EuGH macht weitere Vorgaben: Sieht so die Zukunft der Vor­rats­da­ten­spei­che­rung aus?

von Dr. Markus Sehl

02.03.2021

Der EuGH hat seine Vorgaben zu einer Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung weiter präzisiert – mit Signalen auch für die deutschen Regelungen. Auf EU-Ebene wird weiter an einer Neuauflage gefeilt.

Wie tot oder lebendig ist die Vorratsdatenspeicherung? Die große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat am Dienstag eine Vorlage aus Estland zum Anlass genommen, ihre Vorgaben noch einmal zu verfeinern (Urt. v. 02.03.2021, Az. C-746/18).

Insbesondere äußerte sich der EuGH zur Frage, welche Vorkehrungen in den Mitgliedstaaten zu treffen sind, damit Strafverfolgungsbehörden Daten bei privaten Telekommunikationsanbietern abrufen zu können. Das Instrument der Vorratsdatenspeicherung erlaubt es Strafverfolgungsbehörden, auf Verbindungsdaten der Internet- und Telefonkommunikation zuzugreifen, die private Anbieter zu diesem Zweck auf Vorrat bereithalten müssen.

Der EuGH hat in seinem Urteil von Dienstag noch einmal betont, dass eine völlig anlasslose unbegrenzte Vorratsdatenspeicherung unzulässig ist, und dass es vor einem Datenzugriff einer Entscheidung eines Gerichts oder einer ausreichend unabhängigen Behörde bedarf. So soll aus Sicht des EuGH sichergestellt werden, dass Persönlichkeitsrechte sowie Datenschutz und auf der anderen Seite Sicherheitsinteresse von einer unabhängigen Stelle abgewogen werden können. Das Urteil ist als weitere Gebrauchsanleitung zu lesen, wie in der EU das Modell der Vorratsdatenspeicherung europarechtskonform eingeführt werden kann.

Die Vorlage aus Estland

In einer letzten Entscheidung zum Instrument aus dem Herbst 2020, hat der EuGH zwar an seiner grundsätzlichen Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung auf dem Papier festgehalten – allerdings auch wichtige Ausnahmen vorgesehen und damit die Tür geöffnet: Für die Terrorismusbekämpfung und die Verfolgung schwerer Kriminalität kann die Vorratsdatenspeicherung in den EU-Mitgliedstaaten zulässig sein. Weil viele Staaten ihren Strafverfolgern das Instrument zur Verfügung stellen wollen, werden sich Beobachterinnen und Beobachter in ganz Europa auch aufmerksam über dieses Urteil zur Lage in Estland beugen. 

In dem estnischen Strafverfahren, das den Ausgangspunkt für das EuGH-Urteil bildet, wird einem Angeklagten mehrfacher Diebstahl, Betrug und Gewalttaten gegen Beteiligte eines Gerichtsverfahrens vorgeworfen. Als Beweismittel in dem Strafverfahren dienten insbesondere Protokolle, die die Ermittlungsbehörde anhand personenbezogener Daten erstellte. Die Ermittler hatten die Daten mit Genehmigung der Staatsanwaltschaft bei einem Kommunikationsdienstleister angefordert. Die Daten geben insbesondere Aufschluss darüber, mit wem der Angeklagte wie, wann, wie lange und von wo nach wo in einem bestimmten Zeitraum kommuniziert hat. 

Wie unabhängig muss die Staatsanwaltschaft sein oder braucht es ein Gericht?

Der estnische Oberste Gerichtshof zweifelte allerdings daran, ob die Voraussetzungen, unter denen die Ermittler Zugang zu diesen Daten gehabt haben, mit dem Unionsrecht vereinbar sind und legte dem EuGH zwei Fragen vor. Erstens wollte das Gericht wissen, ob die Länge des Zeitraums, für den die ermittelnden Dienststellen Zugang zu den Datenhatten, ein Kriterium für die Beurteilung der Schwere des Grundrechtseingriffs des Betroffenen darstellen kann. Insbesondere ob eine Abrufung von Vorratsdaten light, also nur für einen kurzen Zeitraum oder nur für ein bestimmtes Kommunikationsmittel nicht von den strengen Voraussetzungen entbinden könnten.

Solchen Aufweichungen erteilte der EuGH eine Absage. In der Antwort des EuGH fällt für den Strafrechtswissenschaftler Dr. Christian Rückert von der Uni Erlangen-Nürnberg vor allem auf, dass der EuGH auf die Voraussetzung "Verfolgung schwerer Straftaten" bestehe. Rückert sagte zu LTO: "Die Beschränkung auf die verfahrensrelevanten Verkehrsdaten ist vielmehr ein zusätzliches Erfordernis, dem die jeweils anordnende Stelle bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung Rechnung tragen muss." Das entspreche auch der deutschen Rechtslage, wonach die Erhebung von Verkehrsvorratsdaten "in einem angemessenen Verhältnis zur Bedeutung der Sache" wie in § 100g Abs. 2 Strafprozessordnung stehen müsse.

Zweitens fragte das Gericht, ob die estnische Staatsanwaltschaft eine "unabhängige Verwaltungsbehörde" im Sinne der EuGH-Rechtsprechung zur Vorratsdatenspeicherung sein kann. Als Antwort bekamen sie nun vom EuGH: Auch wenn die estnische Staatsanwaltschaft weisungsunabhängig in der Justizarchitektur verankert ist – anders als in Deutschland – so reicht das dem EuGH an Unabhängigkeit nicht aus. Damit ist faktisch auch der Richtervorbehalt europarechtlich als Voraussetzung gesetzt.

Wiederbelebung auf der EU-Ebene

Wenn sich in zwei Wochen die Justizminister der EU-Staaten digital zum JI-Rat zusammenschalten, steht auch wieder die Vorratsdatenspeicherung auf der Tagesordnung. Dazu ist ein allgemeiner Austausch geplant. Das Instrument ist damit auf EU-Ebene plötzlich wieder sehr lebendig. Die auf Deutschland folgende portugiesische EU-Ratspräsidentschaft wollte die Vorratsdatenspeicherung eigentlich aus der heftig umstrittenen E-Privacy-Verordnung streichen – nun soll sie aber doch erhalten bleiben. Und das komplettiert das Bild: Die Begehrlichkeiten bei Strafverfolgern und Justizpolitikern in der EU sind nach wie vor groß. Zuletzt hat sich auch Bundesjustizminister Christine Lambrecht (SPD) wieder offen geäußert: "Wir werden den Ermittlern auch die Möglichkeit an die Hand geben, die Vorratsdatenspeicherung zu nutzen, soweit dies mit deutschem und europäischem Recht vereinbar ist", sagte Lambrecht im Herbst.

Ein Sprecher des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) sagte am Dienstag zu LTO: "Das BMJV wird auch die Entscheidung des EuGH zur Regelung einer Vorratsdatenspeicherung in Estland sorgfältig auswerten." Er verwies aber auch darauf, dass die deutschen Regelungen zur Speicherpflicht von Verkehrsdaten allerdings restriktiver ausgestaltet seien als in anderen Mitgliedstaaten der EU. "Für die Beurteilung des deutschen Gesetzes wird es daher maßgeblich auf die Entscheidung des EuGH im dazu noch anhängigen Verfahren ankommen."

Die Vorlage dazu hat das Bundesverwaltungsgericht dem EuGH geliefert. In Leipzig klagten Internet- und Telefonanbietern und die höchsten Verwaltungsrichterinnen und -richter legten mehrere Rechtsfragen Ende 2019 dem EuGH vor. In ihren Fragen deuteten sie Zweifel an, ob ein generelles Verbot der Vorratsdatenspeicherung das letzte Wort aus Luxemburg sein könne, insbesondere wenn es um Fragen der nationalen Sicherheit gehe. Und sie brachten schon mit ihrer Vorlage Ausnahmen und flankierende Maßnahmen für eine neue Version der Vorratsdatenspeicherung ins Spiel. Über diese Vorlage hat der EuGH noch nicht entschieden.

Wann könnte die Vorratsdatenspeicherung in Deutschland wiederkommen?

Im Jahr 2015 wurde in Deutschland das Gesetz zur "Mindestspeicherpflicht und Höchstspeicherdauer von Verkehrsdaten" eingeführt. Gespeichert werden sollten keine Sprach- oder Textinhalte von Telefonaten, SMS oder E-Mails, sondern Verbindungsdaten - etwa Angaben dazu, wer wann mit wem telefonierte und in welcher Handy-Funkzelle er sich aufhielt. Die deutsche Regelung sieht eine Speicherfrist von zehn Wochen für diese Verbindungsdaten vor. Telekommunikationsfirmen speichern die Daten aber auch laufend, zum Beispiel für Abrechnungszwecke. Die Deutsche Telekom hält die IP-Adressen ihrer Nutzer - sozusagen die Anschrift im Internet - nach eigenen Angaben sieben Tage lang vor.

Das Gesetz aus dem Jahr 2015 sah eigentlich vor, dass die Vorratsdatenspeicherung ab 1. Juli 2017 beginnen sollte. So kam es aber nicht. Nach einer Entscheidung des OVG NRW Ende Juni 2017 wurde die Speicherpflicht ausgesetzt - und liegt derzeit immer noch auf Eis. Derzeit müssen Telekommunikationsunternehmen keine Verkehrsdaten auf Vorrat speichern

Zur Einordnung der EuGH-Entscheidung für das Schicksal der deutschen Regelungen sagte Rückert: "Da der EuGH hier weiterhin eine vollkommen anlasslose Vorratsdatenspeicherung für unzulässig hält, ist auch die derzeit in Deutschland geltende Rechtslage in §§ 113a – 113c Telekommunikationsgesetz und die im Telekommunikationsmodernisierungsgesetz nach § 175 TKG-Entwurf vorgesehene Regelung zur Vorratsdatenspeicherung europarechtswidrig".

Gegen das deutsche Gesetz sind auch beim Bundesverfassungsgericht Beschwerden anhängig. Die Verfassungsrichter haben die Beschwerdeführer Anfang 2018 darauf hingewiesen, dass es für das juristische Schicksal der Vorratsdatenspeicherung neben dem Grundgesetz als Maßstab insbesondere auf die Vorgaben aus der Rechtsprechung des EuGH ankommen dürfte. Eine Entscheidung in Karlsruhe wird offenbar für dieses Jahr angestrebt. Es ist aber davon auszugehen, dass zunächst die Entscheidung des EuGH zu den deutschen Regelungen abgewartet wird.

Zitiervorschlag

EuGH macht weitere Vorgaben: . In: Legal Tribune Online, 02.03.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44403 (abgerufen am: 09.11.2024 )

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