Das Europaparlament will grundlegend neue Regeln für die EU aufstellen. Es geht um eine Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, Vorschlagsrechte der Kommissionspräsidenten und Initiativrechte für Gesetzesvorhaben, erklärt Niels Kirst.
Es könnte eine grundlegend neue EU werden: Das Europaparlament (EP) hat eine Entschließung zur Änderung der EU-Verträge angenommen. Diese Vorschläge haben es in sich. Sie sind teils sehr weitgehend und würden bei Einführung erhebliche Veränderungen in der EU bedeuten. Strukturell folgen die Vorschläge einer "parlamentarischen" Logik. Das EP möchte gerne als Parlament agieren und fordert daher bisher fehlende Rechte ein. Ziel ist es, dass ein Zweikammersystem und eine EU-Exekutive geschaffen werden.
Die anfängliche Begeisterung für die EP-Entschließung bei den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten hält sich dementsprechend noch in Grenzen. Der polnische Wahlsieger und ehemalige Präsident des Europäischen Rates, Donald Tusk, warnte in Angesicht der EP-Vorschläge davor, in naiven "EU-Enthusiasmus" zu verfallen.
Die strukturellen Änderungen des EP werden voraussichtlich auch auf Widerstand bei den zwischenstaatlichen Institutionen der EU stoßen, während andere Ideen, wie mehr Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit, durchaus Sinn ergeben und einen breiteren politischen Konsens finden könnten.
Doch worum geht es genau?
Auftrag zur Modifikation der Verträge
Die Vorschläge fordern ein echtes Zweikammersystem und eine weitreichende Anpassung der Funktionsweise und Kompetenzen der EU. Als einzige EU-Institution, die direkt von den europäischen Bürgern gewählt wird, ruft das EP zu einer Vertragsänderung insbesondere im Kontext einer möglichen EU-Erweiterung um bis zu acht Staaten auf.
Die letzten Vertragsänderungen der EU gehen auf das Jahr 2007 zurück, aus ihnen ging der Vertrag von Lissabon hervor. Das EP beauftragte seinen Ausschuss für konstitutionelle Fragen (AFCO), Änderungsvorschläge zur Modifikation der bestehenden Verträge zu erarbeiten. Am 22. August 2023 präsentierte der AFCO-Ausschuss seinen Bericht. In der Abstimmung Ende November nahm das EP den Vorschlag zur Vertragsänderung offiziell an und übermittelte ihn gemäß Art. 48 Abs. 2 EUV dem Rat der EU.
Die wegweisende Entschließung enthält detaillierte Vorschläge zur Überarbeitung der EU-Verträge – darunter der Vertrag über die EU (EUV), der Vertrag über die Arbeitsweise der EU (AEUV) und die EU-Grundrechtecharta. Die Entschließung des EP ist ein zweiter Auftakt zu möglichen Vertragsänderungen. Schon die Konferenz zur Zukunft Europas – ein gemeinsames Projekt des EP, des Rates und der Europäischen Kommission (Kommission) – endete im Mai 2022 mit einer Reihe von Empfehlungen zur Stärkung der Effizienz und Legitimität der EU.
Die umfassende, 104-seitige Entschließung des EP beinhaltet sowohl bereits bekannte Vorschläge als auch innovative Ideen und offenbart dennoch einige Schwächen. Die wichtigsten Vorschläge betreffen die qualifizierten Mehrheitsentscheidungen, das Verfahren zur Wahl der Kommissionspräsidentin, die Klagebefugnis vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und die Kompetenzaufteilung.
Dieser Artikel wird einige der relevantesten Vorschläge des EP skizzenhaft erfassen und einordnen.
Abkehr vom Prinzip der Einstimmigkeit
Das EP schlägt bemerkenswerterweise vor, viele Einstimmigkeitsentscheidungen im Rat systematisch abzuschaffen und durch Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit zu ersetzen. Das Prinzip der Einstimmigkeit langfristig aus der EU zu verbannen hätte entscheidende Auswirkungen, denn einzelne Mitgliedstaaten könnten nicht mehr, wie in der Vergangenheit, die Entscheidungen der gesamten EU aufhalten und müssten sich der qualifizierten Mehrheit beugen.
Besonders in der Außenpolitik (Art. 31 EUV), der Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art. 42 Abs. 4 EUV) und der Haushaltspolitik (Art. 312 AEUV) schlägt das EP eine Abkehr der Einstimmigkeit vor. Mit seinen Vorschlägen positioniert sich das EP als Verfechter von tiefgreifenden Reformen, die den EU-Entscheidungsprozess grundlegend neugestalten würde.
Mehr Demokratie bei Gesetzen
Beachtenswert ist auch die Forderung des EP, endlich das Vorschlagsrecht für Gesetzesakte zu erhalten. Dies liegt bisher allein bei der Kommission, gemäß Art. 225 und 294 AEUV. Diese Regelungen sollen daher geändert werden. Zusätzlich fordert das EP, dass es auch nationalen Parlamenten ermöglicht sein soll, EU-Rechtsakte vorzuschlagen. Dieses Verfahren soll "Grüne-Karte-Verfahren" heißen. Bisher können nationale Parlamente EU-Gesetzakte nur nach dem "Yellow/Orange Card" Verfahren blockieren. Die Umsetzung dieser Maßnahmen würden das historische Vorschlagsmonopol der Kommission aufbrechen und das institutionelle Gleichgewicht der EU neu ordnen.
Darüber hinaus schlägt das EP weitere grundlegende Änderungen bei der so genannten besonderen Gesetzgebung vor. Bei "normalen" Gesetzgebungsverfahren entscheiden EP und Rat über einen Gesetzgebungsvorschlag der Kommission. Bei den besonderen Verfahren entschiedet der Rat der EU, der die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten repräsentiert, weitgehend allein mit lediglich marginaler Mitwirkung des EP. Es gilt gemäß Art. 289 Abs. 2 AEUV vor allem bei sensitiven Bereichen des EU-Rechts, die die Mitgliedstaaten unmittelbar betreffen, wie z.B. das Budgetrecht, das Steuerrecht und das Recht über geistiges Eigentum.
Mit den gewünschten Änderungen bei den Gesetzgebungsverfahren zu den Themen Verteidigung (Art. 45 EUV), Familienrecht (Art. 81 Abs. 3 AEUV) und wirtschaftspolitische Steuerung und Defizitverfahren (Art. 126 AEUV) würde das EP in diesen Bereichen mehr Mitentscheidungsbefugnis zusammen mit dem Rat bei der Verabschiedung von EU-Rechtsakten erhalten.
Zudem schlägt das EP die Abschaffung von Art. 122 AEUV vor. Nach dieser Notfallklausel kann der Rat außerhalb der üblichen Verfahren notwendige Maßnahmen beschließen. Diese Notfallklausel wurde seit der Covid-19 Pandemie verstärkt angewandt: Die Klausel diente als Rechtsgrundlage des Wiederaufbaufonds und als Instrument, um auf die Energiekrise zu reagieren, die durch die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine durch Russland ausgelöst wurde. Anstelle der Notfallklausel soll ein neuer Art. 222 AEUV treten – eine Notstandsklausel. Diese Klausel soll es dem EP und dem Rat ermöglichen, in Krisenzeiten der Kommission vorübergehende Notfallbefugnisse zu übertragen.
Vorschlagsrecht für die Kommissionspräsidentin
Ein weiterer Vorschlag des EP betrifft das Recht zur Ernennung der Kommissionspräsidenten gemäß Art. 17 EUV. Bisher obliegt es dem Europäischen Rat, nach den Europawahlen den Präsidenten vorzuschlagen, wobei das EP über den Vorschlag abstimmt. Künftig soll die Kommission in "Exekutive" umbenannt werden und das EP soll das Recht erhalten, den Präsidenten für dieses Amt nach den Europawahlen vorzuschlagen, über den der Rat dann abstimmen soll.
Dies würde einen Wechsel der Rollen zwischen dem Europäischen Rat und dem EP bedeuten. Das EP erhofft sich so mehr Einfluss auf die Ernennung des Präsidenten – und damit eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der EU-Exekutive. Dies wäre eine Verschiebung der Macht in der EU weg vom Europäischen Rat hin zum EP.
Die umfassende Reformagenda des EP zeigt auch einige Schwächen auf. So soll die Präsidentin der Kommission (Art. 17 Abs. 6 EUV) in "Präsidentin der Exekutive“ umbenannt werden. Gleichzeitig bleibt die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rates (Art. 15 Abs. 5 EUV) im Vorschlag unberührt. Dies lässt die bestehenden Unsicherheiten bezüglich der Beziehung zwischen den beiden Schlüsselfiguren offen. Eine kohärente Ausgestaltete EU-Exekutive wäre damit nicht möglich.
Künftig individuelle Misstrauensanträge
In den Entschließungen des EP taucht zudem die Überlegung auf, das Misstrauensverfahren gemäß Art. 234 AEUV gegen die Kommission zu ändern. Der Anwendungsfall ist vergleichbar mit dem Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag und gilt für Fälle von Korruption oder fehlenden Vertrauen in die Regierung und das Kabinett.
Bisher kann das EP der Kommission nur kollektiv das Misstrauen aussprechen. Eine Änderung würde es dem EP mit einer 2/3 Mehrheit ermöglichen, individuelle Misstrauensanträge gegen Mitglieder der Kommission zu stellen. Im Falle, dass ein Kommissar das Vertrauen des EPs verloren hat, könnte er damit abgelöst werden. Damit könnte das EP eine aktivere Rolle bei der Überwachung der Kommission übernehmen.
Parallel dazu strebt das EP eine Verschärfung des Art. 7 EUV Verfahrens zur Einhaltung der EU-Werte der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an. Dieses Verfahren kann gegen Mitgliedstaaten eingesetzt werden, die gegen diese Grundwerte verstoßen. Das EP schlägt eine sechsmonatige Frist vor, innerhalb derer der Rat über einen möglichen Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die in Art. 2 EUV verankerten Werte entscheiden muss. Bisher gibt es keine zeitliche Begrenzung. Dies hat dazu geführt das gegenüber Polen und Ungarn seit 2017 und 2018 Art. 7 Verfahren ohne jeglichen Fortschritt und Wirkung laufen.
Änderung der Klagebefugnisse vor dem EuGH
Ein weiterer bedeutsamer Vorschlag des EP ist es, die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 AEUV vor dem EuGH zu vereinfachen. Nach den aktuellen Verträgen kann eine natürliche oder juristische Person einen EU-Rechtsakt nur anfechten, wenn sie individuell und unmittelbar von diesem betroffen ist (die sog. Plaumann-Formel). Nach dem EP-Vorschlag wird die Anforderung der Individualität gestrichen. Damit würde künftig eine umfassendere gerichtliche Überprüfung von EU-Rechtsakten durch den EuGH ermöglicht. Dies könnte aber auch zu einer Klagewelle von Einzelpersonen und einer Überforderung des EuGH führen.
Auch Hinsichtlich des EU-Grundrechtsschutzes fordert das EP-Reformen. So soll das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 3 der EU-Grundrechtecharta um das Recht auf körperliche Autonomie, Fortpflanzungsfreiheit und das Recht auf Abtreibung ergänzt werden. Es ist damit zu rechnen, dass dies gerade in traditionell-religiös geprägten Mitgliedstaaten zu Widerstand führen würde.
Eigene Verteidigungseinheit für die EU
Die letzte bahnbrechende Forderung des EP ist es, die Zuständigkeiten innerhalb der EU neu zu ordnen. Das EP schlägt vor, der EU mehr Kompetenzen in den Bereichen Gesundheit (Art. 168 AEUV), Hochschulbildung und Forschung (Art. 179 AEUV), Umwelt (neuer Art. 191a AEUV), Energie (Art. 194 AEUV) und Verteidigung (Art. 42 EUV) von den Mitgliedstaaten zu übertragen.
Darüber hinaus würde ein geänderter Art. 42 EUV der EU ermöglichen, eine Verteidigungsunion mit Militäreinheiten zu etablieren einschließlich einer Schnelleingreifkapazität, die dem operativen Kommando der EU unterstehen würde. Vor diesem Hintergrund plädiert das EP zudem für eine gemeinsame Verteidigungs- und Rüstungsbeschaffung. Die Vorschläge des EP bergen damit weitreichende Implikationen für die Zukunft der EU in geopolitisch bewegten Zeiten. Es bleibt abzuwarten, wie die Staats- und Regierungschefs auf die Forderungen nach einer Verteidigungsunion regieren.
Nun liegt es am Rat
Das EP hat die Reformvorschläge an den Rat geschickt, Art. 48 Abs. 2 EUV. Es liegt nun in der Hand des Rates, sie auf die Tagesordnung zu nehmen und darüber zu entschieden, sie dem Europäischen Rat vorzulegen. Ob überhaupt und ggf. innerhalb welchen Zeitraumes der Rat zu diesem Vorlegen verpflichtet ist, ist jedoch in den Verträgen nicht eindeutig geregelt.
Der Europäische Rat wiederum könnte dann nach Anhörung des EP und der Kommission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschließen. Daraufhin würde der Präsident des Europäischen Rates (Charles Michel) einen Vertrags-Konvent einberufen.
In Anbetracht der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten über Vertragsreformen bleibt abzuwarten, wie der Rat agieren wird und ob die derzeitige spanische oder die kommende belgische Ratspräsidentschaft diese Angelegenheit weiter vorantreiben wird. Der Prozess ist auf jeden Fall langwierig und komplex – aber er ist durch den Vorschlag des EP in Gang gesetzt. Dass alle Änderungen, die das EP aufgenommen hat, umgesetzt oder übernommen werden, ist sehr unwahrscheinlich. Allerdings gibt es Vorschläge, wie z.B. die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip, die vor einer Erweiterung der EU umgesetzt werden dürften.
Falls der Rat die Vorschläge des EP aber nicht vorlegt, wären sie Makulatur.
Der Autor Dr. Niels Kirst ist Assistant Professor of EU Law an der Dublin City University.
Essenzielle Vertragsänderungen für die EU: . In: Legal Tribune Online, 18.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53445 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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