Am Dienstag verhandelt der EuGH darüber, ob das deutsche Mitbestimmungsgesetz gegen Europarecht verstößt. Für Stefan Mutter steht eine wesentliche Säule des deutschen Wirtschaftsmodells der Nachkriegszeit auf dem Spiel. Ein Kommentar.
Deutschland könnte in Kürze ein Kometeneinschlag drohen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) befindet in der Sache Erzberger über nicht weniger als die Vereinbarkeit der deutschen Mitbestimmung mit dem Europarecht.
Vor dem Kammergericht (KG) Berlin streitet Konrad Erzberger, der Aktien der Tui AG besitzt, mit dem Konzern über die richtige Zusammensetzung von dessen Aufsichtsrat. Der 30-jährige Banker argumentiert damit, dass das deutsche Mitbestimmungsgesetz gegen Unionsrecht verstoße.
Das KG Berlin hat dem EuGH mit Beschluss vom 16. Oktober 2015 die Frage vorgelegt, ob es "mit Artikel 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Artikel 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar [ist], dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsgremium eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind".
Das sind freilich zwei Fragen, nämlich einerseits über das aktive und andererseits über das passive Wahlrecht. Diese muss man unionsrechtlich nicht einheitlich entscheiden. Daneben schlummert im Halbdunkeln des Verfahrens noch eine dritte Frage. Sie hat für die Praxis großen Belang, auch wenn sie formell nicht zur (Mit-)Entscheidung steh:
Das deutsche Mitbestimmungsrecht differenziert nach der Zahl der Arbeitnehmer, ob ein Aufsichtsrat zu einem Drittel oder paritätisch mitbestimmt, also mit Vertretern der Belegschaft besetzt ist. Ebenfalls nach der Zahl der Arbeitnehmer richtet sich, ob im Aufsichtsrat nur Arbeitnehmer oder auch Gewerkschaftsvertreter sitzen und wie viele Aufsichtsratsmitglieder als Arbeitnehmervertreter insgesamt zu wählen sind.
Auch hier ergeben sich natürlich andere Ergebnisse, wenn man nicht nur hiesige, sondern auch ausländische Arbeitnehmer berücksichtigt. Diese "Zählfrage" hat gesellschaftspolitisch sogar weit mehr Sprengkraft, weil es hier zu einer deutlichen Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung weit in den Mittelstand hinein kommen könnte.
Ohne Grund die deutsche Wirtschaftsordnung in Frage gestellt?
Ob die Vorlage an den EuGH überhaupt nötig war oder ob sich die vom KG aufgeworfene Frage bei entsprechender Auslegung des deutschen Rechts gar nicht gestellt hätte, ist zwar unverändert eine rechtsdogmatisch spannende Frage. Die Gerichte in Zweibrücken, Frankfurt und München hatten das, soviel sollte man rechtshistorisch an dieser Stelle festhalten, anders beurteilt.
Es hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack, dass ein Berliner Gericht vielleicht grundlos eine tragende und über Jahrzehnte bewährte Säule der deutschen Wirtschaftsordnung in Frage gestellt hat. Jede Antwort auf diese Frage ändert aber hier und heute nichts mehr an der vom KG verschuldeten Entscheidungsmöglichkeit europäischer Richter.
Politik statt Recht von der EU
Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme im Verfahren die Europarechtskonformität der deutschen Mitbestimmung ausführlich und sorgsam dargelegt. Während sie auf die große Bedeutung der Rechtssache Erzberger hinwies, drängt die EU-Kommission das Gericht durch ihre Juristen in eine andere Richtung. Sie hält es für "mit Art. 45 AEUV unvereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind, wenn der Mitgliedstaat das Mitbestimmungsrecht so gestaltet, dass es Sachverhalte umfasst, die bei objektiver Betrachtung sowohl im selben Mitgliedstaat als auch in einem anderen Mitgliedstaat vorliegen können."
Damit hat die EU-Kommission, um es mit Prof. Dr. Rüdiger Krause von der Universität Göttingen zu sagen, "nicht nur Stellung genommen. Sie hat Stellung bezogen."
Das mag man beklagen, verwehren kann man es europäischen Politikern nicht. Für sie ist es legitim, gegen Interessen Deutschlands und für eine Schwächung seiner erfolgreichen Wirtschaftsordnung zu arbeiten, wenn dies nach ihrer Überzeugung im europäischen Interesse liegt. Unter solchen Vorzeichen ist es allerdings durchaus nachvollziehbar, dass Theresa May zu den Zielen in Sachen Brexit erklärte, die britische Regierung wolle die vollständige Kontrolle über die Gesetzgebung zurück: "Künftig werden wieder ausschließlich die Gerichte in Großbritannien zuständig sein."
2/2: Mindestens eine Reform nötig
Einfach ist der erste mögliche Ausgang. Der EuGH folgt der Bundesregierung und erklärt die Vereinbarkeit der deutschen Mitbestimmung mit Europarecht. Dann ändert sich nichts am bewährten deutschen Gesellschaftsmodell.
Die Richter in Luxemburg könnten aber auch das unionsweite passive und/oder aktive Wahlrecht für erforderlich halten. Bei diesem Ausgang wäre hinsichtlich der Folgen weiter zu differenzieren. Folgte man der Auffassung, die eine Beschränkung auf deutsche Arbeitnehmer nicht im Gesetzeswortlaut des Mitbestimmungsgesetzes verankert sieht, könnte man die Folgen einer solchen Entscheidung durch unionsrechtskonforme Auslegung bewältigen.
Dabei könnte es aber bei weiterem Nachdenken kaum bleiben. Denn das komplizierte deutsche Wahlverfahren kann man kaum mit zumutbarem Aufwand europa- oder gar weltweit ausrollen. Schon heute dauern die vielen und teils tatsächlich, teils rechtlich komplizierten Schritte des Wahlverfahrens viele Monate und kosten nicht wenig. Hier bedürfte es einer Reform, um zu vernünftigen Abläufen zu kommen. Hinzu kommt bei einer internationalen Wahl, dass sich andere nationale Rechtsordnungen auf eine solche Wahl und deren Verfahren dort vor Ort auswirken dürften. Dies bildet das derzeitige Wahlverfahren natürlich nicht ab.
Das Worst-case-Szenario
Hält man hingegen eine europarechtskonforme Auslegung nicht für möglich, stünde das deutsche Mitbestimmungsrecht insgesamt auf der Kippe und müsste umgehend europarechtskonform neu gefasst werden, um nicht zu fallen.
Wie handlungs- und reaktionsfähig hier die deutsche Politik sein würde, dürfte entscheidend auch dadurch beeinflusst werden, ob der EuGH vor oder nach der Bundestagswahl entscheidet. Praktisch hätte der Gesetzgeber jedenfalls ein Zeitfenster für eine schnelle Reaktion. Denn das deutsche Aktiengesetz sorgt dafür vor, dass sich Änderungen im Mitbestimmungsstatut frühestens sechs Monate nach einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung im Statusverfahren ergeben (§ 98 Abs. 4 AktG). Hinzu kommt, dass der aktien- und mitbestimmungsrechtliche Bestandsschutz für durchgeführte Wahlen ein unmittelbares Durchschlagen einer ungünstigen EuGH–Entscheidung auf das individuelle Amt bereits gewählter Aufsichtsratsmitglieder weitgehend verhindert (namentlich wenn die jeweiligen Klagefristen verstrichen sind).
Schließlich kann man in den Überlegungen auch noch danach differenzieren, ob der EuGH nur die Vorlagefrage(n) entscheiden würde oder in einem obiter dictum auch die beschriebene "Zählfrage" für die Zusammensetzung des Aufsichtsrats und das anzuwendende Mitbestimmungsstatut. Täte er das nicht, muss man kein Prophet sein, um zu ahnen, worüber im nächsten Schritt gestritten werden würde.
Das ist aber nur die rechtliche Seite. Die politischen und wirtschaftlichen Weiterungen einer Europäisierung der deutschen Aufsichtsräte reichen darüber weit hinaus. Es kann zu volkswirtschaftlich nachhaltig negativen Wechselwirkungen mit einer gegebenenfalls noch wirtschaftsfeindlicheren Ausrichtung der deutschen Politik nach der Bundestagswahl kommen, wenn die Unternehmensleitungen gezwungen würden, einen Wegzug aus Deutschland ernsthaft zu prüfen, um ihre rechtlichen Sorgfaltspflichten erfüllen zu können.
So hätte beispielsweise ein spanisches Aufsichtsratsmitglied wenig Bedenken gegen eine Verlagerung wirtschaftlicher Aktivitäten des Unternehmens nach Spanien, während ein deutscher Arbeitnehmervertreter den damit einhergehenden Arbeitsplatzabbau in Deutschland kritisch(er) hinterfragen würde.
Wie Unternehmen ihre bewährte Mitbestimmung verteidigen können
Wie der EuGH entscheidet, kann man vor der mündlichen Verhandlung am Dienstag nicht ahnen. Unternehmenslenker können aber schon heute mit den Arbeitnehmern und deren Vertretern Vorkehrungen erwägen, um die bewährte deutsche Mitbestimmung in eine sichere Zukunft zu führen.
Die Instrumente dafür liegen bereit: ein Formwechsel in die SE einerseits oder andererseits alternativ der Verbleib in der deutschen Rechtsform der AG unter Vereinbarung der Mitbestimmung im Rahmen einer grenzüberschreitenden Verschmelzung einer Tochtergesellschaft nach den dafür geltenden Bestimmungen des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung (MgVG). In beiden Varianten beruht die dann verhandelte Mitbestimmung nicht mehr auf dem deutschen Recht und kann folglich durch den EuGH auch nicht in Frage gestellt werden, egal wie dort entschieden wird. Für beide Gestaltungsvarianten gibt es im Übrigen im DAX bereits Vorbilder.
Der Autor Dr. Stefan Mutter ist Partner der Mutter & Kruchen Partnerschaft von Rechtsanwälten mbB in Düsseldorf. Er berät insbesondere in aktien- und mitbestimmungsrechtlichen Fragen sowie bei Neuordnungen von Konzernstrukturen. Weitere Arbeitsgebiete sind Vorstandsanstellungsverträge und –vergütung, Corporate Governance, Compliance und Organhaftung sowie Rechtsstreitigkeiten mit Aktionären und Organen.
Dr. Stefan Mutter, EuGH verhandelt über Mitbestimmung: Die deutsche Wirtschaftsordnung in Gefahr . In: Legal Tribune Online, 23.01.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/21862/ (abgerufen am: 03.07.2024 )
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