Die Strafrechtssysteme in Europa sind ganz unterschiedlich – und dementsprechend auch die Rechtsmittel. Eine europäische Professoren-Gruppe hat nun begonnen, die Systeme zu vergleichen.
Da werden Drogen in der Ferienwohnung eines Niederländers in Polen gefunden oder ein Deutscher hinterzieht Steuern in Luxemburg. Schon läuft die Ermittlungsmaschinerie der Länder an, in denen die möglichen Straftaten begangen wurden. Doch schon die strafrechtlichen Ermittlungen sind, da genügt bereits ein Blick nach Frankreich, innerhalb Europas sehr unterschiedlich, – und infolgedessen zwangsläufig auch die Rechtsmittel.
Eine Gruppe von Rechtsprofessoren will die unterschiedlichen europäischen Standards für Rechtsmittel in Strafverfahren in den kommenden zwei Jahren nun genauer untersuchen. Und wird in diesem Zeitraum von der EU-Kommission mit rund 350.000 Euro gefördert werden.
Bisher keine Ländervergleiche zu Rechtsmitteln
Der deutsche Vertreter ist Prof. Dr. Marco Mansdörfer (40) von der Universität des Saarlandes, der schon zum europäischen Strafrecht promoviert hat. "Kein Mensch kennt sich bisher mit den Rechtsmitteln in Ermittlungs- und Strafverfahren der Länder in Europa aus", sagt er. Es gebe bislang schlichtweg dazu keine Ländervergleiche.
Um das zu ändern, werden die Professoren zunächst die Unterschiede in den Verfahrensstufen analysieren, um auf dieser Basis die Rechtsmittel darzulegen. "In Frankreich gibt es etwa ein starkes Ermittlungsverfahren, in dem bereits Beweise endgültig gesichert und beantragt werden", erklärt er. Von daher gebe es auch ganz andere Anforderungen an die Rechtsmittel in diesem Stadium. Daneben stehe dann beispielsweise Deutschland mit dem dreistufigen Verfahren: Ermittlungen, Zwischenverfahren, Hauptverhandlung. Erst in der Hauptverhandlung werden die Beweise endgültig gesichert.
Analysiert werden zunächst einmal sechs Länder: Deutschland, Frankreich, Spanien, Belgien, Luxemburg und Polen. "Wir haben rechtlich und politisch interessante Länder ausgewählt", sagt Mansdörfer, alle 27 EU-Mitgliedstaaten wären für den Anfang unmöglich gewesen. Koordiniert wird das Projekt von Professor Silvia Allegrezza von der Universität Luxemburg. Weitere Partner sind die Universitäten Danzig (Polen), Girona (Spanien), Leuven (Belgien) und Poitiers (Frankreich).
Und warum das alles?
Die Idee dahinter ist tatsächlich der Schutz der Betroffenen. "Wir wollen sicherstellen, dass die Regelungen des Art. 13 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und Art 47 der Europäischen Grundrechtecharta (GRC) verwirklicht werden", so Mansdörfer. In Art. 13 EMRK ist das Recht auf wirksame Beschwerde geregelt, in Art. 47 GRC das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht. Die EU wolle zunehmend ein einheitlicher Rechtsraum werden. Dafür brauche es dann auch das Wissen darüber, wie Strafverfahren in den unterschiedlichen Ländern gehandhabt werden. Und das sei bisher ein weißes Feld.
"Ziel ist es nun, rechtsstaatliche Standards für ein europaweit einheitliches Schutzniveau zu erarbeiten, damit die in anderen EU-Staaten erhobenen Beweise einen hohen Beweiswert haben", erklärt Mansdörfer. "Bei rechtsstaatlichen Standards darf es im gemeinsamen europäischen Rechtsraum kein Downgrading und Absenken des Schutzniveaus geben."
Stimmen der Kritiker
Mit dieser Aussage geht Mansdörfer auf die Zweifel von Kritikern des Projekts bereits ein: Sie befürchten, dass es in der EU zu einer Angleichung des Rechts kommen könnte mit geringeren Schutzrechten für die Betroffenen – so, als treffe man sich auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Ziel des Forschungsprojektes sei aber das Gegenteil: "Die Unschuldsvermutung gilt schon einmal in ganz Europa", sagt der Jurist. Ebenso das Recht auf einen gesetzlichen Richter. Es gebe nun einmal einen europäischen Rechtsraum, von dem alle ökonomisch profitierten. "Dann brauchen wir auch ein funktionierendes Strafrecht." Und ein Recht, in dem die Ermittlungsbehörden einander und ihren Ermittlungsergebnissen gegenseitig vertrauen könnten.
Die Europäer bewegten sich immer selbstverständlicher über ihre Binnengrenzen. Sie wohnen in Frankreich, arbeiten in Luxemburg, studieren in Spanien und gründen Firmen in Belgien. Mit der Freizügigkeit werden auch staatenübergreifende Strafverfahren zum Alltagsgeschäft. Mit dem gemeinsamen europäischen Rechtsraum baue Europa "einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf", so Mansdörfer. Damit ein solcher Raum funktionieren kann, müssten auch Ermittlungsbehörden und Justiz der europäischen Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten. "Diese Zusammenarbeit wird heute durch Unterschiede in den nationalen Rechten erschwert."
Strafrecht als EU-Kompetenz
Die Entwicklung eines supranationalen Rechts wird jedenfalls nicht am Ende der Forschungen stehen: "Die Verfahren anzugleichen – das könnte die EU nur sehr begrenzt“, schätzt Mansdörfer. "Wir werden in drei Stufen arbeiten: Erst werden wir erforschen, wie der grundrechtliche Stand in Europa ist, dann, wie es in den Referenzländern aussieht und an dritter Stelle, welche Entwicklungen die EU daraus ableiten kann." Der Kommission werden die Ergebnisse vermutlich 2017 vorgestellt, "und ab 2020 wird dann vielleicht mal ernsthaft diskutiert".
Aber losgehen muss die Forschung ja irgendwann einmal – immerhin gab es schon Diskussionen um einen europäischen Staatsanwalt, bei Kartellrechtsverstößen spricht derzeit die EU-Kommission die Strafen aus. "Da sind wir im Strafrecht spät dran." Immerhin sei das Strafrecht mit dem Vertrag von Lissabon 2011 zu einer EU-Kompetenz geworden. Und das, wo es noch nicht einmal ein englisches Wort für Revision gibt.
Tanja Podolski, Rechtsmittel im europäischen Strafrecht: . In: Legal Tribune Online, 28.08.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/16738 (abgerufen am: 04.11.2024 )
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