EuGH verhandelt über Mitbestimmung: Die deut­sche Wirt­schafts­ord­nung in Gefahr

von Dr. Stefan Mutter

23.01.2017

2/2: Mindestens eine Reform nötig

Einfach ist der erste mögliche Ausgang. Der EuGH folgt der Bundesregierung und erklärt die Vereinbarkeit der deutschen Mitbestimmung mit Europarecht. Dann ändert sich nichts am bewährten deutschen Gesellschaftsmodell.

Die Richter in Luxemburg könnten aber auch das unionsweite passive und/oder aktive Wahlrecht für erforderlich halten. Bei diesem Ausgang wäre hinsichtlich der Folgen weiter zu differenzieren. Folgte man der Auffassung, die eine Beschränkung auf deutsche Arbeitnehmer nicht im Gesetzeswortlaut des Mitbestimmungsgesetzes verankert sieht, könnte man die Folgen einer solchen Entscheidung durch unionsrechtskonforme Auslegung bewältigen.

Dabei könnte es aber bei weiterem Nachdenken kaum bleiben. Denn das komplizierte deutsche Wahlverfahren kann man kaum mit zumutbarem Aufwand europa- oder gar weltweit ausrollen. Schon heute dauern die vielen und teils tatsächlich, teils rechtlich komplizierten Schritte des Wahlverfahrens viele Monate und kosten nicht wenig. Hier bedürfte es einer Reform, um zu vernünftigen Abläufen zu kommen. Hinzu kommt bei einer internationalen Wahl, dass sich andere nationale Rechtsordnungen auf eine solche Wahl und deren Verfahren dort vor Ort auswirken dürften. Dies bildet das derzeitige Wahlverfahren natürlich nicht ab.

Das Worst-case-Szenario

Hält man hingegen eine europarechtskonforme Auslegung nicht für möglich, stünde das deutsche Mitbestimmungsrecht insgesamt auf der Kippe und müsste umgehend europarechtskonform neu gefasst werden, um nicht zu fallen.

Wie handlungs- und reaktionsfähig hier die deutsche Politik sein würde, dürfte entscheidend auch dadurch beeinflusst werden, ob der EuGH vor oder nach der Bundestagswahl entscheidet. Praktisch hätte der Gesetzgeber jedenfalls ein Zeitfenster für eine schnelle Reaktion. Denn das deutsche Aktiengesetz sorgt dafür vor, dass sich Änderungen im Mitbestimmungsstatut frühestens sechs Monate nach einer rechtskräftigen  gerichtlichen Entscheidung im Statusverfahren ergeben (§ 98 Abs. 4 AktG). Hinzu kommt, dass der aktien- und mitbestimmungsrechtliche Bestandsschutz für durchgeführte Wahlen ein unmittelbares Durchschlagen einer ungünstigen EuGH–Entscheidung auf das individuelle Amt bereits gewählter Aufsichtsratsmitglieder weitgehend verhindert (namentlich wenn die jeweiligen Klagefristen verstrichen sind).

Schließlich kann man in den Überlegungen auch noch danach differenzieren, ob der EuGH nur die Vorlagefrage(n) entscheiden würde oder in einem obiter dictum auch die beschriebene "Zählfrage" für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und das anzuwendende Mitbestimmungsstatut. Täte er das nicht, muss man kein Prophet sein, um zu ahnen, worüber im nächsten Schritt gestritten werden würde.

Das ist aber nur die rechtliche Seite. Die politischen und wirtschaftlichen Weiterungen einer Europäisierung der deutschen Aufsichtsräte reichen darüber weit hinaus. Es kann zu volkswirtschaftlich nachhaltig negativen Wechselwirkungen mit einer gegebenenfalls noch wirtschaftsfeindlicheren Ausrichtung der deutschen Politik nach der Bundestagswahl kommen, wenn die Unternehmensleitungen gezwungen würden, einen Wegzug aus Deutschland ernsthaft zu prüfen, um ihre rechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllen zu können.

So hätte beispielsweise ein spanisches Aufsichtsratsmitglied wenig Bedenken gegen eine Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten des Unternehmens nach Spanien, während ein deutscher Arbeitnehmervertreter den damit einhergehenden Arbeitsplatzabbau in Deutschland kritisch(er) hinterfragen würde.

Wie Unternehmen ihre bewährte Mitbestimmung verteidigen können

Wie der EuGH entscheidet, kann man vor der mündlichen Verhandlung am Dienstag nicht ahnen. Unternehmenslenker können aber schon heute mit den Arbeitnehmern und deren Vertretern Vorkehrungen erwägen, um die bewährte deutsche Mitbestimmung in eine sichere Zukunft zu führen.

Die Instrumente dafür liegen bereit: ein Formwechsel in die SE einerseits oder andererseits alternativ der Verbleib in der deutschen Rechtsform der AG unter Vereinbarung der Mitbestimmung im Rahmen einer grenzüberschreitenden Verschmelzung einer Tochtergesellschaft nach den dafür geltenden Bestimmungen des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG). In beiden Varianten beruht die dann verhandelte Mitbestimmung nicht mehr auf dem deutschen Recht und kann folglich durch den EuGH auch nicht in Frage gestellt werden, egal wie dort entschieden wird. Für beide Gestaltungsvarianten gibt es im Übrigen im DAX bereits Vorbilder.

Der Autor Dr. Stefan Mutter ist Partner der Mutter & Kruchen Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB in Düsseldorf. Er berät insbesondere in aktien- und mitbestimmungsrechtlichen Fragen sowie bei Neuordnungen von Konzernstrukturen. Weitere Arbeitsgebiete sind Vorstandsanstellungsverträge und –vergütung, Corporate Governance, Compliance und Organhaftung sowie Rechtsstreitigkeiten mit Aktionären und Organen.

Zitiervorschlag

EuGH verhandelt über Mitbestimmung: . In: Legal Tribune Online, 23.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21862 (abgerufen am: 21.11.2024 )

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