Das Vereinigte Königreich kann seine Austrittserklärung aus der EU einseitig zurücknehmen, erklärt der Generalanwalt am EuGH. Folgt der Gerichtshof dieser Ansicht, könnte das ein neues Referendum über den Brexit bestärken.
Die "Vorlagefrage des Jahrzehnts" ist vom Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorläufig mit Ja beantwortet worden. In einer Vorlage des Court of Session aus Schottland geht es darum, ob das Vereinigte Königreich die Möglichkeit hat, seine Austrittserklärung aus der EU noch einseitig, das heißt ohne Zustimmung der anderen Mitgliedsstaaten, zurückzunehmen. Diese Möglichkeit gibt es, trug am Dienstag Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona in seinen Schlussanträgen vor (Az. C-621/18). Und das, obwohl die Regierung in London eine solche Entscheidung des Gerichtshofs verhindern will.
Seit nunmehr fast zweieinhalb Jahren schwebt er wie ein Damoklesschwert über Europa: der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, kurz und verkürzt Brexit genannt. Nach einem ersten Referendum im Juni 2016, das eine Mehrheit für den Brexit ergab, hatte das Vereinigte Königreich am 29. März 2017 schließlich die übrigen Mitgliedstaaten offiziell informiert, die EU verlassen zu wollen. Mit dieser Erklärung setzte man ein zweijähriges Austrittsverfahren nach Artikel 50 des EU-Vertrags (EUV) in Gang. Sollte dieses nicht gestoppt werden, kommt es am 29. März 2019 zum Brexit.
Doch nach langen und zähen Verhandlungen über ein Austrittsabkommen wächst auf beiden Seiten des Ärmelkanals weiter die Sorge vor einem "harten" Brexit, einem Austritt ohne entsprechendes Abkommen, das die neuen Beziehungen des UK zur EU regeln würde. Das hätte viele schmerzhafte Folgen in nahezu allen Bereichen von Finanzdienstleistungen über Visa bis hin zu Arbeitsverhältnissen. Es steht viel auf dem Spiel. Zwar liegt nun ein vorläufiger Brexit-Deal auf dem Tisch, dass dieser aber in der geplanten Abstimmung im britischen Parlament am 11. Dezember angenommen wird, gilt als unwahrscheinlich. Sowohl die Opposition als auch Mitglieder ihrer eigenen Partei agitieren gegen den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Deal.
Art. 50 regelt Rücktritt vom Austritt nicht
Aus diesem Grund mehren sich Stimmen, die den Austritt in letzter Minute noch stoppen wollen und dazu u. a. für ein neues Referendum plädieren. Zu ihnen gehören einige Mitglieder der Parlamente von Schottland, des UK und der EU. Diese hatten vor einem schottischen Gericht einen Antrag auf Feststellung eingereicht, dass der Brexit im Falle eines Sinneswandels einseitig vom Vereinigten Königreich zurückgenommen werden könne. Problematisch macht diese Frage, dass Art. 50 EUV, der den Austritt aus der EU regelt, die Möglichkeit eines Rücktritts vom Austritt überhaupt nicht erwähnt.
Nachdem der Antrag der Parlamentarier erstinstanzlich abgewiesen worden war, legte schließlich der Court of Session als Berufungsgericht die Frage dem EuGH vor. In der Verhandlung waren unter anderem die EU-Kommission und der Rat der EU beteiligt, die sich dem Antrag entgegenstellten. Ihrer Ansicht nach müsste ein Rücktritt vom Europäischen Rat gebilligt werden. Die ebenso beteiligten UK-Vertreter argumentierten, die Vorlagefrage sei schon gar nicht zulässig, da sie rein theoretischer Natur sei. Interessanterweise äußerten sich die Briten gar inhaltlich nicht dazu, ob ein Rücktritt rechtlich möglich wäre.
Die Antragsteller hielten dem u. a. entgegen, das Parlament des UK müsse ohnehin noch seine abschließende Zustimmung zum Brexit erteilen, egal ob ein Abkommen zustande komme oder nicht. Insofern müsse ihm auch die Möglichkeit zustehen, den Brexit wieder zurück zu nehmen. Auch der vorlegende schottische Court hatte offenbar Sympathien für diese Sichtweise.
Generalanwalt: Auch Rücknahme ist Ausdruck nationaler Souveränität
Dem schloss sich nun auch der Generalanwalt am EuGH an. Dabei betonte er, es handele sich keineswegs um eine rein akademische Frage, wie die UK-Regierung argumentiert hatte, sondern einen echten Rechtsstreit von offenkundiger praktischer Bedeutung, der zu entscheiden notwendig sei. Schließlich sei gerade der Gerichtshof berufen, Art. 50 EUV auszulegen.
Und auch inhaltlich folgte Campos Sánchez-Bordona dem Antrag der Brexit-Gegner: Das Vereinigte Königreich kann nach seiner Auffassung die Austrittserklärung bis zum Abschluss der Verhandlungen über ein Austrittsabkommen oder bis zum Ablauf der Austrittsfrist einseitig zurücknehmen. Voraussetzung dafür ist nur, dass die verfassungsrechtlichen Vorschriften im UK eingehalten werden und "keine missbräuchliche Praxis" erkennbar ist.
Das begründete er einerseits mit den Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge. Nach Art. 68 des Wiener Übereinkommens können Rücktrittserklärungen von einem völkerrechtlichen Vertrag jederzeit zurückgenommen werden, bevor dieser vollzogen wird. Zudem legte der Generalanwalt Art. 50 inhaltlich aus: Zum einen setze ein Austritt kein Abkommen voraus, sodass er ohnehin einen einseitigen Akt darstelle. Zum anderen sei dort nur die Rede von der Mitteilung der Absicht, aus der EU auszutreten. Eine solche könne man aber auch wieder ändern. Außerdem sei Art. 50 an sich eine Ausprägung der nationalen Souveränität. Diese kann sich laut Campos Sánchez-Bordona aber auch darin äußern, lieber doch in der EU zu bleiben. Zudem sei es unlogisch, einen Mitgliedstaat, der eigentlich doch bleiben wolle, zum Austritt zu zwingen.
Entscheidung soll bis Weihnachten fallen
"Nach dem Verhandlungsablauf kommt diese Ansicht des Generalanwalts überhaupt nicht überraschend" kommentiert Prof. Dr. Friedemann Kainer, der an der Universität Mannheim u. a. europäisches Wirtschafts- und Arbeitsrecht lehrt, gegenüber LTO. Kainer hatte der Verhandlung vor dem EuGH selbst beigewohnt und konnte sich so einen Eindruck vom Stimmungsbild unter den Beteiligten verschaffen. "Es hat sich alles darauf zugespitzt", erklärt er. Die Antragsteller hätten gute Argumente vorgebracht, insbesondere das Demokratieprinzip und den Grundsatz der Unionstreue aus Art. 4 EUV. Umgekehrt gebe es für ein freies Vetorecht jedes Mitgliedstaates keinen überzeugenden Grund. "Daher steht - so die Schlussanträge - die Wirksamkeit des Widerrufs nur unter dem Vorbehalt, dass dieser nicht missbräuchlich erfolgt."
Überraschend sei indes, dass die britische Regierung keine Anstalten gemacht habe, die rechtlich überhaupt nicht geklärte inhaltliche Frage aufzugreifen, ob eine Rücknahme überhaupt möglich wäre. "Es ist schon verwunderlich, dass man sich dazu gar nicht eingelassen hat. In der Literatur gibt es unterschiedliche Auffassungen dazu." Erklärbar, so Kainer, sei dies womöglich damit, dass man in London stets selbst für mehr Rechte der Mitgliedstaaten eingetreten sei und sich selbst widerspräche, wenn man diese nun beschneiden wollte.
Erfahrungsgemäß tendiert der Gerichtshof dazu, den Schlussanträgen der Generalanwälte zu folgen. Das ist auch in diesem Fall zu erwarten, mein Kainer. Dabei stehen die Richter auch unter Zeitdruck: Bis Weihnachten soll noch eine Entscheidung fallen, schließlich will man nicht von den Geschehnissen überholt werden. Da in diesem Fall aufgrund der besonderen Bedeutung der Sache das Plenum entscheidet, müssen sich alle 27 Richter für eine Entscheidung zusammenraufen.
Wie sich die Schlussanträge nun auf die Verhandlungen im britischen Parlament auswirken, ist noch offen. Diese beginnen am heutigen Dienstag. Die Brexit-Gegner aber dürften nun mit ihrem Drängen auf ein zweites Referendum politischen Rückenwind erhalten. Schließlich könnte man den Bürgern nun eine bessere Perspektive bieten, um mit einer neuen Abstimmung tatsächlich den Brexit noch zu verhindern.
EuGH-Generalanwalt sieht Möglichkeit zur einseitigen Rücknahme: . In: Legal Tribune Online, 04.12.2018 , https://www.lto.de/persistent/a_id/32511 (abgerufen am: 22.11.2024 )
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