Für die EU-Bürger war sie die vielleicht wichtigste Neuerung durch den Vertrag von Lissabon: die Einführung der europäischen Bürgerinitiative. Die Macht der Bürger aber, tatsächlich etwas zu ändern, ist eher begrenzt - selbst wenn sie die hohen formalen Hürden nehmen können. Tina Roeder über eine Beteiligungsmöglichkeit, die schon sehr viel Beteiligung voraussetzt.
Am 11. März veröffentlichte die Europäische Union (EU) die erforderliche Verordnung zu den Einzelheiten des Verfahrens, das nicht nur mehr Beteiligung der Unionsbürger möglich machen, sondern auch deren Interesse an der Union erhöhen soll. Ab April 2012 ist damit der Weg frei für erste europaweite Bürgerbegehren.
Die europäische Bürgerinitiative soll eigentlich beim Abbau des viel beklagten Demokratiedefizits der Union helfen. Aber das erste direktdemokratische Instrument auf EU-Ebene ist schon seinem Wortlaut nach sperrig und nicht gerade anwenderfreundlich konstruiert:
"Unionsbürgerinnen und Unionsbürger", so heißt es in Art. 11 Abs. 4 des Vertrags über die Europäische Union (EUV), "deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedstaaten handeln muss", können die Europäische Kommission auffordern, "im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten", zu denen es nach Ansicht dieser Bürger "eines Rechtsakts der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen."
Ein Bandwurmsatz, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. Was zum Beispiel ist eine "erhebliche Anzahl" von Mitgliedstaaten? Müssen aus jedem Staat gleich viele Bürger beteiligt sein? Wer soll sie zählen und wer überprüft wie, ob die Zahlen auch tatsächlich stimmen? Fragen, mit denen die EU-Organe lange zu kämpfen hatten. In der Verordnung über die Bürgerinitiative (Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates) sind sie nun vorerst beantwortet worden.
Nur eine Aufforderung zu Vorschlägen
Die Möglichkeit für Bürger, direkt und nicht nur über den Umweg der gewählten Vertreter an demokratischen Entscheidungsprozessen teilzunehmen, gibt es in vielen Mitgliedstaaten der EU. In Deutschland existiert vor allem auf kommunaler Ebene das Bürgerbegehren, mit dem ein Bürgerentscheid über eine kommunale Sachfrage erreicht werden kann.
So weitgehend ist die europäische Bürgerinitiative nicht konzipiert. Schon Art. 11 EUV zeigt: Die EU-Bürger können die Kommission nur auffordern, Vorschläge für Rechtsakte zu machen, also etwa einen Verordnungsentwurf in das europäische Gesetzgebungsverfahren einzubringen.
Die Kommission ist an diese Aufforderung nicht gebunden. Sie muss sich zwar mit einer einmal registrierten Bürgerinitiative befassen und innerhalb von drei Monaten zu einer begründeten Zustimmung oder Ablehnung kommen. Unter Umständen muss sie sogar eine öffentliche Anhörung der Initiatoren im Parlament durchführen. Aber sie kann weder zu einer bestimmten Entscheidung gezwungen werden noch kann der Wille der Initiative den der Kommission ersetzen.
Eine Million Unterschriften aus mindestens sieben Mitgliedstaaten
Damit die Bürgerinitiative tatsächlich europäische und nicht nur nationale Interessen repräsentiert, wurde in Art. 11 EUV die "erhebliche Anzahl" von Mitgliedstaaten eingeführt, aus denen die Unterschriften für eine Bürgerinitiative kommen müssen. Lange haben die EU-Organe darüber gestritten, wie diese "erhebliche Anzahl" zu definieren ist.
Immerhin ist sie mit ausschlaggebend dafür, inwieweit die Bürgerinitiative nicht nur repräsentativ, sondern vor allem für die EU-Bürger auch handhabbar ist. Gerade für kleinere, logistikschwache Interessenverbände geht es hier nicht um bloße Zahlenspielerei.
Man einigte sich auf einen Mittelwert, ein Viertel aller Mitgliedstaaten. Damit muss mindestens eine Million Unterschriften aus mindestens sieben EU-Staaten kommen. Ein an die Bevölkerungsdichte angepasster Schlüssel regelt dabei die Verteilung, angelehnt an die Sitzverteilung im Parlament. Ob diese Hürde nicht für viele potenzielle Initiativen zu hoch sein wird, wird sich erst in der Praxis zeigen.
Hohe Hürden: Die Tücken des Verfahrens
Die Anzahl und Zusammensetzung der Unterschriften ist allerdings nicht die einzige Hürde für die Bürgerinitiative. Vor allem in Bezug auf das eigentliche Verfahren hält die Verordnung noch weitere Hindernisse bereit.
So muss der "Bürgerausschuss", der die Initiative zur Registrierung anmeldet, diverse persönlichen Daten preisgeben und alle Finanzierungsquellen offen legen. Der Ausschuss ist auch verantwortlich für die Sammlung der Unterschriften und haftet für alle Schäden, die durch die Bürgerinitiative entstehen. Registrieren muss die Kommission die geplante Initiative nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Sie darf etwa nicht "offenkundig gegen die Werte der Union" verstoßen, die sich ihrerseits aus Art. 2 EUV ergeben – eine einigermaßen schwammige Vorschrift mit viel Auslegungsspielraum. Auch wenn die Initiative offensichtlich missbräuchlich oder "unseriös" ist, kann die Kommission die Registrierung verweigern. Was darunter fällt, lässt die Verordnung weitgehend offen.
Ist die Registrierung schließlich geschafft, besteht ein Zeitfenster von 12 Monaten für die Sammlung der Unterschriften, die nur auf einem bestimmten (Online-)Formular geleistet werden dürfen. Die zuständigen Mitgliedstaaten sollen die ausgefüllten Formulare auf der Grundlage "angemessener" Verfahren überprüfen. Was darunter zu verstehen ist, entscheiden die Staaten selbst.
Die Bürgerinitiative soll zu mehr Beteiligung, aber auch zu mehr Interesse der EU-Bürger an ihrer Union führen. Eine Greenpeace-Initiative wurde bereits nur nach den Vorgaben des EUV durchgeführt, da die Umweltschützer unter Berufung auf ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Auffassung vertreten, schon Art. 11 EUV sei unmittelbar anwendbar. Die europäische Bürgerinitiative wird also wahrgenommen und ihre Voraussetzungen scheinen auch erfüllbar zu sein. Ob aber auch andere, kleinere Interessengruppen die zahlreichen Hürden der europäischen Initiative werden nehmen können, bleibt abzuwarten.
Die Autorin Dr. iur. Tina Roeder ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der TU Dresden.
Mehr auf LTO.de:
Volksentscheide: Von der Staatsgewalt, die vom Volke ausgeht
Bürgerbeteiligung bei Probebohrungen: NRW auf dem Weg zu "Erdgas 21"?
https://www.lto.de/de/html/nachrichten/1774/kein-prototyp-fuer-buergerbeteiligung/
Schlichtung bei Stuttgart 21: Kein Prototyp für Bürgerbeteiligung
Europäische Bürgerinitiative: . In: Legal Tribune Online, 29.03.2011 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2885 (abgerufen am: 20.11.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag