit rumänischem Aufdruck und Kleidungsstücke mit unbekannter DNA finden, kann der Strafrichter den bestreitenden deutschen Angeklagten sehr wohl mit der Begründung verurteilen, er habe bewusst von ihm ablenkende Spuren gelegt. Wenn sich zehn Jahre später – wie im Fall von Tatjana Gsell, die im Jahr 2004 vom Amtsgericht Nürnberg verurteilt wurde, weil sie angeblich  einen Überfall auf die Villa ihres Mannes vorgetäuscht haben sollte - doch die richtigen rumänischen Täter finden, wird das Fehlurteil von der Justiz achselzuckend als Betriebsunfall gewertet.

Fehler passieren. Bezeichnend ist aber, dass deutsche Strafrichter auch nach Fehlurteilen der Ansicht sind, nichts falsch gemacht zu haben. Das System schützt sie, sie schützen sich durch das System. In einem Interview sagte der Vorsitzende Richter des Landgerichts Ingolstadt rückblickend, er hätte seinerzeit im Fall des Bauern Rupp die Angeklagten wieder wegen Mordes verurteilt. Der Fall gilt als eines der spektakulärsten deutschen Fehlurteile.

Die Angeklagten hatten gegenüber der Polizei "gestanden", sie hätten auf ihrem Bauernhof den verschwundenen Bauern Rupp unter anderem mit Hammerschlägen auf den Schädel getötet und die Leiche den Schweinen zum Fressen vorgeworfen. Das erklärte seinerzeit das spurlose Verschwinden des Bauern Rupp. Als die Leiche doch auftauchte, und zwar unversehrt von jeglichen Hammerschlägen in einer Staustufe der Donau, war das Fehlurteil evident. Die Fehlerkette falscher Einschätzungen und Entscheidungen, die dorthin geführt hatte, wollte und konnte der Vorsitzende Richter des Fehlurteils nicht aufarbeiten.

Die wichtigsten Entscheider ignorieren die Entscheidungspsychologie

Richter verkennen, dass sie aktuell dabei sind, den enormen Vertrauensvorschuss der Gesellschaft zu verspielen. Die zahlreichen prominenten Fehlurteile (von Harry Wörtz über den Fall Peggy bis zum Bauern Rupp) und regelmäßig berichtete Merkwürdigkeiten in der Tagespresse müssen den Eindruck strafrichterlicher Willkür erwecken. Wenn hinter der Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung nur dumpfes Gerechtigkeitsgefühl steckt, müssen Richter sich Fragen nach der Legitimation ihres Tuns stellen.

Leitlinien für ihre Entscheidungen sind zwar nicht dem Gesetz zu entnehmen, finden sich aber auf anderen Gebieten. Entscheidungpsychologie ist ein mittlerweile etablierter Forschungsbereich, der den Erkenntnisstand von Ökonomen, Soziologen und Psychologen im letzten Jahrzehnt phänomenal erweitert hat. Der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahnemann den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten, nachdem er aufgezeigt hatte, von welchen – vom Entscheider unbemerkten – psychischen Faktoren eine Entscheidung abhängt. Das war im Jahr 2002.

Die Strafrichter aber, welche die folgenschwersten Entscheidungen in unserer Gesellschaft treffen, scheint das alles auch im Jahr 2017 wenig zu rühren. Sie ruhen auf der Strafprozessordnung von 1877 und wollen sich offensichtlich bei ihrem freien Richten keine weiteren Vorschriften machen lassen.

Richter sind auch nur Menschen

Dabei geht es nicht um Vorschriften. Es geht einzig und allein um moderne wissenschaftliche Erkenntnisse, die Fehlurteile minimieren und die Akzeptanz von Strafurteilen in der Gesellschaft erhöhen könnten. Ein simples Beispiel hat noch in den vergangenen Tagen in den Medien für Furore gesorgt: Ein Sozialwissenschaftler aus Washington hat in einer aufwändigen Untersuchung gezeigt, dass Richter am Tag nach der alljährlichen Umstellung von der Winter– auf die Sommerzeit durchschnittlich härtere Urteile fällen als sonst. Es fehlte den Richtern an Schlaf. Wie bei jedem anderen Menschen waren daher die kognitiven Möglichkeiten der Strafrichter eingeschränkt.

Richter haben – was sie gerne vergessen – trotz ihrer Robe und ihrer herausgehobenen Stellung nur einen durchschnittlichen menschlichen Körper und ein normales menschliches Gehirn. Hindern die limitierten humanen Ressourcen ein optimales Entscheidungsszenario, sind ihre Ursachen im Sinne eines gerechten Urteils zu bekämpfen.

Die fehlende Stunde Schlaf ist eher ein exotisches Phänomen. Die Entscheidungsforschung hat mittlerweile die unterschiedlichsten Strukturen für das menschliche Entscheiden und damit auch für die Ursachen von Fehlentscheidungen ausgemacht. Wer einen gerechten modernen Strafprozess will, muss zumindest bereit sein, in einem ersten Schritt die Auswirkungen dieser Ergebnisse auf richterliches Handeln zu überprüfen.

Der Beginn des Psychological turn?

Politiker und Richter weigern sich jedoch, die Rechtswissenschaft hat bislang die Problematik weitgehend ignoriert. Aber langsam tut sich etwas. Während Forschungsergebnisse zum Phänomen der kognitiven Dissonanz oder dem Inertia-Effekt als Argument in klassischen juristischen Abhandlungen immer häufiger auftauchen, widmen sich nun auch umfangreichere Arbeiten diesem Thema.

So findet sich eine rechtsphilosophische  Suche nach der Legitimation von strafrichterlichen Entscheidungen (Kyriakos N. Kotsoglou, Forensische Erkenntnistheorie, 2015). Wann akzeptiert das Recht eine Erkenntnisposition des Richters, die ihm Feststellungen oder sogar Einsicht in "Wahrheit" erlaubt? Oliver Harry Gerson hat in einem 1000 Seiten dicken Werk (Das Recht auf Beschuldigung, 2016) den wissenschaftlichen Boden dafür bereitet, die Zwangsläufigkeiten psychologischer Zusammenhänge bei der Entscheidungsfindung in ein modernes verändertes Bild des deutschen Strafprozesses zu integrieren. Dazu gehört ein Bewusstsein der Entscheider ebenso wie langfristige Gesetzesänderungen.

Ob dies der Beginn des "Psychological turn" in der Strafrechtswissenschaft ist, bleibt abzuwarten. Die neuen Tendenzen sollten aber zumindest Einzug in die Hörsäle der Universitäten finden. Wir können keine Richter ausbilden und sie für zukünftige Entscheidungen ausschließlich auf den Prozess von 1877 verweisen. Juristen müssen die Universität verlassen und dabei zumindest eine Idee davon haben, wie menschliche Entscheidungen strukturiert sind, in welche Richtung fehlerhafte Entscheidungsprozesse laufen, auf die der Entscheider keinen mentalen Zugriff hat, und wie generell Strategien zur Vermeidung von Fehlern aussehen können. Wer das Leben regeln will, muss wissen, wie es funktioniert.

Der Autor Prof. Dr. Ulrich Sommer ist Strafverteidiger in Köln und Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum Strafrecht. Seit seinem Werk "Effektive Strafverteidigung" befasst der Senior des 'Strafverteidigerbüros' sich auch mit den psychologischen Komponenten des Strafrechts.

Zitiervorschlag

Fehlurteile im deutschen Strafprozess: . In: Legal Tribune Online, 24.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21868 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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