Das Europawahlrecht: Ein unvol­l­en­detes Werk

Gastbeitrag von Alexander Hobusch

13.05.2019

Wieviel Europa steckt eigentlich im europäischen Wahlrecht? Und was wird am 26. Mai 2019 eigentlich wie gewählt? Die juristischen Hintergründe zur EU-Wahl erläutert Alexander Hobusch. Er beklagt zudem Schnellschüsse bei der Sperrklausel.

Wenn am 26. Mai 2019 ein neues Europäisches Parlament gewählt wird, kommt auch das europäische Wahlrecht wieder in Gang. Und das stellt sich alles andere als einheitlich dar und vor allem weniger europäisch als man glauben mag.

Als absolute Grundlagen lassen sich Art. 14 Abs. 1 EUV einige wesentliche Informationen zur Stellung des Parlaments entnehmen, also zur Frage: Wer wird da eigentlich gewählt und was machen die Gewählten? So ist das Europäische Parlament zusammen mit dem Rat Gesetzgeber und darüber hinaus Kontrollorgan. Es ist berufen, den Kommissionspräsidenten zu wählen. Das Parlament besteht aus höchstens 751 Abgeordneten, die für 5 Jahre gewählt werden. Im regulären Gesetzgebungsverfahren ist das Parlament nicht initiativberechtigt (siehe 294 AEUV), es hat allerdings gemeinsam mit dem Rat die Haushaltsbefugnisse inne (Art. 314 AEUV). Des Weiteren kann es ein Misstrauensvotum gegen die Kommission anstrengen (Art. 234 AEUV).

Im Vergleich zum Deutschen Bundestag fallen hier also funktional einige Besonderheiten auf: Die Wahl des Kommissionspräsidenten vollzieht sich gem. Art. 17 Abs. 7 EUV auf Vorschlag des Europäischen Rates, welcher die Wahlergebnisse zum Europaparlament berücksichtigen soll. Das mag zunächst an Art. 63 Abs. 1 Grundgesetz (GG) erinnern, der dem Bundespräsidenten das Vorschlagsrecht zur Kanzlerwahl einräumt. Allerdings kennt das Wahlverfahren zur Wahl des Kommissionspräsidenten bei einer gescheiterten Wahl im Parlament keinen Übergang des Vorschlagsrechts auf das Parlament, der Europäische Rat muss in diesem Falle erneut einen Vorschlag unterbreiten.

Anders in Deutschland: Nach dem gescheiterten Wahlvorschlag des Bundespräsidenten ist der Bundestag bei den weiteren Wahlphasen, die Art. 63 GG vorsieht, Herr des Verfahrens und kann selbst Wahlvorschläge initiieren. Auch ist das fehlende Initiativrecht des Parlaments ein wesentlicher Unterschied zum Bundestag: Gem. Art. 76 Abs. 1 GG können Gesetzesvorlagen nicht nur von Regierung und Bundesrat, sondern auch aus der Mitte des Bundestages eingereicht werden.

Der Weg ins Parlament

Im deutschen Wahlrecht führt kein Weg vorbei an den Wahlrechtsgrundsätzen des Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG. Die Abgeordneten müssen in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden. Art. 38 GG gilt allerdings nicht unmittelbar für die Wahlen zum Europäischen Parlament.

Wahlgrundsätze für die Europawahlen enthält vielmehr Art. 14 Abs. 3 EUV. Dort heißt es, dass die Mitglieder des Europäischen Parlaments in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl zu wählen seien. Die Gleichheit der Wahl fehlt in der Aufzählung, sie gilt nicht für die gesamte Wahl auf Unionsebene, sondern nur für die einzelnen Mitgliedsstaaten.

Das ist auch nicht anders denkbar, schließlich ist der Zusammensetzung des Parlaments schon eine fehlende Stimmengleichheit immanent: Deutschland hat die maximale Anzahl (Art. 14 Abs. 2 S. 4 EUV) von 96 Abgeordneten, das entspricht einem Mandat pro 839.000 Einwohner, das kleine Malta hat die festgelegten 6 Mindestsitze (Art. 14 Abs. 2 S. 3 EUV), ein Abgeordneter entfällt hier auf 70.000 Einwohner. Die Ausgestaltung erfolgt also degressiv proportional und ist damit bereits im Kern ungleich. Damit gilt die Gleichheit der Wahl lediglich für die einzelnen Länderkontingente, ist in den europäischen Regelungen also nicht zu finden. Für Deutschland ist die Gleichheit der Wahl in § 1 Abs. 2 des Europawahlgesetzes (EuWG) einfachgesetzlich geregelt.

Das Wahlsystem im Detail

Maßgebliche Rechtsquelle des europäischen Wahlrechts ist der "Akt zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Mitglieder des Europäischen Parlaments" (sog. Direktwahlakt, DWA) und die auf seiner Grundlage erlassenen Regelungen der Mitgliedstaaten. Der DWA gibt zwar kein einheitliches Europawahlrecht vor und ist damit ein deutliches Minus zu dem, was Art. 223 AEUV und seine Vorgängervorschriften ursprünglich erreichen wollten. Er enthält aber (immerhin) einheitliche Rahmenbedingungen, welche die einzelnen Staaten freilich nicht unerheblich ausgestalten können. Ausgestaltet wird der Direktwahlakt in Deutschland vornehmlich durch das EuWG.

Festgelegt ist nach dem DWA ein reines Verhältniswahlrecht auf Grundlage von Listen oder übertragbaren Einzelstimmen (Art. 1 Abs. 1 DWA). Das Wahlgebiet kann gem. Art. 2 DWA in Wahlkreise unterteilt werden, sofern dadurch das Verhältniswahlsystem nicht in Frage gestellt wird. In Deutschland ist das gesamte Bundesgebiet Wahlgebiet, es wird gem. § 3 Abs. 2 EuWG für die Stimmabgabe in Wahlbezirke eingeteilt. Der Direktwahlakt enthält darüber hinaus Mindestregelungen zur Dauer der Wahlperiode (Art. 5 DWA), zu Inkompatibilitäten (Art. 7 DWA), aber auch zum Wahltermin und zur Bekanntgabe des Wahlergebnisses (Art. 10 DWA).

Ein europäisches Wahlrecht – aber in nationaler Hand

Art. 8 DWA weist dann die weitere Ausgestaltung des Wahlverfahrens den Mitgliedsstaaten zu, die allerdings das System der Verhältniswahl nicht in Frage stellen dürfen. Diese Doppelstruktur führt bei der Wahlprüfung (Art. 12 DWA) beispielsweise dazu, dass das Europäische Parlament im Wahlprüfungsverfahren für die Prüfung der Einhaltung der Vorschriften des Direktwahlaktes berufen ist, für die mögliche Verletzung innerstaatlicher Vorschriften sind dann aber die Mitgliedstaaten zuständig. In Deutschland wird dazu in § 24 EuWG auf die Regelungen des Wahlprüfungsgesetzes verwiesen.

Auch die Vorschriften für den Entzug des Mandates (Art. 13 DWA) können von den Mitgliedstaaten weiter ausgestaltet werden. Dem Europäischen Parlament verbleibt hierbei lediglich die "Kenntnisnahme" vom Mandatsentzug, beteiligt ist das Parlament nicht, schließlich sind auch hier lediglich die innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten maßgeblich (bestätigt in EuGH C-208/09 P, Slg. 2005, I-6051– Le Pen/EP).

Auch die so zentralen Regelungen zum aktiven wie passiven Wahlrecht - oder genauer: die Beschränkungen des durch den DWA angeordneten allgemeinen Wahlrechts - sind nicht einheitlich festgelegt, sondern durch das Recht der Mitgliedstaaten ausgestaltet. In Griechenland existiert beispielsweise ein Mindestalter für das passive Wahlrecht von 25 Jahren, ansonsten sind 18 oder 21 Jahre üblich. Das aktive Wahlrecht wird in den Mitgliedstaaten in der Regel ab 18 Jahren gewährleistet, in Österreich liegt diese Schwelle bei 16 Jahren. Auch die Ausschlüsse vom Wahlrecht sind denkbar unterschiedlich, so sind in Estland und Finnland Angehörige der Streitkräfte vom Wahlrecht ausgenommen.

Unterschiede zur Bundestagswahl

Der offenkundige Unterschied zum Bundeswahlrecht liegt in dem reinen Verhältniswahlsystem. Der Bundestag wird dagegen in einem System der personalisierten Verhältniswahl gewählt, 299 Abgeordnete werden dafür in den Wahlkreisen gewählt, ebenso viele nach Landeslisten nach §§ 1 II, 5, 6 Bundeswahlgesetz (BWahlG). Für den Bürger ist der Unterschied einfach zu erkennen: Er hat bei der Europawahl lediglich die (Listen-)stimme (§ 2 Abs. 1 S. 3 EuWG), bei der Bundestagswahl hingegen zwei Stimmen (§ 4 BWahlG).

Bei der Zusammenstellung der Liste bestehen noch kleinere Besonderheiten: Es können mit der Liste für jeden Bewerber sogenannte Ersatzbewerber festgelegt werden, die bei Ausscheiden des Abgeordneten für diesen in das Parlament einziehen sollen. Nur wenn kein Ersatzbewerber besteht oder nachziehen kann, zieht die Liste regulär weiter (§ 24 Abs. 1 EuWG, im Gegensatz dazu § 48 BWahlG).

Verfassungsrechtliche Streitfragen

Eine der fakultativen Ausgestaltungen bildet die "Mindestschwelle", die in Art. 3 DWA auf höchstens fünf Prozent der abgegebenen Stimmen festgesetzt werden darf – aber eben auch nicht festgelegt werden muss. Nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Sperrklausel von fünf Prozent (§ 2 Abs. 7 EuWG a.F.) noch im Jahr 1979 unbeanstandet passieren ließ, erklärte es diese im Jahr 2011 für verfassungswidrig. Und nach der Einführung einer Drei-Prozent-Sperrklausel wurde auch diese im Jahr 2014 für nichtig erklärt.

Zur Begründung verweist das Gericht nicht nur auf die verletzte Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 GG, sondern auch auf die verletzte Wahlrechtsgleichheit. Diese gelte nicht nur für Wahlen zum Bundestag gem. Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG oder den Ländern, Kreisen und Gemeinden gem. Art. 28 Abs. 1 S. 2 GG, sondern als ungeschriebener Verfassungsgrundsatz auch für sonstige politische Abstimmungen und damit auch für die Wahl zum Europäischen Parlament.

Den ins Feld geführten Rechtfertigungsversuch des Gesetzgebers ließ das Gericht nicht stehen: Eine Funktionsunfähigkeit des Parlaments drohe nicht und auch die Mehrheitsfindung für die Wahl eines Kommissionspräsidenten sei nicht gefährdet. Außerdem sei eine Sperrklausel auch im Falle der Zersplitterung des deutschen Kontingents noch immer realisierbar, diese stehe schließlich dem nationalen Gesetzgeber zu. Hinzu komme die große Integrationsfunktion der Fraktionen und auch der europäischen Parteifamilien, welche die Fraktionsbildung im Parlament erleichterten.

Tatsächlich bilden sich die Fraktionen aus Abgeordneten verschiedenster europäischen Parteien nach inhaltlicher Grundströmung und damit länderübergreifend. Von den insgesamt 751 Abgeordneten aus gut 160 (!) Parteien haben sich lediglich 20 Abgeordnete keiner Fraktion angeschlossen, was die große Integrationskraft eindrucksvoll veranschaulicht.

Wieviel Europa steckt im europäischen Wahlrecht?

Dennoch ist das Thema Sperrklausel auch nach zwei eindeutigen Urteilen nicht vom Tisch: Weil nationale Regelungen zur Sperrklausel ihr Ende in Karlsruhe finden würden, versuchten CDU/CSU und SPD zuletzt, eine "europaweite" Sperrklausel einzuführen und die Entscheidung damit dem BVerfG zu entziehen. Ob diese offensichtliche Umgehung der Karlsruher Judikatur Bestand haben kann und wie diese Entscheidung möglicherweise in Karlsruhe landen kann, ist eine der spannenderen Fragen der nächsten Zeit.

Zuletzt in den Blick geraten sind auch die Ausschlüsse vom aktiven wie passiven Wahlrecht. Das BVerfG entschied zuletzt, dass die pauschalen Ausnahmeregelungen in § 13 Nummer 2 und 3 des BWahlG nicht mit der Allgemeinheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG vereinbar seien (Beschl. v. 29.01.2019, Az. 2 BvC 62/14), was das Gericht im Rahmen einer einstweiligen Anordnung auch auf die Europawahl erstreckte (Urt. v. 15.04.2019, Az. 2 BvQ 22/19).

Das europäische Wahlrecht ist, obgleich der Rahmen vorgegeben ist, vor allem ein nationales Wahlrecht. Viele Besonderheiten in den Mitgliedstaaten finden hier ihren Niederschlag. Reformansätze, zu einem tatsächlich einheitlichen Wahlrecht zu kommen, sind wünschenswert, aktuell aber nicht ersichtlich. Die bestehenden Defizite des Parlaments, der fehlende initiative Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren und die verkürzte Einwirkungsmöglichkeit bei der Wahl des Kommissionspräsidenten sind dabei ebenso in den Blick zu nehmen. Wenn mit dem gleichen Einsatz für ein einheitliches Europawahlrecht wie für eine Sperrklausel gekämpft würde, wären die Bemühungen möglicherweise schon weiter.

Der Autor Alexander Hobusch ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Prof. Dr Sophie Schönberger) und promoviert zu Fragen der Parteienfinanzierung bei Prof. Dr. Martin Morlok.

Zitiervorschlag

Das Europawahlrecht: . In: Legal Tribune Online, 13.05.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/35329 (abgerufen am: 05.11.2024 )

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