Betrug zu Lasten der EU ist leider keine Seltenheit. Doch nicht immer nehmen die Mitgliedstaaten die Verfolgung solcher Straftaten ernst. Das soll nun eine Europäische Staatsanwaltschaft ändern. Dominik Brodowski hält dies für einen Meilenstein der europäischen Integration, befürchtet aber gleichwohl, dass die Rechte der Beschuldigten zwischen 29 Kriminaljustizsystemen leiden könnten.
Die Finanztöpfe der EU locken auch zwielichtige Gestalten an. Berühmt ist etwa folgender Fall: Kriminelle deklarierten aus dem damaligen Jugoslawien stammenden Mais zu griechischem Mais um, weil ihnen das einen finanziellen Vorteil brachte, der allerdings zu Lasten der EU ging. Griechenland zeigte sich damals wenig engagiert, die Täter strafrechtlich zu verfolgen – schließlich nutzte die Straftat der griechischen Wirtschaft.
Die Episode dürfte kein Einzelfall sein. Die Kommission schätzt, dass jährlich – verteilt auf alle 28 Mitgliedstaaten – Betrügereien zum Nachteil der EU begangen werden, die einen Schaden von über 500 Millionen Euro verursachen. Und sie ist der Überzeugung, dass die Straftaten in den Mitgliedstaaten nur unzureichend verfolgt werden.
Ein Meilenstein der europäischen Integration
Als ersten Schritt regte die Kommission daher vor einem Jahr an, die Straftatbestände Korruption, Betrug und Umsatzsteuerhinterziehung, soweit sie jeweils zum Nachteil der EU begangen werden, in den Strafgesetzen der Mitgliedstaaten anzugleichen. Die Verhandlungen über diesen Vorschlag dauern noch an.
Allerdings ist materielles Strafrecht, das prozessual nicht durchgesetzt wird, totes Recht. Um die Strafverfolgung in diesen Fällen von nationalen Eigeninteressen zu befreien und europaweit effektiver zu gestalten, ist es sinnvoll, die Strafverfolgung auf europäischer Ebene zu bündeln – jedenfalls soweit sich die Nationalstaaten als unwillig oder unfähig erweisen.
Die Kommission legte daher am Mittwoch einen Verordnungs-Entwurf vor, nach dem die Strafverfolgung in diesen Fällen auf eine europäische Behörde verlagert wird. Das ist neu und ein Meilenstein der europäischen Integration, gerade weil das Strafrecht besonders souveränitätssensibel ist.
Eine europäische Herrin des Ermittlungsverfahrens
Nach dem Vorschlag der Kommission soll eine hierarchisch organisierte Europäische Staatsanwaltschaft errichtet werden, an deren Spitze ein von Parlament und Ministerrat gewählter Europäischer Staatsanwalt sowie vier Stellvertreter stehen. Diese wiederum ernennen in den Mitgliedstaaten sogenannte "delegierte Europäische Staatsanwälte", die aber zugleich auch "normale" Staatsanwälte sein sollen – und so gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzen. Die Justizministerinnen Deutschlands und Frankreichs, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Christiane Taubira, plädierten hingegen dieses Frühjahr für von den Mitgliedstaaten entsandte Beamte und für flachere Hierarchien.
Die Europäische Staatsanwaltschaft soll ausschließlich zuständig sein für die Verfolgung von Straftaten zu Lasten des EU-Haushalts. Das sind nur relativ wenige Straftaten im Jahr, so dass die wenigsten Polizisten, die wenigsten Bürger und auch die wenigsten Straftäter mit ihr zu tun haben werden. In diesen Fällen aber soll die Europäische Staatsanwaltschaft als "Herrin des Ermittlungsverfahrens" die Ermittlungen leiten und auch vor den nationalen Strafgerichten die Anklage vertreten.
Viel wird indes noch über das Prozessrecht zu diskutieren sein: Der Verordnungs-Entwurf sieht ein hybrides Modell vor, also eine Kombination aus nationalem und europäischem Strafprozessrecht, und gibt nur einen – recht niedrigen – europäischen Mindeststandard an Beschuldigtenrechten vor. Auch kann der Verordnung zufolge etwa eine Telekommunikationsüberwachung ohne größere Hürden angeordnet werden. Daneben sollen die Prozessordnungen der Mitgliedstaaten weiter anwendbar sein – also etwa die deutsche Strafprozessordnung. Das wird zu Konflikten führen.
Der Beschuldigte als Spielball von 29 Kriminaljustizsystemen?
Bei der Europäisierung der Strafverfolgung muss besonderes Augenmerk darauf gerichtet werden, dass der Beschuldigte nicht zum Spielball zwischen 28 nationalen und einer Europäischen Staatsanwaltschaft wird. So gestatten manche Mitgliedstaaten den Ermittlungsbehörden in großzügiger Weise, Beweise zu erheben, und schränken erst später die Verwertung dieser Beweismittel im Strafprozess ein.
In Deutschland kennen wir dagegen eine relativ restriktive Gesetzeslage hinsichtlich der Beweiserhebung, gestatten aber die gerichtliche Verwendung von erhobenen Beweisen in weitem Umfang. Das ist nur ein Beispiel für Friktionen zwischen den unterschiedlichen Prozessordnungen, die zu mangelndem Schutz der Grund- und Menschenrechte der Beschuldigten führen können.
Neben einer europäischen Anklagebehörde müssen daher auch die Beschuldigtenrechte in europäischen und transnationalen Fällen gestärkt werden. So muss zwingend – und bereits im Ermittlungsverfahren – eine europäisch denkende Strafverteidigung dem Beschuldigten zur Seite gestellt werden. All das sieht der Kommissions-Vorschlag aber nur unzureichend vor.
Europäische Strafverfolgung auch bei organisierter Kriminalität sinnvoll?
Die Kommission will mit ihrem Vorschlag auch ein Zeichen setzen, dass die EU Betrügereien zum Nachteil ihres Haushalts nicht länger dulden will. Damit will die Politik das Vertrauen in die finanzielle Integrität der EU stärken, auch und gerade in Zeiten der Eurokrise. Ob die Europäische Staatsanwaltschaft tatsächlich zu einer effektiveren, aber gleichzeitig rechtsstaatlichen und menschenrechtskonformen Strafverfolgung von Betrügereien zum Nachteil der EU führen wird, ist noch nicht ausgemacht.
Groß ist erstens die Gefahr, dass sich längst nicht alle Mitgliedstaaten an ihr beteiligen – so haben Dänemark und das Vereinigte Königreich schon angekündigt, nicht dabei zu sein. Zweitens ist zum jetzigen Zeitpunkt noch ungewiss, welches Ergebnis am Ende des Gesetzgebungsverfahren stehen wird: Viel spricht dafür, dass der Rat dem Entwurf der Kommission kritisch gegenübersteht. Und drittens wird sich eine Europäische Staatsanwaltschaft auch in der Praxis bewähren müssen – etwa, ob sie genauso reibungslos mit der örtlichen Polizei zusammenarbeitet wie die nationalen Staatsanwaltschaften.
Sollte sie dies tun, wird man langfristig über eine Ausweitung ihrer Zuständigkeit nachdenken müssen: Denn es gibt auch andere Fälle – etwa die organisierte Kriminalität –, bei denen nationale Kriminaljustizsysteme an ihre Grenzen stoßen und bei denen daher eine Strafverfolgung auf europäischer Ebene sinnvoll sein kann.
Der Autor Dominik Brodowski, LL.M. (UPenn) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Wirtschaftsstrafrecht (Prof. Dr. Joachim Vogel) an der Ludwig-Maximilians-Universität München und forscht unter anderem über die Europäisierung des Straf- und Strafprozessrechts.
Europäische Staatsanwaltschaft: . In: Legal Tribune Online, 18.07.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9166 (abgerufen am: 21.11.2024 )
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