2/2: Die Grundrechte müssen gewahrt bleiben
Alle Nachforschungen müssten zudem im Einklang mit dem Unionsrecht und den in der Charta garantieren Grundrechten stehen.
Die Behörden dürfen die Antragsteller zwar grundsätzlich zu ihrer behaupteten sexuellen Orientierung befragen. Auf Einzelheiten zu sexuellen Praktiken dürfen sich diese Fragen jedoch nicht beziehen. Dies verstieße nach Auffassung des EuGH gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 7 der Charta.
Auch die Vornahme sexueller Handlungen und das Bereitstellen von Videoaufnahmen intimer Handlungen zum Nachweis der Homosexualität verletzten die in Art. 1 der Charta festgelegte Würde des Menschen. Die eingriffsintensiven und erniedrigenden Methoden wie medizinische oder pseudomedizinische Untersuchungen wie die "Phallometrie" verletzten zudem die Rechte auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Privatleben. Es gebe keine objektive Methode, die von einer Person behauptete sexuelle Ausrichtung mit Bestimmtheit zu beweisen.
Stellten Asylbewerber sich freiwillig für solche "Tests" zu Verfügung, so dürften diese nicht verwertet werden. Abgesehen davon, dass sie nicht zwangsläufig Beweiskraft hätten, würde schon die Zulassung dieser Beweismittel dazu führen, dass solche Beweise auch tatsächlich verlangt würden.
Schließlich, so der EuGH, dürfe die Behörde aus der zögerlichen Offenbarung von Aspekten des Lebens und der Sexualität nicht darauf schließen, dass der Asylbewerber unglaubwürdig sei. Dies ergebe sich aus dem sensiblen Charakter der Informationen, welche die persönliche Sphäre einer Person betreffen.
Zwischen Aufklärungsinteresse und Grundrechtsschutz
Das Urteil des EuGH betrifft hochsensible Fragen von großer Tragweite. Mit dieser differenzierten Entscheidung achtet und schützt der EuGH die Grundrechte von Asylbewerbern, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung in ihrem Herkunftsstaat verfolgt fühlen. Zu Recht knüpfen die europäischen Richter dabei die sexuelle Identität auch an die Menschenwürde des Asylbewerbers an. Die Grenzen müssen im hoch privaten Bereich der Sexualität grundrechtlich enger vordeterminiert sein als bei anderen Fluchtgründen. Es bedarf daher schwerwiegender Gründe, um einen Eingriff in den intimsten Bereich des Privatlebens durch behördliche Nachforschungen zu rechtfertigen.
Die Mitgliedstaaten haben allerdings auch ein berechtigtes Interesse daran, zumindest im Rahmen des rechtlich Zulässigen Scheinasylanten die Unterstützung zu verweigern. Daher ist es im Ergebnis nachvollziehbar, dass der EuGH grundsätzlich Nachforschungen zulässt. Andernfalls würde er das Antragsverfahren in diesen Fällen zu einem subjektiven Prozess in der Hand des Einzelnen machen und es jeder Kontrolle – nicht zuletzt seiner eigenen – entziehen. Die Überprüfung deckt sich schließlich auch mit völkerrechtlichen Standards und Vorgaben, wie die am vorliegenden Verfahren beteiligte UR Refugee Agency (UNHCR) bestätigt hat.
Allerdings dürfte es für die Mitgliedstaaten im Bereich der sexuellen Orientierung trotz der Hinweise des EuGH nicht gerade leichter werden, eine klare Linie zwischen Aufklärungsinteresse und Grundrechtsschutz zu finden.
Nach alledem sollte es bei der Überprüfung entscheidend auf die Glaubwürdigkeit der Einlassungen des Asylbewerbers ankommen und nicht auf eine anderweitige Feststellung der sexuellen Orientierung. Dies hatte auch die Generalanwältin in ihren Schlussanträgen deutlich herausgestellt. Denn wenn die sexuelle Orientierung eines Menschen schon nicht objektiv feststellbar ist, dann sollte sie als Anknüpfungspunkt im Recht weitestgehend vermieden werden.
Nachdem der EuGH bereits entschieden hat, dass man von Asylbewerbern nicht verlangen kann, ihre sexuelle Orientierung zu verstecken und sie im Herkunftsstaat nicht auszuleben, schreitet er mit diesem Urteil konsequent auf seinem Weg einer differenzierten Grundrechtsrechtsprechung fort.
Der Autor Nils Janson ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht, Abt. I: Europa- und VölkerR, Prof. Dr. Ulrich Haltern, LL.M. (Yale), Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.
EuGH zur Überprüfung von Asylbewerbern: . In: Legal Tribune Online, 02.12.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13990 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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